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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erschreckende Studie "Ein neues Phänomen ist noch viel gefährlicher"
Die renommierte Mitte-Studie liefert in diesem Jahr erschreckende Ergebnisse. Stiftungschef Martin Schulz über verunsicherte Bürger, Fehler der Regierung, Sahra Wagenknecht und drohende Konflikte.
Es sind bittere Zahlen für Deutschland, die die renommierte Mitte-Studie an diesem Donnerstag liefert: Das Vertrauen in das Funktionieren der Demokratie ist in der Bevölkerung auf unter 60 Prozent gesunken. Rund ein Drittel der Befragten vertritt verschwörungsgläubige, populistische und völkisch-autoritäre Positionen. Acht Prozent haben sogar ein rechtsextremes Weltbild – also jeder Zwölfte. Ein erheblicher Anstieg, 2021 waren das nur zwei bis drei Prozent.
Erhoben wird die Studie von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, veröffentlicht wird sie alle zwei Jahre. Unter Wissenschaftlern genießt sie hohes Ansehen. Schon 2021, in der Corona-Zeit, waren die Werte für Verschwörungsglauben und menschenfeindliche Einstellungen auf einem Hoch – nun gehen sie noch weiter rauf.
Woran liegt das? Welche Rolle spielen dabei Fehler der Regierung? Und was bedeutet das für die derzeit so erfolgreiche AfD? Ein Gespräch mit Martin Schulz, der seit 2020 Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung ist.
t-online: Wie würden Sie das Ergebnis der Mitte-Studie in eigenen Worten zusammenfassen?
Martin Schulz: Besorgniserregend. Die Studie zeigt deutlich: Ein Teil der gesellschaftlichen Mitte vertraut immer weniger auf unsere Demokratie und fühlt sich sozial wie wirtschaftlich bedroht. Sie reagiert zunehmend nervös und aggressiv.
Die Werte waren schon bei der letzten Mitte-Studie 2021 auf einem Hoch. Warum haben sie sich weiter verschlechtert?
Wir sind jetzt seit Jahren im Ausnahmezustand. Die Corona-Pandemie hat wie ein Schock gewirkt, Krieg auf europäischem Boden konnte sich kaum jemand vorstellen. Die Mitte der Gesellschaft spürt zunehmend: Die Zeit der Gemütlichkeit ist vorbei, die nationalen Institutionen wirken überfordert. Das schlägt bei manchen dann in Aggression gegen diese Institutionen um – der Nährboden für alle autoritär denkenden extremen Rechten.
Zur Person
Martin Schulz, 67 Jahre alt, ist Vorsitzender der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Zuvor gehörte er knapp 20 Jahre lang der Parteispitze der Bundes-SPD an. 2017 trat er für die SPD als Kanzlerkandidat an und fuhr mit 20,5 Prozent das schlechteste Ergebnis der SPD seit 1945 ein. Er ist gelernter Buchhändler und war ehrenamtlicher Bürgermeister von Würselen in Nordrhein-Westfalen.
Warum zieht es die Deutschen in der Krise nach rechts statt nach links?
Die extreme Rechte erscheint als homogener, zu allem entschlossener Block. Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Die Linke hingegen diskutiert und streitet gerne. Sie wird als sehr heterogen wahrgenommen. Das ist weniger attraktiv. Ein neues Phänomen ist aber noch viel gefährlicher.
Und zwar?
Die extreme Rechte übernimmt sozialpolitische Thesen, tritt zunehmend antikapitalistisch auf und bemächtigt sich so eines Teils linker Rhetorik. Schauen Sie sich nur die Kümmerer-Attitüde der AfD an! Das ist eine perfide Strategie, Menschenfeindlichkeit erhält so einen vermeintlich menschlichen Anstrich.
Sahra Wagenknecht arbeitet an einer neuen Partei. Ist das aus Ihrer Sicht eine Hoffnung?
Da gilt es abzuwarten, noch ist vieles Spekulation. Und das Wort "Hoffnung" verbinde ich sicher nicht mit Frau Wagenknecht. Aber eines ist wahr: Frau Wagenknecht stellt unsere Institutionen nicht in dem aggressiven Maße infrage, wie das die AfD tut.
Jeder zehnte Deutsche hat der Studie zufolge Vorurteile gegen Geflüchtete, Juden, Langzeitarbeitslose oder Transmenschen – ist also Minderheiten gegenüber feindselig und diskriminierend eingestellt. Bewegen wir uns auf ein Deutschland zu, in dem nur heterosexuelle Biodeutsche noch gut und gerne leben können?
Im sozialen Verdrängungsprozess wehren sich Menschen gegen jene, die sie für eine Bedrohung halten. Wichtig: Dabei handelt es sich um ein Bedrohungsgefühl, nicht um eine Bedrohungserfahrung. Das sieht man zum Beispiel deutlich daran, dass die radikalste Ablehnung von Migranten da stattfindet, wo es nur wenige gibt.
Für Minderheiten in Deutschland ändern die Motive wenig. Ihr Leben wird unbequem, gefährlicher.
