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Gefährliches Virus macht sich in Deutschland breit: Wo ist der Elan?


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Tagesanbruch
Trägheits-Virus macht sich in Deutschland breit

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 29.08.2023Lesedauer: 6 Min.
Iluminierte Kühltürme des ehemaligen Stahlwerks in Bochum.Vergrößern des Bildes
Illuminierte Kühltürme des ehemaligen Stahlwerks in Bochum. (Quelle: imago images)
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Früher war nicht alles besser, vieles aber schon: Selbst in schwierigen Zeiten herrschte in der Bundesrepublik Aufbruchstimmung. Wirtschaft, Gesellschaft und sogar der Sport waren von einem kollektiven Selbstbewusstsein beseelt, das sich aus Schaffenskraft, Ideen und Fleiß nährte, ohne in chauvinistische Überheblichkeit abzudriften. Wir waren wer, und wir konnten zufrieden sein.

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Blick ins Jahr 1993: Deutschland war frisch wiedervereinigt und obendrein Fußballweltmeister. Die Dax-Unternehmen stemmten sich beherzt gegen die Nachwendekrise. Der Bundestag beschloss die Großreform zur Entschuldung und Teilprivatisierung der Deutschen Bahn, die Post arbeitete einigermaßen verlässlich, und im Fernsehen lief der Straßenfeger "Der große Bellheim" mit Mario Adorf. Die Begeisterung des Publikums bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Stuttgart riss das ganze Land mit, die UN belohnten sie mit dem Fair-Play-Preis. Die deutschen Athleten gewannen zwei Gold-, zwei Silber- und vier Bronzemedaillen, landeten auf Platz sechs des Medaillenspiegels.

Und heute? 30 Jahre später herrschen vielerorts Trübsinn, Trägheit und Resignation. Einstmals erfolgreiche deutsche Institutionen sind nur noch ein Schatten ihrer selbst:

  • Milliardenkonzerne wie Volkswagen und Bayer schwächeln, weil sie neue Trends verschlafen oder schlimme Managementfehler begangen haben. Wirtschaftliche Innovationen kommen heute eher aus Cupertino und Shenzhen als aus Wolfsburg und Leverkusen.
  • Während die anderen G20-Staaten durchstarten, schlittert Deutschland in die Rezession.
  • Die Postbank verärgert ihre Kunden, weil bei der Übernahme durch die Deutsche Bank versehentlich Tausende Konten gesperrt wurden.
  • Als Bahnfahrer kann man sich schon glücklich schätzen, wenn man nur mit einer halben Stunde Verspätung ankommt und nicht auf offener Strecke strandet.
  • ARD und ZDF senden einen austauschbaren Krimi nach dem anderen und verspielen mit ihrem byzantinischen Finanzgebaren das Vertrauen der Zuschauer.
  • Der Deutsche Fußball-Bund ist zu einem Dilettanten-Stadl verkommen, in dem sich Funktionäre die Posten zuschieben und dem sportlichen Niedergang zusehen: Die Frauen-Nationalmannschaft wurde bei der Weltmeisterschaft in Australien früh aus dem Turnier geschossen; das Herren-Team wird mit seinem lustlosen Gekicke bei der Heim-Europameisterschaft im kommenden Jahr wohl sein nächstes blaues Wunder erleben.
  • Und die deutschen Leichtathleten? Fahren nach der Weltmeisterschaft in Budapest mit null Medaillen nach Hause. In Zahlen: 0. Sogar Bahrain, Burkina Faso und Botswana sind besser als wir.

Was läuft schief im Land? Alles nur ein zufälliges Zusammentreffen misslicher Einzelfälle oder ein allgemeiner Abwärtstrend? Fragt man Akteure aus den einzelnen Branchen, hört man lange Erklärungen für all die Rückschläge: die angespannte Wirtschaftslage aufgrund von Krieg, Corona und so weiter, Deutschlands Abhängigkeit von Exporten, der Umbruch in Sportkadern, die komplexe Steuerung großer Organisationen, Firmen und Sender – alles schwierig, alles hinderlich, schon klar.

Dennoch bleibt ein Eindruck, der sich zunehmend verfestigt: An immer mehr Stellen läuft es hierzulande nicht mehr rund. Wir sind als Gesellschaft zwar sehr gut darin, Probleme zu diskutieren, aber schlecht darin, sie schnell zu lösen. Das Virus der Trägheit scheint das ganze Land zu infizieren. Seine Symptome sind tückisch: Man leistet nur noch gerade so viel, wie man unbedingt muss, aber keine Handbreit mehr. Leistung ist okay, aber bitte nicht zu anstrengend! Echtes Engagement zeigen viele Leute nicht mehr beim Gestalten, sondern nur noch beim Verhindern: Will jemand etwas verändern, treten prompt die Besitzstandswahrer auf den Plan und verkünden allerhand Argumente, warum genau diese Änderung nun wirklich gar nicht geht.

Ob Klimaschutz oder Bahnreform, Bundeswehraufrüstung oder Kindergrundsicherung: Die Republik ist zerfasert in Lobbygruppen, es fehlt am Gemeinsinn. Die Binsenweisheit, dass bei großen Veränderungen niemals alle gewinnen und Einzelne manchmal eben auch Einbußen hinnehmen müssen, empfinden viele Bürger heute als Zumutung.

