Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die Pflicht der Deutschen
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
ich möchte Ihnen von einem Sommertag erzählen, der sich in meine Erinnerung als Schüler eingebrannt hat. Es war in der achten Klasse, wir standen auf dem staubigen Appellplatz des früheren Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof, südlich von Straßburg. Vor uns der große Galgen, an dem Hunderte Häftlinge erhängt wurden. Wir hörten die Berichte, wie die Nazis hier mordeten. Wir sahen die aberwitzig kleinen Zellen, in die sie ihre Gefangen pressten. Wir berührten die Holzpritschen, auf denen sie schlafen mussten.
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In diesem KZ erschlugen manche Insassen aus Verzweiflung ihre Leidensgenossen, um an deren Essensrationen zu gelangen. Einige Gefangene wurden mit Schubkarren zur Arbeit im Steinbruch gefahren, weil sie nicht mehr laufen konnten. Meine Klassenkameraden und ich waren wie versteinert und still. Sprachlos im Angesicht des Grauens, das von den Nationalsozialisten verübt worden war. Dutzende Klassen aus ganz Baden-Württemberg waren vor uns in dem Konzentrationslager. Alle sollten es sehen und verstehen: Nie wieder soll so etwas passieren. Nie wieder Juden ermordet werden. Nie wieder sollten Deutsche dabei mitmachen oder zusehen.
Der Holocaust steht in seiner bestialischen Grausamkeit für sich. Nichts ist damit vergleichbar. Doch aus dem "Nie wieder", das so oft in Deutschland skandiert wurde, erwächst eine Verantwortung. Diese beiden Worte sind nun die moralische Stimmgabel für das Handeln der Bundesrepublik. Und zwar heute, im Oktober 2023. Jetzt, wo sich zeigt, was die Worte wert sind. Wo die oft ausgedrückte Solidarität ganz praktische Folgen haben muss. Wo Taten auf dieses Bekenntnis folgen müssen.
Denn nun werden Hunderte Israelis durch die Terroristen der Hamas getötet. Ihre Leichen liegen herum, der Geruch des Todes zieht durch die Straßen von Israel. Reporter berichten, wie jüdischen Babys die kleinen Köpfe abgeschnitten werden. Online sind die Fotos zu sehen: Kindersitze, dunkelrot getränkt vom Blut. Die Terroristen der Hamas hassen das jüdische Leben. Sie morden brutal.
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sagte gerade bei Markus Lanz: "Der Staat Israel ist heute der einzige Schutzraum für jüdisches Leben. Dieser Schutzraum wird jetzt ganz konkret angegriffen. Das heißt: Es gibt für jüdisches Leben, bei solchen Bildern, wie sie gerade kommen, keinen Schutzraum." Und dann sagte Kühnert: "Wenn Deutschland sein Versprechen aufrechterhalten will, dass wir nie wieder zulassen wollen, dass jüdisches Leben ausgelöscht wird, dann gilt das nicht nur für unser Territorium. Sondern auch für den Ort, wo die meisten jüdischen Menschen weltweit ihren Staat aufgebaut haben."
Kühnert füllt die zwei Worte "Nie wieder" mit Leben. Genau darum geht es jetzt: die Unterstützung des Staates Israel. Oft genug wurde jungen Menschen in Deutschland von Holocaust-Überlebenden gesagt: Ihr seid nicht für die Taten von damals verantwortlich. Aber seid wachsam, dass es nicht noch einmal geschieht.
Deshalb braucht Israel im Kampf gegen die Hamas-Terroristen jede Unterstützung aus Deutschland, die irgendwie möglich ist. Zivil. Militärisch. Geheimdienstlich. Keine Ebene darf dabei ausgelassen werden. Was auch immer Israel zur Abwehr der Terroristen benötigt, sollte von Deutschland geliefert werden. Ja, selbstverständlich gehören dazu auch Waffen, die geliefert werden können. Und ja, es können auch Bodentruppen geschickt werden. Und Panzer. Und Flugzeuge. Das israelische Militär ist grundsätzlich viel besser ausgestattet als die Bundeswehr. Doch wenn die Israelis Unterstützung brauchen, müssen sie diese bekommen.
