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Russland im Krieg gegen Ukraine: "Putin hat ungewollt ein Geschenk gemacht"


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Star-Historiker Christopher Clark
"Die Lage spitzt sich dramatisch zu"


Aktualisiert am 05.10.2023Lesedauer: 9 Min.
Kundgebung der AfD: Die politische Mitte muss die rechten und linken Ränder genau beobachten, sagt Christopher Clark.Vergrößern des Bildes
Kundgebung der AfD (Archivbild): Die politische Mitte muss die rechten und linken Ränder genau beobachten, sagt Christopher Clark. (Quelle: Moritz Schlenk)
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Von Russland bedroht, im Inneren von Rechten zermürbt – Deutschland und Europa befinden sich in keinem guten Zustand. Droht so etwas wie eine Revolution? Historiker Christopher Clark rät zur Vorsicht.

Russland greift nach der Ukraine, China demonstriert unverhohlen seine Macht: Europa müsste nun einig und stark sein. Doch der Kontinent taumelt, nahezu überall sind rechte Populisten und Radikale auf dem Vormarsch – sehr zur Freude von Wladimir Putin. Wenn sie, wie in Italien, nicht bereits regieren. Herrscht ein Hauch von Revolution in Europa?

Christopher Clark, der zu den führenden Historikern unserer Zeit zählt, mahnt im t-online-Interview zur Vorsicht. Clark weiß, wovon er spricht: Gerade hat er mit "Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt" ein Buch über die europäischen Revolutionen vor 150 Jahren veröffentlicht. Weshalb Clark die Lage in Europa heute als dramatisch einschätzt, welchen Fehler er den Parteien der politischen Mitte attestiert und auf welche Weise Putin uns einen Gefallen getan hat, erklärt der australische Historiker im Interview.

t-online: Professor Clark, immer mehr Europäer hegen Misstrauen gegenüber der Demokratie und verachten deren Repräsentanten. Sind das schon Vorboten einer neuen Revolution?

Christopher Clark: Die Lage spitzt sich tatsächlich dramatisch zu. Denn ein entscheidender Faktor für eine stabile Demokratie ist im Schwinden begriffen: der Respekt. Ich meine nicht die servile Unterwürfigkeit von Untertanen einer willkürlichen Macht gegenüber; ich meine den Respekt der Staatsbürger vor den rechtsstaatlichen Organen, vor den Parlamenten und den gewählten Volksvertretern, vor den Institutionen des öffentlichen Lebens. Auf diesem Respekt basiert die Stabilität der rechtsstaatlichen Demokratien.

Warum erodiert dieser Respekt gegenüber dem Rechtsstaat, während die radikale Rechte breiten Zulauf erhält?

Lassen Sie es mich mit einer Anekdote erklären: Für Dreharbeiten war ich einmal in Dresden und schaute mir eine Demonstration der islamfeindlichen Organisation Pegida an. Sobald die Leute unsere Kamera sahen, schallte es uns entgegen: "Lügenpresse, Lügenpresse!" Ich fragte einen Teilnehmer, warum er dort mitlief. Seine Antwort: "Weil sich Krankenschwestern und Polizisten das Leben in der Innenstadt nicht mehr leisten können!" Das schien mir sicher ein vernünftiger Grund, um zu protestieren. Aber als ich den Mann fragte, was das mit dem Wort "Islamisierung" auf den Pegida-Transparenten zu tun hatte, sagte er einfach: "Gar nichts!".

Christopher Clark, geboren 1960, lehrt Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine's College in Cambridge. Sein 2013 erschienenes Buch "Die Schlafwandler" über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs avancierte zum internationalen Bestseller. 2015 schlug Elizabeth II. den Historiker zum Ritter. Gerade ist Clarks neues Buch erschienen: "Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt".

Beunruhigend.

Erschreckend! Aufwiegler, die gegen irgendetwas hetzen, gibt es immer – ob es Muslime sind oder Politiker oder Flüchtlinge. Strömen diesen Demagogen jedoch Menschen zu, die zum Teil aus nachvollziehbaren Gründen frustriert, verunsichert und zornig sind, dann wird es richtig gefährlich. Denn Enthemmung ist ein Nebeneffekt des Verschwindens von Respekt.

