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Die Lebenserwartung der Deutschen steigt – Aufgrund der Industrialisierung?


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MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 06.10.2023Lesedauer: 7 Min.
Im analytischen Labor des BASF-Chemiekonzerns.Vergrößern des Bildes
Im analytischen Labor des BASF-Chemiekonzerns: Ein Wundermittel für Verjüngung hat noch keiner gefunden. (Quelle: imago images)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

die hölzernen Karren mit den Alten kamen von links. Knarrend und quietschend rollten die klapprigen Vehikel mit ihrer ebenso klapprigen Last heran. Andere greise Gestalten wurden auf Schubkarren oder mühsam zu Fuß herbeigebracht. Gebeugt unter der Last der Jahre, schleppten sie sich die letzten Meter – nun unbekleidet – hin zum erlösenden Nass. Eine seltsame, mühsame Prozession ist es gewesen, aber der Lohn war es wert. Nichts war erfrischender als das Bad, das sie erwartete: Die Qual der Jahre, die Mühsal des Alters fiel einfach von ihnen ab.

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So zumindest hat Lucas Cranach der Ältere sich die Szenerie ausgemalt, als er an seiner Staffelei den Pinsel schwang. Ein Menschheitstraum, der Jungbrunnen: Das Alter mit seinen Gebrechen einfach wegwaschen, als Greis hinein, im vollen Saft der Jugend hinaus, wie schön wäre das? Der Renaissance-Künstler Cranach, zu diesem Zeitpunkt selbst ein alter Knacker, ließ beim Gedanken an die wiederhergestellten Kräfte noch allerlei begleitenden Fantasien ihren Lauf. Jedenfalls steigen auf seinem Gemälde kurioserweise nur Frauen ins Bad – und verjüngt, noch immer nackt, auffallend zahlreich wieder hinaus.

Seit Menschengedenken haben sich kluge und weniger kluge Köpfe an der härtesten Nuss die Zähne ausgebissen, die das Menschsein mit sich bringt. Alchemisten haben gebraut, gerührt und dem Stein der Weisen hinterhergejagt, um dem Elixier des Lebens und dem Geheimnis der ewigen Jugend auf die Schliche zu kommen. Moderne Nachfolger haben sie ausgerechnet im Silicon Valley gefunden, der Heimat von Hightech-Schmieden im sonnigen Kalifornien. Das "Silizium-Tal" hat nicht nur bahnbrechende Innovationen hervorgebracht, die unsere Welt von Grund auf verändert haben, sondern auch zahlreiche Milliardäre. Einige von ihnen stecken ihren Reichtum nun in die Suche nach Wegen, das Altern zu besiegen. Plasma-Austausch, wilde Sachen mit Stammzellen und so. Klingt nach Quatsch? Ist es auch in diesem Fall.

Das Alter kommt, da kann man nichts machen. So denkt man es sich und zuckt resigniert mit den Schultern: Alt und gebrechlich zu werden, gehört zum Menschsein eben dazu. Schauen wir genauer hin, können wir die melancholische Erkenntnis allerdings gut gelaunt ins Poesiealbum verfrachten. Denn die Lebenserwartung steigt und steigt. In den vergangenen 150 Jahren hat sie sich in Deutschland – schnallen Sie sich an! – mehr als verdoppelt. Der atemberaubende Anstieg dieses Durchschnittswertes geht einerseits darauf zurück, dass die gefährlichste Zeit im Leben – das Kleinkindalter – entschärft und die Kindersterblichkeit dramatisch zurückgegangen ist. Zugleich werden auch erwachsene Menschen tatsächlich immer älter. Nach Jahrhunderten der Stagnation wurden im 19. und 20. Jahrhundert die Bremsen gelöst. Das Alter kommt? Irgendwann, gewiss. Aber am Zeitpunkt lässt sich, wie wir sehen, gewaltig herumschrauben.

