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Deutschland: AfD und andere Populisten bedrohen Demokratie und Rechtsstaat


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MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 02.10.2023Lesedauer: 5 Min.
AfD-Demagoge Björn Höcke in Erfurt.Vergrößern des Bildes
AfD-Demagoge Björn Höcke in Erfurt. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wenn Demokraten beginnen, den Feinden der Demokratie nach dem Mund zu reden, geraten Recht und Toleranz ins Wanken. Die Art und Weise, wie in diesem Herbst über Flüchtlinge diskutiert wird, wie Migranten von vielen Politikern und Medien ausschließlich als Problem dargestellt werden, wie im Internet, in Kneipen und in Wohnzimmern die allgemeine Wut über die Wirtschafts- und Inflationskrise brodelt, weist beunruhigende historische Parallelen auf.

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Geschichte wiederholt sich nicht, und das Deutschland von heute ist zum Glück ein gefestigter Rechtsstaat. Aber eine Demokratie ist kein Naturgesetz, sie muss jeden Tag aufs Neue belebt und verteidigt werden, sonst verdorrt sie und stirbt irgendwann. Leider ist die gegenwärtige Welt- und Wirtschaftslage nicht förderlich für Demokratien.

Im Gegenteil, sie fordert Demokraten hart heraus. Auch hierzulande, von Woche zu Woche in stärkerem Maße. Die deutsche Wirtschaft taumelt in die Krise, Insolvenzen häufen sich, die Inflation bleibt hoch, immer mehr Menschen müssen jeden Euro zweimal umdrehen. Ob durch eigene Fehler oder aufgrund des kollektiven Frustes nach vier Jahren Corona- und Kriegserschöpfung der Bevölkerung: Die Regierenden ernten wachsenden Zorn und Verachtung, immer mehr Bürger lehnen das politische System rundheraus ab. Rund ein Drittel der Befragten in der neuen "Mitte-Studie" vertritt völkisch-autoritäre, populistische und verschwörungsgläubige Positionen.

Extremisten und Populisten rechts und links erstarken, ob sie nun Höcke oder Wagenknecht heißen. In Thüringen flirten CDU-Parlamentarier mit der radikalen AfD-Truppe, die den Rechtsstaat torpediert und die EU abschaffen will. Derzeit noch mit verbalen Angriffen, aber das muss nicht so bleiben. Die Verbote der Neonazi-Gruppen "Hammerskins" und "Artgemeinschaft" verdeutlichen, wie tief das rechte Gift schon in die Gesellschaft hineingesickert ist. In Bayern machen AfD-Politiker mit SA-Parolen Wahlkampf.

Manche AfD-Kader verstehen sich als parlamentarischer Arm militanter Verfassungsfeinde. Andere pflegen dubiose Verbindungen zu ausländischen Geheimdiensten, wie unser Recherche-Team soeben aufgedeckt hat: Das Umfeld des AfD-Spitzenkandidaten für die Europawahl hat Geld aus China erhalten. Offenkundig versucht nicht nur der Diktator in Moskau, sondern auch der in Peking, die deutsche Demokratie zu destabilisieren, indem er hierzulande Extremisten aufpäppelt.

Wer sich für Geschichte interessiert, dem kommt all das auf unheimliche Weise bekannt vor: die tiefe Wirtschaftskrise, die kollektive Wut auf die Regierenden, das Erstarken der Extremisten und das Schwanken der Demokraten, die ausländische Einflussnahme. Man soll vorsichtig sein mit historischen Vergleichen, das Heute ist anders als das Gestern; aber auffällige Parallelen sollte man benennen – lieber früher als zu spät. Deshalb lohnt sich heute Morgen ein Blick 100 Jahre zurück, in den Oktober 1923.

Damals stand Deutschland vor der Zerreißprobe, eine Hiobsbotschaft jagte die andere: Putsch der Schwarzen Reichswehr, Rücktritt der Regierung, in Sachsen und Thüringen gelangen Kommunisten an die Macht. Separatisten rufen in Aachen einen eigenen Staat aus, kurz darauf flammen im ganzen Land Unruhen auf, Straßenkämpfe zwischen Rechten und Linken erschüttern Berlin. Die Inflation katapultiert den Dollar binnen Tagen auf einen Gegenwert von 40 Milliarden Reichsmark, in Großstädten verhungern Menschen. Für einen Laib Brot muss man waschkörbeweise Geldnoten zum Bäcker tragen, und auf den Straßen reimen die Kinder: "Eins, zwei, drei, vier, fünf Millionen / meine Mutter, die kauft Bohnen / zehn Milliarden kost' das Pfund / und ohne Speck / – du bist weg!"

