Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Deutschland erlebt historische Ausnahmesituation
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Und dann schnell zu den Themen des Tages. Wobei, vielleicht heute gar nicht mal so schnell. Denn ich habe den Eindruck, dass uns allen miteinander etwas Ruhe guttäte. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich für meinen Teil stelle eine gewisse Dünnhäutigkeit bei vielen Zeitgenossen fest: Irgendwie scheinen mehr Leute als früher gereizt, genervt oder gestresst durch den Alltag zu huschen. Als Bewohner zweier Großstädte bin ich selbst keine Ausnahme: überall Lärm, ständig Stau, überfüllte Plätze und Bahnen, irgendwer kommt einem immer in die Quere und man selbst immerzu zu spät. So rennt man von morgens bis abends gegen die Uhr, und wenn man nach einem turbulenten Tag ermattet ins Sofa sinkt, quellen aus dem Fernseher ohne Ende schlechte Nachrichten: brutale Kämpfe in der Ukraine, der Klimawandel jetzt noch schlimmer, Tod hier und Teufel da. Kein Wunder, dass viele Menschen das Verlangen verspüren, sich ins private Schneckenhaus zurückzuziehen und die dröhnende Welt draußen auszublenden.
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Womöglich empfinden Sie meine Beschreibung als anekdotisch, aber sie gründet in einer historischen Logik. Was wir derzeit erleben, ist tatsächlich außergewöhnlich. Seit der Ölkrise vor 50 Jahren hat es hierzulande etwa alle vier bis sieben Jahre eine mehr oder weniger tiefgreifende Krise gegeben – dazwischen aber jeweils Erholungsphasen, in denen die Gesellschaft sich sammeln, die Wirtschaft Kraft schöpfen und die Politik sich beruhigen konnte. Denken Sie nur an die letzten großen Krisen: Zwischen dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000, der Weltfinanzkrise 2008, der Flüchtlingskrise und der Terrorgefahr 2015 sowie der Corona-Krise 2020 lagen jeweils Jahre der Ruhe und des Aufschwungs.
Das ist jetzt anders: Das Krisenerlebnis hat sich vom Ausnahme- zum Dauerzustand gewandelt. Nach der Pandemie hat uns sofort der Kriegsschock ereilt, mit all seinen Folgen: der Erschütterung über das Leid der Ukrainer, der Furcht vor einer atomaren Eskalation, der am Wohlstand nagenden Inflation, den hohen Preisen für Gas, Strom, Brot und vieles mehr. Wer sich da noch den Wunschurlaub leisten kann, gehört schon zu den Glücklicheren. Nicht zu vergessen die größte aller Katastrophen, in die wir mehr oder weniger ungebremst hineinschlittern: Der Glutsommer in Südeuropa gibt uns eine Ahnung davon, vor welche Herausforderungen die Erderhitzung uns noch stellen wird. So ist die Polykrise zum Dauerzustand geworden, der uns alle vollumfänglich herausfordert: politisch, ökonomisch, gesellschaftlich und jeden Einzelnen auch mental.
Die Folgen dieses Krisensturms sind im Digital News Report der Nachrichtenagentur Reuters dokumentiert: Immer mehr Menschen fühlen sich überfordert, empfinden eine "News-Müdigkeit" oder lesen schon gar keine Nachrichten mehr. Die Weltflucht als Notbremse vor dem kollektiven Burnout.
Dabei sind Mut, Gestaltungskraft und Solidarität gerade jetzt nötiger denn je. Wie also lässt sich die viel beschworene Resilienz erlangen? Vielleicht durch einen Perspektivwechsel: indem wir erkennen, dass wir keine Ausnahmesituation erleben, sondern uns global betrachtet eher einer Normalisierung annähern. In anderen Weltregionen herrscht schon seit Jahrzehnten das, was wir Krisen nennen – sei es in Afrika oder Lateinamerika, in Asien oder Teilen Osteuropas. In Westeuropa hingegen haben wir in den vergangenen Jahren eine historische Ausnahmesituation genossen: Sicherheit, Unbeschwertheit und relativer Wohlstand für (fast) alle erschienen selbstverständlich. Dabei war unsere Insel der Glückseligen in weltgeschichtlicher Dimension betrachtet ein außergewöhnlicher Sonderfall. Und es wäre noch ungewöhnlicher, bliebe dieser dauerhaft erhalten.
