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Über 30 Jahre Mauerfall: Warum Wessis und Ossis sich nicht verstehen


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Tagesanbruch
Dein Ossi – das unbekannte Wesen

MeinungVon Miriam Hollstein

Aktualisiert am 15.08.2023Lesedauer: 7 Min.
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Badende am FKK-Strand in Prerow – das textilfreie Schwimmen war in der DDR eine Selbstverständlichkeit. In der BRD galt es als eher verrucht. (Quelle: imago imaes/Votos-Roland Owsnitzki)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

erinnern Sie sich noch an Oswalt Kolle? Der deutsch-niederländische Journalist wurde in den 60er- und 70er-Jahren mit einer Reihe von Aufklärungsfilmen berühmt. Sie trugen Titel wie "Dein Mann – das unbekannte Wesen" und "Deine Frau – das unbekannte Wesen". Kolle zeigte nackte Körper, sprach über Selbstbefriedigung, Sex zu dritt, Fremdgehen. Dafür erhielt er den Spitznamen "Erforscher des deutschen Beischlafs". Das passte nicht allen. "Pornografie" nannten das die einen, eine "sexuelle Befreiung" die anderen.

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Manchmal wünsche ich mir einen Oswalt Kolle des Ostens. Der unter dem Titel "Dein Ossi – das unbekannte Wesen" den Westdeutschen ohne Tabus erklärt, wie die Ostdeutschen ticken. Oder umgekehrt mit "Dein Wessi – das unbekannte Wesen" den Ostdeutschen darlegt, was Westdeutsche ausmacht. Wovon sie heimlich träumen, warum sie jeweils so sind, wie sie sind.

Moment mal, werden Sie nun vielleicht einwenden, DEN Ostdeutschen oder DEN Westdeutschen gibt es gar nicht. Ja, Sie haben recht, es ist eine Gefahr, zu pauschalisieren. Einen Bayern mag oft mehr von einem Preußen trennen als einen Küstenbewohner aus Schleswig-Holstein von einem Küstenbewohner aus Mecklenburg-Vorpommern.

Aber wahr ist auch, dass eine Gesellschaft stark durch ihr jeweiliges politisches System geprägt wird. Zu Zeiten der Teilung waren wir alle Deutsche und doch trennten BRD und DDR nicht nur eine Mauer, sondern auch kulturell und gesellschaftlich Welten. Daraus entstand ein kollektives Bewusstsein, welches bis heute nachwirkt.

Wie viel Trennendes noch immer da ist, zeigt ein Blick auf aktuelle Studien. Einer jüngsten Befragung der Universität Leipzig zufolge sind nicht einmal die Hälfte der Ostdeutschen zufrieden mit dem Zustand unseres politischen Systems. Fast zwei Drittel halten es für sinnlos, sich politisch zu engagieren. In Ostdeutschland ist die AfD mit 32 Prozent laut einer Forsa-Umfrage vom Juni mittlerweile die stärkste Kraft vor der CDU mit 23 Prozent. In Westdeutschland liegt die CDU mit 30 Prozent vorn, gefolgt von der SPD mit 19 Prozent.

Schon 2020 zeigte eine Studie der Bertelsmann-Stiftung die weiterhin große Distanz zwischen Ost und West. 60 Prozent der Ostdeutschen gaben darin an, sich von den Westdeutschen wie Bürger zweiter Klasse behandelt zu fühlen. Umgekehrt waren es nur 21 Prozent.

Mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall ist noch immer vieles nicht zusammengewachsen, was doch zusammengehörte. Das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen ist vergleichbar mit dem zwischen Männern und Frauen zu Zeiten von Oswalt Kolle: Wir leben in einer Beziehung, ohne einander verstanden zu haben und ohne die Sehnsüchte und Ängste des anderen wirklich zu kennen.

Wo ist sie hin, die Euphorie des Mauerfalls? Wo ist unsere Neugier und Bereitschaft geblieben, die jeweils andere Seite zu entdecken?