Das ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Mehr als ein Viertel der Menschen in unserem Land hat zum Beispiel einen Migrationshintergrund. Diesen Menschen wird von einer radikalen Minderheit ihr Recht auf Zugehörigkeit abgesprochen. Das geht gar nicht! Und die werden sich das auf Dauer auch nicht gefallen lassen. Zu Recht!
Firmenchefs und Gewerkschaften sollten viel öfter Klartext reden und vermitteln: Rechtsextreme Einstellungen schaden auch ökonomisch.
Schulz über in der Demokratiekrise stumme Teile der Gesellschaft
Was kann denn helfen?
Wenn zehn Prozent solche Vorurteile haben, heißt das im Umkehrschluss auch: 90 Prozent denken nicht so. Es kommt jetzt stark darauf an, diese schweigende Mehrheit zu mobilisieren – durch Partei- und Vereinsarbeit, aber auch durch die Arbeit jedes einzelnen.
Das passiert schon lange, hat man das Gefühl. Demokratie-Projekte und Gedenkstätten warnen laut.
Große Teile der Gesellschaft aber bleiben stumm. Sie wählen den bequemen Weg und halten sich lieber raus.
Ein Beispiel?
Die Wirtschaft könnte und müsste viel lauter sein. Sie ist ja auch massiv betroffen. Firmenchefs und Gewerkschaften sollten viel öfter Klartext reden und vermitteln: Rechtsextreme Einstellungen schaden auch ökonomisch. Ohne Zuwanderung können wir den Laden dichtmachen.
Zurzeit aber profitiert von der Stimmung die politische Rechte, besonders die AfD. In vier ostdeutschen Bundesländern ist sie stärkste Kraft. In drei davon wird im nächsten Jahr gewählt. Ihre Prognose, bitte: Wie lange dauert es noch, bis die AfD in einem Bundesland regiert?
Alle Parteien betonen, dass sie mit der AfD nicht regieren wollen. Ich glaube das – weil man mit der AfD gar nicht regieren kann. Eine Partei, die die EU ablehnt beziehungsweise in Teilen am liebsten auch abschaffen will, legt die Axt an die ökonomische Basis der Bundesrepublik. Mit einem solchen Verein kann man nicht regieren.
In der CDU scheinen einige anders zu denken. Schon jetzt stimmt man in den Parlamenten bei Themen gemeinsam ab. Wenn eine Koalition zwischen CDU und AfD eine der wenigen Möglichkeiten ist, überhaupt stabil zu regieren – glauben Sie wirklich, die CDU bleibt bei ihrem Nein zur AfD?
Daran glaube ich fest. Es wäre auch ein Wortbruch, wie es ihn in der deutschen Parteiengeschichte selten gab. Bis dahin gilt außerdem: Umfragen sind Umfragen. Entscheidend sind allein die Ergebnisse am Wahltag. Wir haben noch Zeit.
Es wäre auch ein Wortbruch, wie es ihn in der deutschen Parteiengeschichte selten gab.
Schulz über eine Koalition der CDU mit der AfD
Fraglich nur, wer in dieser kurzen Zeit das Ruder herumreißen soll. Die Bundesregierung wäre zuallererst wichtig – aber große Teile der Bevölkerung sind mit ihr nicht zufrieden. Wie sehr trägt sie Schuld am Demokratieverdruss der Deutschen?
Diese Bundesregierung leidet unter dem Krisen-Paradox. Sie verhindert schwerste Krisen – aber es zahlt nicht bei ihr ein, weil Krisen, die nicht eintreffen, nicht als Krisen wahrgenommen werden. Denken Sie an den vergangenen Herbst. Da wurde uns erzählt: Ihr werdet im Winter frieren, die Energieversorgung wird knapp, es wird sehr hart für uns alle. Das ist so nicht passiert. Die Regierung hat das abgewendet, weil sie klug und vorausschauend agiert hat. Applaus bekommt sie dafür nicht.
Also alles super, Topnoten für die Bundesregierung aus Ihrer Sicht?
Nein, nicht alles ist top. Eine progressive Koalition muss einheitlich handeln, das gemeinsame Projekt auch gemeinsam verkaufen. Streit zwischen den Koalitionspartnern, wie wir ihn immer wieder erleben, ist kontraproduktiv und zerstört Vertrauen.
In der aktuell rauen Lage, mitten im Rechtsruck, hat die Bundesregierung außerdem massiv Mittel für Bildungs- und Demokratieprogramme gekürzt sowie Hilfen zur Integration von Flüchtlingen. Bekommt sie überhaupt mit, was in der Bevölkerung gerade passiert?
Das Streichen der Mittel bei der politischen Bildung ist falsch. Ich würde dringend dazu raten, die Mittel im Gegenteil zu erhöhen. Wir reden aber über einen Haushaltsentwurf, das Parlament kann daran zurzeit noch Änderungen vornehmen. Und die Abgeordneten haben Finanzminister Lindner deutlich signalisiert, dass sie das auch tun wollen. Ich denke also nicht, dass es dabei bleibt.
Herr Schulz, danke für das Gespräch!
- Gespräch mit Martin Schulz