Die Ursachen dieses Trends sind einerseits trivial, andererseits nicht intuitiv. Zurück zur Natur: Unsere Welt ist von Chemikalien, Beton und Industrieprodukten durchdrungen. Sich davon abzuwenden und sich auf einen ursprünglicheren, natürlicheren Weg zu begeben, ist für ein langes Leben ... bestenfalls am Rande relevant, sorry. Genau genommen schadet es sogar. Nicht dass Sie mich falsch verstehen: Selbstverständlich ist es gesund, wenn Essen auf den Tisch kommt, das zuvor nicht im Massenproduktionsprozess mit Antibiotika und Hormonen vollgepumpt wurde. Eine artgerechte Haltung dankt nicht nur das Tier, sondern auch der eigene Körper. Aber nachdem man den Einkaufswagen ausgeräumt und wieder abgegeben hat, muss man nüchtern feststellen, dass die langlebige Welt die industrialisierte ist.

Moderne menschliche Siedlungen unterscheiden sich von ihren traditionellen Vorläufern nicht nur durch entschieden mehr Asphalt und Beton, sondern auch durch die Rohre unter der Erde. Sauberes Wasser aus dem Hahn, Ab- und Ausscheidungen ebenso sauber kanalisiert in der Kanalisation, und auf einmal hat die Cholera keine Chance mehr. Obendrüber ist zwar alles zugebaut, aber zugleich schwer was los. Autos rasen mit Blaulicht über Straßen, auf denen sie bis in die letzten Winkel des Landes gelangen; und mit verunfallten oder kritisch erkrankten Patienten jagen sie zurück zu Gebäudekomplexen, die vor Chemie, Plastik und Elektronik geradezu aus den Nähten platzen. Dort werden Menschen mit Präzisionsinstrumenten durchleuchtet, mit Strahlen therapiert, minimalinvasiv tief im Körperinnern behandelt, mit Lasern wieder zum Sehen gebracht. So sieht moderne Gesundheitsversorgung aus. Die Natur hingegen beseelt uns nur als romantische Vorstellung. Mit ihr ginge es zurück zur Lebenserwartung derer, die in vorindustriellen Tagen lebten: Kurz, aber nicht schmerzlos.

"Gesund dank Industrie" bleibt trotzdem ein Slogan, bei dem wir kurz zusammenzucken. Und das zu Recht. Der ultramoderne Wohlstands-Lebenswandel ist ein zweischneidiges Schwert. Gewiss, ihm verdanken wir unsere Langlebigkeit. Nur leider tut er dem Planeten, der ebenfalls unsere Lebensgrundlage ist, überhaupt nicht gut. CO₂, Klima, Artensterben, Mikroplastik ... Sie wissen schon. Die Flucht nach vorn in noch mehr Technologie wird beim umweltschonenden Wirtschaften zwar helfen. Noch wichtiger ist allerdings die Korrektur unserer Prioritäten: Viel mehr Geld wird in die Erhaltung und Genesung des Planeten fließen müssen, weniger übrig bleiben für unseren Komfort und Besitz.

Schön ist das nicht. Aber nicht nur zur Rettung des Klimas, sondern auch zu einem individuell gesunden Lebenswandel gehört diese dringend notwendige Umverteilung dazu. Denn das Echo unserer Handlungen ist längst bei uns angekommen – wie laut, machen wir uns nicht immer vollständig klar. Schornsteine, Autos, Emissionen, Klimakrise: Kennen wir. Immer heißere Sommer, Erschöpfung, die überanstrengten Herzen älterer Menschen: Ach so, stimmt. Die alljährlichen Hitzetoten sind keine schlimme Zukunftsvision, auf die wir erst noch warten müssten. Die eigene Jugend (sofern noch vorhanden) schützt davor nur auf Zeit: Früher oder später sind wir alle dran.

Während die Gedanken der Hightech-Visionäre in Kalifornien um die individuelle Erlösung von Tod und Siechtum kreisen, wird die nächste Runde beim Ringen der Menschheit mit dem Alter in einer ganz anderen Arena ausgetragen. Den Stein der Weisen gibt es dort zwar nicht zu holen. Aber wenigstens den kleinen Zeh können wir in den Jungbrunnen stecken, wenn wir als Gesellschaft endlich aufhören, unser eigenes Wohlergehen von dem unserer Umwelt zu trennen. Nach epochemachenden Fortschritten bei Ernährung, Arbeitsbedingungen, Gesundheitsbewusstsein und Medizin winkt dort der nächste Meilenstein.