Das schlägt sich in der Politik nieder: Die Dreierkoalition aus SPD, Grünen und FDP repräsentiert die gesellschaftlichen Bruchlinien, statt sie aufzulösen. Die Minister zanken sich lieber wochenlang öffentlich, statt zügig Kompromisse auszuhandeln – und am Ende rufen alle nach einem Machtwort des Kanzlers. Das Kabinett, das sich ab heute zur Klausur im Schloss Meseberg bei Berlin trifft, besteht eher aus Gegnern als aus Partnern. Allein der Wille zur Macht zwingt sie zusammen.

Deshalb ist dem Reformstau aus der Ära Merkel kein dynamischer Aufbruch gefolgt, sondern ein kleinlicher Dauerstreit. Grüne und Gelbe gönnen sich nicht einmal das Schwarze unter den Fingernägeln, reden mehr über- als miteinander und vermitteln den Bürgern ein Zerrbild von Politik, das einem Gruselkabinett ähnelt. Dabei sollte es doch eine vorbildliche, ehrenwerte Aufgabe sein, sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Stattdessen rangiert das Image von Politikern noch unter dem von Gefängniswärtern, Steuerberatern und – huch! – Journalisten. Der deutsche Sommer-Sound ist der Katzenjammer: Wir lähmen uns selbst und fühlen uns auch noch schlecht dabei.

Wie gewinnt das Land wieder Elan? Es wäre falsch, die Antwort auf diese Frage allein Politikern zu überlassen oder nur die Eliten in die Pflicht zu nehmen. Alle sind gefordert. Um die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen, müssen alle Bürger mithelfen. Jeder im Rahmen seiner Kraft natürlich, aber eben alle. Mitreden statt mosern, Solidarität statt Egoismus, Pragmatismus statt Erbsenzählerei, Zuversicht statt Pessimismus, anpacken statt abwarten: Das ist der Modus des Aufbruchs.

Die Haltung macht den Unterschied. Wenn die Mehrheit der Bürger das beherzigt, weht ein neuer Wind durchs Land: Aufbruch, Eifer, gute Stimmung. Die Erfolge kommen dann von ganz allein. Vielleicht sogar in den Stadien.


Zitat des Tages

"Ein noch nie da gewesener Anteil der Deutschen stellt die Handlungsfähigkeit des Staates infrage, weil ständig gestritten wird, ohne dass es zu Ergebnissen kommt. Die Menschen in Deutschland haben nichts gegen Kompromisse. Aber sie haben eine Aversion gegen Stillstand und Scheitern."

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) heute Morgen im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung".


Ohrenschmaus

Anpacken kann Spaß machen: Vor 40 Jahren wusste man das noch. Hören Sie mal.


Aiwanger bringt Söder in Bedrängnis

Ein antisemitisches Flugblatt wirbelt die bayerische Landespolitik auf: Zwar bestreitet Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger, das von der "Süddeutschen Zeitung" zunächst ihm zugeschriebene Pamphlet aus den Jahren 1987/88 selbst verfasst zu haben. Stattdessen outete sich sein Bruder und damaliger Mitschüler Helmut (heute Betreiber eines Waffengeschäfts) als wahrer Autor des Papiers. Er habe die Zeilen, in denen unter anderem vom "Vergnügungsviertel Auschwitz" die Rede ist, aus Wut geschrieben. Weil er damals eine Klasse wiederholen musste.

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Dennoch bleiben viele Fragen offen. Etwa die, warum Hubert Aiwanger das Machwerk damals überhaupt im Ranzen mit sich trug, wo es ja "gefunden" wurde, wie er selbst einräumt. Oder warum sein Bruder damals hinnahm, dass der Falsche für die Tat beschuldigt und zu einer Strafarbeit verurteilt wurde. Oder wieso sich Sitzenbleiber-Frust in einer Nazi-Hetzschrift entlädt. Gelegenheit, alle diese Fragen zu beantworten, bekommt der Freie-Wähler-Chef heute Vormittag auf einer von Ministerpräsident Markus Söder einberufenen Sondersitzung des Koalitionsausschusses. Anschließend trifft sich der Ministerrat in der Staatskanzlei; Schlag 12 Uhr will der Regierungschef in einer Pressekonferenz über die Ergebnisse beider Sitzungen informieren. High Noon auch für Söder. Denn das politische Chamäleon steckt knietief in einer selbst gebauten Zwickmühle, schreibt unser Reporter Tim Kummert.

Davon abgesehen: Liebe Kollegen der "SZ", eine sachlichere Form der Verdachtsberichterstattung hätte der Recherche gut angestanden. Da haben die Medienkritiker durchaus recht.


Lesetipps


Was folgt aus dem deutschen Leichtathletik-Debakel? Es wird einem angst und bange, meint unser Ressortleiter Andreas Becker.


Warum machen Politiker von CDU und CSU Front gegen die Klimaschutzpläne? Bemerkenswert, was die "taz" berichtet.


Dank Klimawandel und Globalisierung breiten sich Rote Feuerameisen weltweit aus. Meine Kollegin Anna-Lena Janzen erklärt Ihnen, warum die Australier nun Alarm schlagen.


Zum Schluss

Was man für eine Regierungsklausur so braucht …

Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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