Es gibt einiges an der israelischen Politik zu kritisieren. Welche Fehler Benjamin Netanjahu gemacht hat, welche Verwicklungen es gab, welcher Kurs dort eingeschlagen wurde. Doch das, was die Hamas da gerade macht, ist ein Angriff auf das jüdische Leben insgesamt.
Dabei kann Deutschland nicht nur ein wenig Betroffenheit signalisieren und dann darauf vertrauen, dass das Land das schon irgendwie in den Griff bekommt. So pathetisch es klingen mag: Die Geschichte gebietet es, dem Land mit allen Mitteln zu helfen. Es ist unsere Pflicht.
Die Flaggen vor den Regierungsgebäuden flattern jetzt im Berliner Wind: die deutsche neben der israelischen, Seite an Seite. Aber Flaggen sind schnell gehisst und schnell wieder eingerollt. Wie "Nie wieder" eben schnell ausgesprochen ist. Der Kanzler und die Bundesregierung müssen jetzt zeigen, was das "Nie wieder" der Deutschen wert ist. Ob damit die Unterstützung der Juden gemeint ist. Oder ob es nur eine Floskel ist, um die eigene Betroffenheit auszudrücken – die aber ohne Konsequenzen bleibt.
Was steht an?
Was konkret getan wird, könnte der Bundeskanzler schon heute Morgen sagen: Ab neun Uhr beginnt die Regierungserklärung mit einer Ansprache von Olaf Scholz. Anschließend kommen auch andere Parteien zu Wort. Im Bundestag wird auch über einen Entschließungsantrag mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, Grünen und FDP zu Israel debattiert.
In Frankfurt am Main beginnt heute die Ministerpräsidentenkonferenz: Die Regierungschefinnen und -chefs der Bundesländer beraten über ihre politischen Ziele. Zu besprechen gibt es einiges, unter anderem die Lage in der Migrationspolitik.
Der israelische Verteidigungsminister wird sich via Video heute nach Brüssel schalten: Dort sprechen die Verteidigungsminister der Nato über ihre Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten im Irak und im Kosovo. Es ist der letzte Tag der Beratungen – und über Israel dürfte viel gesprochen werden.
Was lesen?
Die AfD hat einen neuen Fraktionsvorstand gewählt. Und Alice Weidel geht gestärkt aus der Wahl als Sieger hervor. Warum das für sie ein Befreiungsschlag ist, berichtet meine Kollegin Annika Leister hier.
Die bevorstehende Wahl zum neuen Sprecher im Kongress droht erneut zum Desaster zu werden. Die Republikaner können sich bislang nicht einigen. Am Ende aber könnte Trumps Kandidat Jim Jordan das Rennen machen. Mein Kollege Bastian Brauns verfolgt den Showdown im Kongress.
Die Bundespräsidenten repräsentieren die Deutschen, gerade bei der Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus. Wie gingen die Staatsoberhäupter mit der Erinnerung an das "Dritte Reich" um, die es als Zeitgenossen selbst erlebt haben? Ein neues Buch liefert Antworten, mein Kollege Marc von Lüpke hat es gelesen.
Der iranische Rapper Amir Tataloo will in Nordrhein-Westfalen auftreten. Aktivisten kritisieren das, weil er dem Regime in Teheran nahesteht. Nun werden sie dafür mit dem Tod bedroht. Meine Kollegin Marianne Max hat mit ihnen gesprochen.
Das historische Bild
Ohrenschmaus
Essen Sie gern Rhabarberkuchen? Selbst wenn nicht, sollten Sie sich mal anschauen, wie Barbara ihn in ihrer Bar verkauft. Denn ihre drei Stammkunden, drei Barbaren, sind davon ganz begeistert und daraufhin ... Ach, sehen Sie selbst.
Was amüsiert mich?
Mancher scheint etwas desillusioniert:
Morgen schreibt an dieser Stelle wieder unser Chefredakteur Florian Harms für Sie. Kommen Sie gut durch diesen Donnerstag.
Herzliche Grüße,
Ihr Tim Kummert
Politischer Reporter im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @TKummert
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Mit Material von dpa.
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