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Jahr für Jahr wünschen wir es uns zum Geburtstag: Gesundheit und ein langes Leben. Wenn wir es schaffen, den notwendigen Schwenk zu vollziehen, können wir uns noch viele Jahre lang gratulieren.


Mehr Geld fürs Klima

Vertreter mehrerer Dutzend Staaten treffen sich heute in Bonn auf einer Konferenz zur Klimaschutzfinanzierung. Die Industriestaaten haben sich schon vor drei Jahren verpflichtet, 100 Milliarden US-Dollar jährlich für den internationalen Einsatz gegen den Klimawandel aus öffentlichen und privaten Quellen bereitzustellen. Bisher kommt aber lang nicht so viel zusammen. Deutschland will immerhin zwei Milliarden Euro beisteuern.

Der Grüne Klimafonds soll Entwicklungsländern bei der Anpassung an den Klimawandel und beim Aufbau einer klimafreundlichen Wirtschaft helfen. Auf der Pariser Klimakonferenz hat sich die Weltgemeinschaft 2015 verpflichtet, die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Dieses Ziel ist nicht mehr haltbar: Schon jetzt hat sich die Erde um etwa 1,1 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit aufgeheizt, in Deutschland sind es sogar 1,6 Grad. Jedes weitere Zehntelgrad verschlimmert die Klimaschäden: Stürme, Dürren, Hitzewellen, schmelzende Gletscher und Permafrostböden.


(Fast) alle gegen einen

Im andalusischen Granada steht die wunderschöne Alhambra, ich erinnere mich gern an ihre Grazie. Die Staats- und Regierungschefs aus 50 Ländern, die sich heute zum Gipfeltreffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft treffen, werden allerdings kaum Zeit für die architektonischen Künste der Mauren mitbringen. In dem von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron initiierten Format wollen die EU-Staaten die Zusammenarbeit mit anderen europäischen Ländern verbessern.

Im Mittelpunkt der Gespräche steht Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine: Weil die Front gegen Putin in Polen, der Slowakei und nun auch in den USA bröckelt, wollen die Teilnehmer ein klares Zeichen an den Kremlchef senden, dass er trotzdem nahezu vollständig isoliert ist. Unsere Chefreporterin Sara Sievert begleitet den Bundeskanzler und wird auf t-online berichten, ob der Schulterschluss gelingt.


Der Preis ist heiß

Wer erhält dieses Jahr den Literaturnobelpreis? Die Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm lässt es uns heute um 13 Uhr wissen. Ich habe einen Tipp.


Ohrenschmaus

Die Ampelregierung will Cannabis legalisieren – ist das sinnvoll? Der Bestsellerautor Helge Timmerberg ist weit rumgekommen und kann Interessantes dazu sagen: hier im Interview mit meiner Kollegin Nicole Sagener. Da fällt mir ein: Ich muss unbedingt mal wieder diesen superentspannten Song hören!


Lesetipps

Auch hierzulande erstarken Extremisten. Sind sie Vorboten einer neuen deutschen Revolution? Niemand könnte diese Frage besser beantworten als der berühmte Historiker Christopher Clark. Also haben mein Kollege Marc von Lüpke und ich mit ihm gesprochen.


Nach der Absetzung von Kevin McCarthy im US-Repräsentantenhaus ist der Richtungsstreit bei Amerikas Republikanern voll entbrannt. Das könnte vor allem die Ukrainer bitter treffen, berichtet mein Kollege David Schafbuch.



Die Freien Wähler sind im Aufwind und reden schon vom Bundestag. Unser Reporter Tim Kummert hat die größte Nachwuchshoffnung der Partei getroffen: Fabian Mehring will mit Populismus ganz nach oben kommen.


Zum Schluss

Wieso bekommen die Ampelleute keinen Preis?

Ich wünsche Ihnen einen preiswürdig schönen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von Bastian Brauns, von mir hören Sie am Samstag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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