In München rotten sich die Sturmtruppen der SA zusammen, um der Demokratie den Todesstoß zu versetzen: Anfang November wagen sie den Putsch. Er scheitert nur deshalb, weil mehrere konservative Verbündete im letzten Moment Adolf Hitler die Gefolgschaft verweigern. Der demokratische Staat wankt, aber noch fällt er nicht. Doch die Feinde der Demokratie treiben ihr zersetzendes Werk weiter, verbünden sich, rüsten auf, infiltrieren Behörden und Ministerien mit ihren Leuten – und profitieren davon, dass konservative Politiker sie verharmlosen oder mit ihnen paktieren. In seinem 1923 erschienenen Debütroman "Das Spinnennetz" beschreibt der Schriftsteller Joseph Roth das Wuchern dieses gesellschaftlichen Tumors und prognostiziert auf prophetische Weise, wo das alles zehn Jahre später enden wird: in der Errichtung der totalitären Diktatur, die jeden zermalmt, den sie zum Feind erklärt.

Roths Erzählung umfasst gerade einmal 70 Seiten. Sie ist heute nur noch wenigen Lesern bekannt; die letzte Ausgabe ist in einem kleinen Wissenschaftsverlag erschienen. Dabei sollte es das Buch des Jahres sein. Die brillante Charakterstudie eines Nazi-Mitläufers erzählt viel über das Damals – und offenbart zugleich erschreckende Parallelen zum Heute. Auch ohne Hunger und Straßenkämpfe steht die Demokratie wieder unter wachsendem Druck von Extremisten.

Wo wird Deutschland in zehn Jahren stehen? Werden wir den gegenwärtigen Krisensturm überwunden haben, gestärkt und geeint in die Zukunft schauen? So kann es kommen, aber das gelingt nur, wenn die Demokraten heute zusammenhalten. Und wenn sie den Rechtsstaat, die Toleranz und auch die Würde der Schwachen verteidigen.


Ohrenschmaus

Die neuen Nazis sind mitten unter uns. Und sie brauchen keinen Führer.


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Was steht an?

Hamburg: Die Hansestadt eröffnet das diesjährige Bürgerfest zum Tag der Deutschen Einheit. Neben dem Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher kommt auch dessen Vorgänger, der heute im Kanzleramt sitzt. Auch NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst und der Ost-Beauftragte Carsten Schneider sind in der Stadt. Am Nachmittag wird im Hafen das größte Containerschiff unter deutscher Flagge getauft: Die "Berlin Express" ist fast 400 Meter lang und mit 61 Metern fast so breit wie das Brandenburger Tor. Passt also zum Feiertag morgen.


Stockholm: Das Preiskomitee verkündet am Vormittag, wer den Nobelpreis für Medizin bekommt.


New York: Der Betrugsprozess gegen Donald Trump beginnt. Gemeinsam mit seinen Söhnen soll er jahrelang den Wert seiner Firma manipuliert haben, um günstige Kredite und Versicherungsverträge zu bekommen. Nun geht es um das Strafmaß.


Madrid: Spaniens König Felipe VI. empfängt Vertreter der Parlamentsparteien zu Konsultationen. Nach dem Scheitern des konservativen Feijóo wird er wohl den Sozialisten Sánchez mit der Regierungsbildung beauftragen.


Stuttgart: Kulturstaatssekretärin Claudia Roth vergibt den Deutschen Buchhandlungspreis. Er zeichnet Läden mit vielfältigem Sortiment und besonderen Veranstaltungen aus. Schön!


Was lesen?

In einer dramatischen Wende hat der US-Kongress den Übergangshaushalt freigegeben und einen Regierungsstillstand abgewendet. Doch das Ergebnis bringt die Ukraine in akute Gefahr, berichtet unser Korrespondent Bastian Brauns.


Die Klimakrise hat immer krassere Folgen: Wird der Rhein komplett versiegen? Meine Kollegin Io Görtz berichtet von einer beunruhigenden Entwicklung.


Friedrich Merz verprellt mit seinen populistischen Sprüchen immer mehr Menschen. Viele Medien sehen ihn als CDU-Vorsitzenden bereits gescheitert. Dass die Partei keinen klaren Kurs findet, liegt aber auch an Angela Merkel, meint mein Kollege Christoph Schwennicke.


Zum Schluss

CDU-Chef Merz auf Schlingerkurs.

Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Wochenbeginn und morgen einen fröhlichen Feiertag. Der nächste Tagesanbruch kommt am Mittwoch von Christine Holthoff, von mir lesen Sie am Donnerstag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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