2020 versuchte ein Mob von Corona-Leugnern das Reichstagsgebäude in Berlin zu stürmen, ein Jahr später besetzten Anhänger von Donald Trump das Kapitol in Washington. Meinen Sie das mit Enthemmung?

Das sind besonders auffällige Beispiele. Aber in nahezu allen westlichen Ländern lässt sich beobachten, dass der Gehorsam vor den demokratischen Institutionen schwindet und die Enthemmung wächst. Es herrscht immer weniger Respekt vor den demokratischen Errungenschaften, die unsere Vorfahren entwickelt und erstritten haben.

Die Revolutionen 1848/49 gelten als Meilenstein in der Entwicklung der europäischen und der deutschen Demokratie. Welche Lehren können wir heute aus der Vergangenheit ziehen?

Es gibt durchaus Parallelen zwischen 1848/49 und unserer Gegenwart. Nehmen wir die Auseinandersetzungen um soziale Fragen: 1848/1849 kam es in Deutschland in den Vereinen und Parlamenten und auf den Straßen zu heftigen Auseinandersetzungen: auf der einen Seite die Linken, die soziale Forderungen stellten, auf der anderen die Liberalen, die hauptsächlich strukturelle und politische Veränderungen verlangten – etwa die Pressefreiheit, die Öffnung der Märkte und die Etablierung regulärer Wahlen. Diese Gegensätze wurden bis zum Ende der Revolutionen 1849 nicht überwunden.

Der Konflikt wurde von Zeitgenossen als Streit zwischen "Pressefreiheit" und "Fressefreiheit" bespöttelt.

"Was nützt uns die Pressefreiheit, wenn die Menschen wortwörtlich nichts zu fressen haben?" – diese Frage stellten die radikalen Linken. Nicht unberechtigt, denn in Zeiten von bitterer Armut und quälendem Hunger hatten die Menschen tatsächlich andere Prioritäten als die von den Liberalen angestrebten politischen Freiheiten. Diese Schwierigkeiten der Diskussion, der Kompromissfindung zwischen dem Sozialen und Politischen 1848/49, wirken wie aus dem historischen Lehrbuch entsprungen. Wir sollten daraus lernen.

Wäre dies der einzige Konflikt unter den Abgeordneten der Paulskirche gewesen, hätte das damalige demokratische Experiment mehr Chancen auf Erfolg gehabt. Tatsächlich führte aber auch der Nationalismus zu heftigem Streit.

Die Frankfurter Paulskirche war ein faszinierendes Organ: ein Parlament für einen Nationalstaat, der überhaupt nicht existierte! Das war ein Parlament im Konjunktiv. Man tat einfach so, als gäbe es ein Deutschland – dabei gab es ja noch die vielen souveränen Einzelstaaten des Deutschen Bundes. Besonders die Nationalitätenfrage in Bezug auf die polnische Minderheit in Preußen geriet zu einem zentralen Streitpunkt. Der Revolutionär Robert Blum argumentierte, dass man den Polen kaum ihr Vaterland verwehren könne, wenn die Deutschen gerade selbst das ihrige anstrebten. Viele linke und liberale Zeitgenossen wollten aber nichts davon hören.

Warum finden Sie es so wichtig, dass wir die damaligen Auseinandersetzungen heute noch kennen?

Weil wir auch heute noch Schwierigkeiten haben, gemeinsame Vorstellungen von so komplexen Kategorien wie Nation, Migration und Integration zu entwickeln. Sie haben ein ungeheuer destruktives Potenzial, wenn sie nicht konstruktiv gelöst werden. 1848/49 sind die Vertreter der unterschiedlichen Strömungen nicht weitergekommen, weil sie nicht aufeinander gehört haben. Wir sollten es heute besser machen.

Vor der Revolution 1848 lebte ein Großteil der deutschen Bevölkerung in Armut, heute sorgen sich viele Menschen vor sozialem Abstieg und finanzieller Not. Damals herrschte Unzufriedenheit wegen der politischen Repression, heute agitieren rechte Demagogen gegen eine angebliche "rotgrün-versiffte" politische Clique an der Macht. Birgt das revolutionäres Potenzial?

