Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Ein Scheitern, das seinen Namen trägt
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wie würden Sie am liebsten Ihren 80. Geburtstag feiern? Idealerweise stelle ich ihn mir so vor: Ich sitze gemütlich mit lieben Menschen zusammen, stoße mit einem Crémant auf gute Jahre an – oder was auch immer man 2066 so trinkt – und blicke dankbar auf die ein oder andere Lebensleistung zurück.
Ob Walter Riester es an seinem 80. Geburtstag diesen September ähnlich hält? Daran lässt sich zumindest zweifeln. Immerhin könnte sein bekanntestes Lebenswerk, die nach ihm benannte Riester-Rente, bis dahin in Trümmern liegen.
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Über Abriss oder Sanierung entscheidet in diesen Tagen eine sogenannte Fokusgruppe aus Regierungsvertretern, Verbraucherschützern, Gewerkschaftern, Versicherern und Fondsanbietern. Seit Monaten beschäftigt sie die Frage, wie die Ampelkoalition die private Altersvorsorge in Deutschland reformieren kann. Nun soll bald der Abschlussbericht erscheinen. Es könnte der Startschuss für ein komplett neues System sein. Und das wäre auch bitter nötig.
Denn die Riester-Rente ist nur auf den ersten Blick ein Erfolgsmodell. Erdacht im Zuge der Rentenreformen 2002 sollte die staatlich geförderte Vorsorge Geld für die Bürger reinholen, das sie bei der gesetzlichen Rente einbüßen, weil das Rentenniveau sinkt. Bis heute vertrauen viele diesem Versprechen: 15,9 Millionen Riester-Verträge gab es Ende 2022 in Deutschland. Eine ehrenwerte Zahl. Doch Masse allein ist kein Qualitätsmerkmal.
Tatsächlich wird in fast jeden fünften Riester-Vertrag gar nichts mehr eingezahlt, nur noch knapp zehn Millionen Sparer rufen die staatlichen Zulagen ab. Und selbst wenn die staatliche Förderung fließt, führen hohe Abschluss-, Vertriebs- und Verwaltungskosten dazu, dass die Rendite deutlich sinkt. Nützlich ist die Riester-Rente vor allem für die Versicherer, nicht für die Arbeitnehmer.
Das haben auch SPD, Grüne und FDP erkannt und das Wort "Riester" immerhin zweimal in ihren Koalitionsvertrag geschrieben. Dort heißt es: Die Regierungskoalition werde "die gesetzliche Anerkennung privater Anlageprodukte mit höheren Renditen als Riester prüfen". Und: "Es gilt ein Bestandsschutz für laufende Riester-Verträge."
Wer schon einen Vertrag hat, soll diesen also fortführen können. Für alle anderen liegen im Wesentlichen drei Vorschläge auf dem Tisch: die Bürgerrente der Versicherer, die Extrarente der Verbraucherzentrale und das Fondsdepot der Fondsanbieter. Je nachdem, zu welcher Empfehlung die Fokusgruppe kommt, könnte tatsächlich vieles besser werden – oder alles so schlecht bleiben, wie es ist.
Kaum etwas gewonnen wäre mit dem Vorschlag des Gesamtverbands der Versicherer. Zwar könnten mehr Menschen die Bürgerrente nutzen als die Riester-Rente und dort höhere Beträge einzahlen, aber die Versicherer würden an den staatlichen Zulagen sogar noch mehr verdienen als im jetzigen System. Zudem blieben die Kosten hoch: Auch die Bürgerrente soll weiter über Versicherungsvertreter und Makler vertrieben werden – mit oft hohen Provisionen.
Deutlich besser wäre es, wenn sich die Verbraucherschützer mit ihrer Extrarente durchsetzten. Dann könnten die Bürger freiwillig einen Teil ihres Bruttogehalts über einen vom Staat eingesetzten Träger langfristig und breit gestreut in Aktien anlegen lassen. So wären hohe Renten bei geringem Risiko möglich. Ein Modell, wie es beispielsweise Schweden mit seiner Garantierente schon seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziert.
In eine ähnliche Richtung geht der Vorschlag des Bundesverbands Investment. Bürger sollen ein Fondsdepot führen, das mindestens bis zum 60. Lebensjahr laufen muss. Dabei wird vom Gewinn jedes Jahr ein größerer Teil steuerfrei gestellt. Die staatliche Förderung wäre also umso größer, je länger Sparer dabeiblieben. Das erhöht die Chance, dass sie das erwirtschaftete Geld tatsächlich erst im Rentenalter nutzen. Ein guter Ansatz, der allerdings teurer wäre als der staatliche Fonds. Auch verlangt er den Bürgern Wissen übers Investieren ab.
Wer das hat, ist auf eine Reform der Riester-Rente ohnehin nicht angewiesen. Er dürfte längst an seiner eigenen Zusatzrente basteln – mit einem Sparplan auf einen weltweiten Aktien-ETF (wie das funktioniert, lesen Sie hier). Trotzdem ist es richtig, all jenen ein Angebot zu machen, die es nicht schaffen, sich in die Materie hineinzufuchsen, oder die es schlicht bequem haben möchten. Nur sollte die private Altersvorsorge dann eben auch wirklich etwas bringen.
Sobald die Ergebnisse der Fokusgruppe vorliegen, ist es Aufgabe der Ampelkoalition, eine Reform zu erarbeiten und umzusetzen. Die Koalition täte gut daran, mutig zu sein und die deutsche Scheu vor Aktien auch bei der privaten Altersvorsorge zu überwinden. Schließlich feiert sich jeder Geburtstag im Alter umso beschwingter, wenn er nicht von Geldsorgen überschattet wird.
Was steht an?
Habemus Heizungsgesetz? Noch nicht ganz. An diesem Montag muss der frisch geänderte Entwurf erst den Klima- und Energieausschuss des Bundestages passieren. Das Parlament soll das Gesetz dann im Laufe der Woche verabschieden – wenn das Verfassungsgericht nicht noch bremst. Denn dort liegt die Klage eines CDU-Abgeordneten, dem es mit dem Gesetz nun alles zu schnell geht. Kann man sich nicht ausdenken.
Weitergehen könnte auch die Diskussion um eine Aussage von SPD-Chef Lars Klingbeil. In einem Interview mit der "Bild am Sonntag" hatte er angekündigt, dass seine Partei für eine Erhöhung des Mindestlohns auf bis zu 14 Euro pro Stunde kämpfen werde. Die Mindestlohnkommission hatte eine Anhebung ab 2024 um 41 Cent auf 12,41 Euro vorgeschlagen. Aus der FDP kam bereits Kritik an einem stärkeren Plus.
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Ohrenschmaus
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Herzliche Grüße
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Christine Holthoff
Redakteurin Finanzen
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Mit Material von dpa.
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