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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Söders Dilemma Es wird eng
Die Affäre um das Auschwitz-Flugblatt von Hubert Aiwanger setzt auch Markus Söder unter Druck. Der bayerische Ministerpräsident steckt dabei in einer selbstgebauten Zwickmühle. Gelingt ihm die Befreiung?
Markus Söder ist ein Mann, der keine Zeit verliert. Nicht einmal früh morgens, wenn er Aufträge an Mitarbeiter schickt. Seine SMS beginnt er mit "GuMo", die Abkürzung für "Guten Morgen", so berichtete es der "Spiegel". Anschließend folgen die schriftlichen Anweisungen im Stakkato. Hauptsache, es geht zügig vorwärts. Das ist das Wichtigste für Markus Söder.
Doch in diesen Tagen geht nichts vorwärts. Im Gegenteil. Der sonst so rastlose Ministerpräsident ist seltsam still in einer Sache, die seit dem Wochenende in Bayern, aber auch darüber hinaus hohe Wellen schlägt. Es geht um die Vorwürfe gegen Hubert Aiwanger, seinen Stellvertreter. Aiwanger ist Chef der "Freien Wähler", die mit der CSU in Bayern regieren. Und Aiwanger hat zugegeben, als 17-jähriger Schüler ein oder mehrere Exemplare eines antisemitischen Flugblatts in seiner Tasche gehabt zu haben. Von einem "Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz" ist in dem Text unter anderem die Rede. Ob Aiwanger die Exemplare auch weitergegeben habe, sei ihm "nicht mehr erinnerlich", erklärte er. Zuvor hatte die "Süddeutsche Zeitung" über das Papier berichtet.
Der Vize wird vom Chef "einbestellt"
Am Samstag sagte Söder, es seien "schlimme Vorwürfe", die vollständig ausgeräumt werden müssten. Dann behauptet Aiwangers Bruder, der Verfasser des Hetzblattes zu sein. Von Söder dazu: nur Schweigen.
Am Montagmorgen dann die Meldung: Söder lässt seinen Staatskanzleiminister Florian Herrmann erklären, Aiwanger soll in einem Koalitionsausschuss am Dienstagmittag aussagen. Man habe ihn "einbestellt". Wie den Botschafter eines anderen Landes, mit dem es gerade Krach gibt. Das ist jetzt der Umgangston innerhalb der bayerischen Koalition.
Es gehe um "das Ansehen Bayerns" bei der bevorstehenden Sitzung, heißt es in der Erklärung. Es geht aber auch um das Ansehen von Markus Söder. Um die in wenigen Wochen anstehende Landtagswahl. Und um seine Pläne, doch noch Bundeskanzler zu werden. All das gefährdet der Skandal nun. Für Söder steht die vielleicht schwierigste Operation seiner politischen Karriere bevor.
Markus Söder sitzt dabei in einer Zwickmühle, die er sich selbst gebaut hat. Er hat einerseits bereits seit Wochen angekündigt, nach der Landtagswahl das Bündnis mit den Freien Wählern fortzusetzen. Andererseits hat er auf die wahrscheinlichste andere Regierungsoption, ein Bündnis mit den Grünen, vehement geschimpft. Er hat es sogar regelrecht ausgeschlossen. Kann er davon erneut umkehren?
Die Gemengelage in seiner Partei ist angespannt. Söder wirkt ein wenig wie jemand, der auf einem Schnellkochtopf sitzt: Es ist unklar, wann der Deckel abfliegt, wann der Druck zu groß wird. Es rumort in der CSU. Doch nur wenige trauen sich, öffentlich Stellung zu beziehen. Einer davon ist der Vize-Landtagspräsident Karl Freller: "Dieses Pamphlet ist so unsäglich und widerwärtig, dass man nicht mehr von einem dummen Jungenstreich sprechen kann", sagte er im Deutschlandfunk. Er wolle zwar jetzt nicht den Stab über Aiwanger brechen, es seien jedoch viele Fragen offen.
Hektische Tage sind in der Staatskanzlei angebrochen, wo mancher noch vor Kurzem glaubte, die Landtagswahl sei so gut wie gelaufen und alles gehe weiter wie bisher. Jetzt muss umgesteuert werden.
Manche lachten, andere ahnten, wie klug Söder agiert
Markus Söder war schon immer ein Politiker mit einem untrüglichen politischen Instinkt. Wo die Mehrheiten waren, da war Söder. Oder dort, wo er die Mehrheiten vermutete. Mal ließ er sich mit einem Kruzifix fotografieren und sagte dazu markige Sätze über die christliche Kultur. Mal posierte er, wieder für die Fotografen, vor Bäumen und erklärte seine Umweltverbundenheit. So, wie es gerade passte.