Hunger und Not wie in den Jahren 1846–1848 gibt es heute in Europa kaum. Und die kausale Verbindung zwischen Armut und Aufstand war und ist nicht direkt, denn wahre existenzielle Not hat eine eher deaktivierende Wirkung auf die Menschen. Menschen, die hungern, machen keine Revolutionen. In Irland zum Beispiel herrschte 1846–1848 eine Hungersnot, die Millionen Menschen das Leben kostete oder zur Auswanderung zwang. Politisch blieb es dort aber verhältnismäßig ruhig. Allerdings hat die wachsende soziale Ungleichheit damals – wie auch heute – eine polarisierende Wirkung auf die Politik. 1848 gab es viele, die nicht mehr so leben wollten – das sind diejenigen, die auf die Straßen gingen, um für eine bessere, gerechtere Ordnung zu kämpfen. Wir müssen heute also vorsichtig sein.

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Sie betonen in Ihrem Buch, dass die Revolution von 1848/49 kein deutsches, sondern ein europäisches Ereignis war. Wie war es möglich, dass fast ein ganzer Kontinent in Aufruhr geriet?

Die Revolution begann nicht einmal in Deutschland, vielmehr nahm Deutschland an einem europäischen Geschehen teil. Sie schien mehr oder weniger aus dem Nichts zu kommen, aber einige Hellsichtigere hatten zumindest etwas geahnt.

Wie der französische Politiker und Publizist Alexis de Tocqueville.

Am 27. Januar 1848 fragte er die Minister des französischen Königs: "Haben Sie nicht das Gefühl, als stünde ein Sturm der Revolution bevor?" Besonders fasziniert mich an den damaligen Ereignissen die Stärke des europäischen Bewusstseins. Wenn man die französische Presse oder die schweizerische, spanische, rumänische und italienische seit Spätherbst 1847 liest, dann ist man beeindruckt von dem europäischen Horizont der Berichterstattung. Den wachsenden Tumult, die steigende Unruhe vor der Revolution nahmen die Zeitgenossen als vernetztes europäisches Phänomen wahr. Die Menschen damals dachten europäischer, als wir es heute tun.

Aber wir haben doch heute mit der EU einen weit fortgeschrittenen europäischen Einigungsprozess.

Die Institutionen sind da, aber es mangelt vielen Menschen an der Identifikation. Sie sehen in Europa nicht mehr ein Ideal, sondern ein Problem. Schauen Sie nach Ungarn, Polen, Großbritannien, Italien, auch zu den Populisten in Deutschland: Überall fällt man zurück in nationalstaatliches Denken. Es wurzelt in der Entwicklung nach 1848: Weil die Revolution nicht erfolgreich war, wurde der Nationalstaat zum neuen Über-Ideal, der alles im Leben der Bevölkerungen organisiert. Er prägte nun die Kultur, die Information, das Bewusstsein der Menschen. Die Macht dieser Denkweise spüren wir noch heute.

Wie die Revolution von 1848 ist auch das Erstarken von rechtem Populismus heute ein Phänomen auf dem ganzen Kontinent. Woran liegt das?

Der Aufstieg der neuen, "sozial" genannten, Medien bildet einen tiefgreifenden Strukturwandel der Öffentlichkeit dar. Die Glaubwürdigkeit der "traditionellen Medien" – Fernsehen, Rundfunk, Zeitungen – ist in manchen gesellschaftlichen Milieus erschüttert. Auch hier sind Parallelen zu erkennen, denn die Revolutionen von 1848 waren auch ein Kommunikationsereignis. Es gab es eine geradezu explosionsartige Expansion der Presse, den Menschen fiel die Orientierung in dieser Vielzahl von scheinbar neuen Wirklichkeiten schwer. Wem sollte man Glauben schenken, wem nicht? Damals zirkulierten Drohbriefe an Politiker und Minister, heute bekommen sie Hass-E-Mails.

Heute stehen Liberalismus und Demokratie, für die einst in der Frankfurter Paulskirche gestritten wurde, für die politische Mitte. Beide werden nun von rechter Seite attackiert. Warum ist die Mitte so schwach geworden?

Schwach wird die politische Mitte, wenn sie sich als einen mathematischen Punkt betrachtet, der eine Äquidistanz zur äußersten Linken und äußersten Rechten einnimmt. Die Mitte darf kein Punkt sein. Sie muss einen sehr, sehr breiten und offenen Raum einnehmen – während sie links und rechts natürlich scharf im Auge behält.