Wer diese historische Binsenweisheit akzeptiert, ändert seine Haltung: Akzeptanz schafft Freiheit. Wer den permanenten Stress ablegt, der aus Verunsicherung und Verlustängsten resultiert, kann Kraft für die Suche nach neuen Lösungswegen schöpfen. Dabei hilft es, große Probleme in viele kleinere zu portionieren, um sie beherrschbar zu machen. Und sich auch über kleine Erfolge zu freuen, statt immer nur zu bemängeln, was alles nicht funktioniert. Wer konstruktiv denkt, hat mehr Energie und obendrein bessere Laune.
Das wäre etwas, worüber es sich in den Sommerwochen nachzudenken lohnt. In den meisten Bundesländern haben die Ferien begonnen, der Alltag wird gemächlicher, die Uhren drehen langsamer. Etwas Ruhe kann allen helfen, ob im Ausland, in Balkonien oder im Park. Und wer nun immer noch nervös mit dem Handy rumhibbelt, wird durch diesen Ohrenschmaus garantiert beruhigt.
Bild des Tages
Bildschön: Was die ukrainischen Synchronschwimmerinnen bei den Weltmeisterschaften in Japan zeigen, begeistert Fans in aller Welt.
Hunger als Waffe
Putin ist der Zynismus in Person: Mit kalter Berechnung hat der Kremlchef das Abkommen zum Export von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer gestoppt. "Das betrifft ärmere importierende Länder besonders, da sie die steigenden Preise schlechter zahlen können und ohnehin von Hunger betroffen sind", erklärt die Entwicklungsexpertin Bettina Rudloff im Gespräch mit meiner Kollegin Marianne Max. Annalena Baerbock wird Putins Erpressungsversuche bei ihrem Besuch in der New Yorker UN-Zentrale anprangern – und für eine Änderung des Völkerrechts plädieren: Der russische Präsident soll für seine Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden. Unser Reporter Patrick Diekmann begleitet die Außenministerin und erklärt Ihnen, wie realistisch Baerbocks Forderung ist.
Israel steht auf
Die politische Krise in Israel verschärft sich: Die rechts-religiöse Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu treibt den antidemokratischen Umbau des Justizsystem trotz massiver Widerstände voran. Die Organisatoren der seit Monaten andauernden Demonstrationen wollen ihren Protest deshalb verstärken: Heute sind wieder landesweit Kundgebungen geplant. In Washington empfängt derweil US-Präsident Joe Biden den israelischen Präsidenten Izchak Herzog, der sich um einen Ausweg aus der Krise bemüht.
Spannungen im Nadelöhr
Das US-Militär verstärkt seine Präsenz in der Golfregion. Als Reaktion auf eine Reihe "besorgniserregender Ereignisse" in der für den Welthandel strategisch wichtigen Straße von Hormus hat US-Verteidigungsminister Lloyd Austin die Entsendung eines Zerstörers sowie mehrerer Kampfjets angeordnet.
Kleiner Ort, große Bedeutung
Zigtausende Kinder sterben jedes Jahr am Dengue-Fieber, bis zu 100 Millionen Menschen erkranken daran. Umso bedeutender ist die Eröffnung eines Werks für die Produktion des neuen Dengue-Impfstoffs in Singen nahe dem Bodensee: Weltverbesserung made in Germany.
Lesetipps
Hitzerekorde, Waldbrände, Sturzfluten: Die USA erleben einen Katastrophensommer. Die Klimakrise schlägt immer brutaler zu, berichtet unser Korrespondent Bastian Brauns.
Putin will das altrussische Imperium wiederherstellen. Er ist aber nicht der einzige gefährliche Revisionist, warnt der Historiker Jörn Leonhard im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke.
In Deutschland dreht sich alles um die finanziell Schwachen. Gutverdiener werden zu wenig beachtet, meint einer unserer Leser.
Wer sind die größten deutschen Sportler aller Zeiten? Hier dürfen Sie abstimmen.
Zum Schluss
Ganz Deutschland sehnt sich nach Ruhe.
Ich wünsche Ihnen einen ruhigen Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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