Meine persönliche Erforschung des ostdeutschen Wesens begann 1990. Ich war zum Studium nach Berlin gekommen, in der wie in keiner anderen Stadt die Spuren der Teilung noch täglich zu sehen und zu spüren waren. In meinem Einführungskurs war ein junger Mann aus Leipzig, der mir erzählte, dass er "Agitator" in seiner Klasse gewesen sei. Ich wusste nicht, was das war. Er schenkte mir eine Kassette mit der Musik der "Seilschaft", jener Band des DDR-Kultsängers Gerhard Gundermann.

1995 fing ich an, für die "Berliner Zeitung" über zwei ostdeutsche Außenbezirke, Marzahn und Hellersdorf, zu schreiben. Meine großartigen Kollegen: alle Ossis. Die Menschen, die ich traf, ebenfalls. Es war ein Ost-Crashkurs für mich. Ich lernte, dass berufstätige Mütter in der DDR anders als im Westen nicht als "Rabenmütter" gesehen wurden, FKK eine natürliche Selbstverständlichkeit und keine Perversität war und dass der Ostberliner Plattenbau für modernen Komfort stand und nicht wie oft in der Bundesrepublik für sozialen Abstieg.

Besonders im Gedächtnis ist mir eine Veranstaltung mit der Schriftstellerin Daniela Dahn geblieben. Auf dieser sagte sie unter großem Beifall, was nütze das Recht des Westens, überall hinreisen zu können, wenn man dafür das Recht des Ostens auf einen garantierten Arbeitsplatz verloren habe. Ich war vollkommen überrascht, dass man auch so auf das Thema Freiheit schauen konnte.

Nie wurde ich als Wessi schroff oder unfreundlich empfangen. Im Gegenteil. Was auch daran gelegen haben könnte, dass ich verstehen und lernen wollte. Weil ich es unglaublich spannend fand. Und weil es ein guter Impuls war, die eigene westdeutsche Identität zu reflektieren.

Ich gebe zu: Mein Verständnis hat Grenzen. Wenn Menschen, die eigentlich freundlich und anständig sind, aus Frust und Trotz plötzlich den Hassparolen der AfD Gehör schenken. Wenn sie über Wessis schimpfen, aber dem Thüringer AfD-Chef Björn Höcke zujubeln, einem aus dem Westen stammenden ehemaligen Gymnasiallehrer, der darüber schwafelt, man müsse "die Wende vollenden".

Oder wenn sie mir erzählen, dass das "alles gar nicht so schlimm war in der DDR". Und damit nicht ihre persönlichen Erinnerungen, sondern das politische System meinen. Dann muss ich an die Kinder und Jugendlichen denken, die von der Stasi als Spitzel rekrutiert wurden, weil diese den eigenen Leuten misstraute.

Aber es wäre falsch, sich hinter dem eigenen Unverständnis zu verbarrikadieren. Vor fast genau 18 Jahren hat der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) im Bundestagswahlkampf die Wähler im Osten als "Frustrierte" beschimpft, die man nicht über das Schicksal Deutschlands bestimmen lassen könne. Dafür erntete er einen Sturm der Entrüstung; Angela Merkel hätte es fast die Wahl gekostet.

2024 wird in drei ostdeutschen Bundesländern ein neuer Landtag gewählt, in fünf finden Kommunalwahlen statt. Die Rechtspopulisten hoffen nicht ohne Grund auf Erfolge. Statt uns gegenseitig niederzubrüllen, müssen wir jetzt versuchen, die andere Seite besser zu verstehen. Denn im Gegensatz zur AfD ist das wirklich alternativlos. Ost und West werden einander nicht loswerden.

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Leider gibt es keinen politischen Oswalt Kolle, der mit dem Ziel der liebevollen Aufklärung den Wessis den Osten und den Ossis den Westen erklären könnte. Aber es gibt einen simplen Trick. Einfach mal selbst hinfahren. Mal durchs Erzgebirge wandern statt durch die österreichischen Alpen, mal an die Ostsee statt an die Nordsee, mal an der Mecklenburgischen Seenplatte campen statt in Bayern. In der Gaststätte, dem Einkaufsladen, den Leuten zuhören. Auch den vielen im Osten, die jeden Tag an doppelter Front kämpfen: gegen die Radikalisierung in ihrer Region und gegen die Vorurteile aus dem Westen. Das gilt natürlich auch umgekehrt.