Die demokratischen Parteien in Deutschland lassen sich eher von der AfD treiben, als dass sie die Rechten einhegen.

Das ist ein gewaltiges Problem. Ich habe einmal einige deutsche Politiker gefragt, wie oft sie sich die Homepages von Linkspartei und AfD anschauen würden. Sie sagten alle: gar nicht, da stehe ohnehin nur Unsinn. Da mag auch Unsinn sein, aber dazwischen werden dort auch gesellschaftliche Probleme artikuliert, auf die die demokratischen Parteien Antworten liefern müssen, um sie nicht ihren Gegnern zu überlassen. Solange sie das nicht tun, wachsen ihre Probleme.

Russland blieb von der Revolution 1848/49 weitgehend unberührt, stattdessen beteiligten sich russische Truppen an der Unterwerfung der aufständischen Ungarn. Lassen sich daraus Lehren für den heutigen Umgang mit dem kriegführenden Russland unter Putin ziehen?

Die politisch aktiven Kreise in Russland reagierten unterschiedlich auf die Revolutionen im Westen des Kontinents. Für die slawophilen Konservativen war das die Bestätigung, dass das autokratische Russland nichts lernen könne von einem moralisch korrupten Westen. Die russischen Radikalen fühlten sich enttäuscht vom Scheitern der linken Projekte von 1848. Aus dieser Gefühlslage heraus entstand die Vorstellung, dass Russland selbst der Welt eines Tages den Weg zur sozialistischen Erlösung weisen würde. Putin stellt die Rückkehr zum älteren Modell dar. Aber Putin ist nicht Russland. Wir müssen halt warten, bis er weg ist.

Putin führt diesen Krieg aber nicht allein. Was geschieht, wenn nach ihm ein noch schlimmerer Despot an seine Stelle tritt?

Die Zukunft ist offen. Wir müssen aber hoffnungsvoll sein und bedenken, dass es auch Menschen gibt, die für ein anderes Russland stehen. So wie Alexej Nawalny und der Dissident Wladimir Kara-Mursa.

Die beide im Gefängnis sitzen.

Putins Regime ist unbarmherzig und geht viel härter mit Kritikern um als die europäischen Staaten vor 1848. Man stelle sich vor, die österreichische Polizei hätte 1848 wie im Fall Nawalny Giftstoff in die Unterhose des ungarischen Patrioten Lajos Kossuth geschmiert …

Wie kann der Westen künftig mit einem Russland umgehen, das der Ukraine mit Vernichtung droht?

Es gab eine Zeit, in der auch Deutsche gehofft haben, dass sich die Welt daran erinnern möge, dass neben dem Nationalsozialismus auch ein anderes Deutschland existiert. Das sollten wir nun auch im Falle Russlands nicht vergessen.

Über Jahre hat das Putin-Regime versucht, die Europäer zu entzweien. Nun hat der russische Angriffskrieg die Ukraine und die EU-Länder einander nähergebracht. Sehen Sie darin die Chance, ein stärkeres europäisches Bewusstsein zu etablieren?

Den EU-Staaten ist nach dem 24. Februar 2022 schnell der Schulterschluss geglückt: Sanktionen, Waffenlieferungen, gemeinsame Diplomatie – das ist eine historische Leistung, die kaum überschätzt werden kann. So gesehen hat Putin den Europäern ungewollt sogar ein Geschenk gemacht: Er hat die europäischen Demokratien gestärkt. Umso wichtiger, dass Deutschland und Frankreich nun endlich gemeinsame Entscheidungsprozesse etablieren, statt weiter alles über die nationalen Regierungen laufen zu lassen.

Letzte Frage: In Deutschland gilt die Revolution von 1848/49 als gescheitert. Stimmen Sie zu?

Die These einer gescheiterten Revolution ist zu einem Erinnerungsort im historischen Bewusstsein der Deutschen geworden. Die These ist nicht unbedingt falsch, aber angesichts der großen Tragweite und der weitreichenden Folgen dieser Revolution greift sie zu kurz. Dieses enorme Ereignis im Herzen des neunzehnten Jahrhunderts hat die politischen Kulturen Europas tief geprägt. Diese Revolutionen lassen sich über die Frage "Erfolgreich oder gescheitert?" einfach nicht begreifen.

Professor Clark, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Christopher Clark
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