In der Corona-Pandemie baute Söder diese Strategie aus. Als am Anfang große Unsicherheit über das neue Virus herrschte, erließ Söder besonders scharfe Regeln. Das gipfelte in einem Tweet der Polizei München, die bestätigte, dass es verboten sei, ein Buch auf einer Parkbank zu lesen. Dazu gab es wieder markige Sätze von Söder: "Corona ist wie ein Funke, der jederzeit ein Buschfeuer entzünden kann." Und: "In der Krise wird oft nach dem Vater gefragt." Manche lachten darüber. Andere ahnten, dass diese Strategie aufgehen könnte.
Seine Umfragewerte stiegen, sie trugen ihn nach oben wie auf einer Wendeltreppe. Söder, der Macher. Söder, der Volkstribun. Kurz schien es, er könnte sogar Kanzler werden, bis betagte CDU-Größen um Wolfgang Schäuble das unter Aufbietung aller Kraft verhinderten. Seitdem beteuert Söder gern, dass sein Platz – nun wirklich – in Bayern sei. Politische Gefährten von ihm gehen fest davon aus, dass er nur auf seine nächste Gelegenheit wartet. Und dann doch noch nach der Kanzlerkandidatur greift.
Bis sich Söder erneut als Partner auf die Freien Wähler festlegte, war die Koalition mit ihnen eine, wie er sie besonders gern hat: voller Alternativen. Die starken Grünen in Bayern, sogar die bei etwa fünf Prozent liegende FDP – sie alle würden auch gern mit der CSU regieren. Söder ließ das seinen Vize Aiwanger immer wieder spüren. Er setzte deshalb rücksichtslos selbst die großen Themen. Die langen Linien, wo das Land hinsteuern würde, die zeichnete er. Asylpolitik, Schulen, Unterstützung von Unternehmen. Söder, Söder, Söder.
Das Chamäleon und der Populist
Aiwangers Feld dagegen sind schon seit Jahren die Bierzelte in Bayern. Dort wird er bejubelt, dort ist er der Star. Er wettert gegen den "Heizhammer von Habeck", fordert mal eine Wende bei der Autopolitik, ist überzeugt, die Sprache der Bürger zu sprechen. Bei einem Auftritt in Erding vor wenigen Wochen donnerte Aiwanger sogar, man müsse sich die "Demokratie zurückholen." Die Folge war ein kleiner Rüffel von Söder. Aber ein echter Bruch der Koalition? Na mei.
Die Aufteilung funktionierte für beide recht gut. Manche sagen: Das politische Chamäleon Söder, das je nach aktueller Lage die Farbe wechselt, verbündete sich mit dem lautstarken Bierzelt-Populisten. Der eine regiert im Tagesgeschäft, der andere bedient das Bedürfnis nach klarer Kante. Dieses sorgsam kalibrierte Gewicht kippt nun.
Denn Söder weiß, dass er sich beim Umgang mit Antisemitismus keinen Zweifel an seiner Haltung erlauben darf. Söders Vertraute, die CSU-Landtagspräsidentin Ilse Aigner, hatte am Wochenende noch getwittert: "Wie man zum Nationalsozialismus und zum Holocaust steht, ist der Lackmustest für jeden Demokraten."
Es wird daher vor allem davon abhängen, wie der morgige Termin abläuft. Aiwanger soll sich erklären, heißt es in der CSU. Es geht darum, die schwerwiegendsten Vorwürfe auszuräumen.
Hält Söder trotzdem an Aiwanger fest?
Der "Süddeutschen Zeitung" gegenüber hatte Aiwanger abgestritten, dass er das Flugblatt verfasst habe. Auch auf mehrmalige Nachfrage des Blattes hatte er jedoch nicht seinen Bruder als Autor genannt. Erst nachdem die Zeitung berichtet hatte, wurde das öffentlich. Warum äußerte er sich so spät? Wieso erklärte er nicht vorher bereits, den wahren Urheber zu kennen? Aiwanger hätte auch dabei nicht sagen müssen, wen er meint.
Es geht bei der Sitzung am Dienstagvormittag für Söder auch um die Frage, womit er politisch mehr gewinnen kann. Hält er an Aiwanger fest, damit der sich nicht zum Opfer stilisieren kann oder kündigt er die Koalition auf und gewinnt damit an Glaubwürdigkeit? Dann würde er jedoch möglicherweise die Wähler verlieren, die jetzt schon an eine politische Kampagne glauben. Die Entscheidung dürfte für Söder enorm schwer sein. Entscheidet er sich falsch, wird seine politische Größe in sich zusammenschrumpfen. Und das könnte ihn sogar den eindeutigen Wahlsieg kosten.
Die Entscheidung könnte von der Frage abhängen, ob weitere Vorwürfe bekannt werden. Und die Opposition den Druck weiter erhöht. Wie es weitergeht, ist völlig unsicher. Es wird eine lange Nacht in München werden. Nur eines ist klar: Markus Söder wird am Dienstagmittag vor die Presse treten und sich erklären. Um Punkt zwölf Uhr, seine Staatskanzlei hat die Einladung bereits verschickt.
- Eigene Recherche