Vielleicht würden wir dann hören, was die Menschen getrennt voneinander in der Bertelsmann-Studie angaben. Dass viele ältere Ostdeutsche die Anerkennung der friedlichen Revolution durch den Westen vermisst haben und bis heute vermissen. Und dass sich viele ältere Westdeutsche mehr Anerkennung für die Finanzierung der Einheit gewünscht hätten. Dass es Errungenschaften gab im Osten, die besser waren als im Westen. Die Polikliniken, das Angebot der Kinderbetreuung. Die aber oft zerschlagen wurden, weil nach der Wende alles, was aus dem Osten kam, erst einmal abgewertet wurde.

"Das Wunder der Liebe" heißt einer der erfolgreichsten Filme von Oswalt Kolle. Vielleicht muss es nicht gleich die ganz große Liebe sein. Ein bisschen mehr Neugier auf das, was eigentlich wirklich im anderen Teil des Landes passiert und gefühlt wird, wäre ein Anfang.


Was steht an?

Heute startet vor dem Heilbronner Landgericht der Prozess gegen einen Raser, dessen Rücksichtslosigkeit vermutlich einen 42-jährigen Familienvater das Leben gekostet hat. Im Februar war der damals 20-Jährige mit annähernd 100 Kilometern pro Stunde und damit mehr als doppelt so schnell wie erlaubt durch die Heilbronner Innenstadt gefahren. Dabei erfasste er den Familienvater, der mit seinem Wagen aus einer Grundstücksausfahrt fuhr. Der Mann starb, seine Ehefrau auf dem Beifahrersitz wurde schwer verletzt, die Kinder auf dem Rücksitz leicht. Die Anklage lautet auf Mord und versuchten Totschlag.


Nachdem eine Flugzeugpanne Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) zu einem ungeplanten Aufenthalt in Abu Dhabi zwang, sollte sie heute endlich am eigentlichen Reiseziel, in Australien, eintreffen. Doch vergangene Nacht gab es kurz nach Abflug ein zweites Mal Probleme an der Maschine. Vielleicht sollte sie künftig das tun, was sie schon 2022 angekündigt hatte: öfter mal Linie fliegen. Mein Kollege Patrick Diekmann sitzt mit Baerbock im Pannenflieger.


Auch für Spitzenpolitiker gibt es angenehme und unangenehme Termine. Der heutige Tag dürfte für Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eher zu ersteren gehören: Er ist in seinem Wahlkreis unterwegs, besucht unter anderem die Filmstudios Babelsberg und die Bonbonfabrik von Katjes.


Lesetipps

Er wollte das Richtige, tat aber das Falsche: Warum die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Herrenchiemsee der AfD in die Hand spielt. Eine Analyse von Liane Bednarz.

Es ist ein beispielloser Absturz in der Welt der Superreichen: Mein Kollege Martin Küper beschreibt den Aufstieg der Chinesin Yang Huiyan zu einer der jüngsten Milliardärinnen der Welt – und warum ihrer Firma jetzt die Pleite droht.

Die Stadt Kronberg in Hessen leidet unter Wassermangel. Weil die Reichen ihre Pools und Gärten zu großzügig bewässern, behaupten einige Einwohner. Ist das wirklich so? Mein Kollege Jannis Holl hat vor Ort recherchiert.


Ohrenschmaus

Happy Birthday, Adel Tawil! Der Berliner Popsänger feiert heute seinen 45. Geburtstag. Hier ein älterer Song, als er als Teil des Duos "Ich + Ich" auftrat.


Zum Schluss

Die gute Nachricht zuerst: Eine neue Studie der "Harvard Medical School" hat ergeben, dass Sie nicht 10.000 Schritte pro Tag gehen müssen, um Ihr Risiko für Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen zu verringern; 4.000 sind genug. Und nun die schlechte: DIESE Aktivität reicht nicht aus.

Kommen Sie mit viel Schwung durch die Woche! Morgen schreibt an dieser Stelle meine Kollegin Camilla Kohrs für Sie.

Ihre Miriam Hollstein
Chefreporterin im Hauptstadtbüro von t-online
Twitter: @HollsteinM

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Mit Material von dpa.

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