Tagesanbruch Da kommt was auf uns zu
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
"Führung und Verantwortung" heißt das Buch, das Christoph Heusgen heute in Berlin vorstellt. Früher war er Angela Merkels wichtigster außenpolitischer Berater; er lotste die Kanzlerin durch viele Bedrängnisse, von der Weltfinanzkrise über Putins Krim-Annexion bis zum Syrienkrieg und der Flüchtlingskrise. Nun ist er Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, dem bedeutendsten Forum für Sicherheitsfragen, das am Freitag beginnt. Staatschefs, Minister und Generäle aus aller Welt reisen an, die amerikanische Vizepräsidentin und natürlich der Bundeskanzler.
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Sucht man jemanden, mit dem man über das Minenfeld internationaler Konflikte reden möchte, gibt es also kaum einen besseren Gesprächspartner als Christoph Heusgen. Umso neugieriger waren mein Kollege Marc von Lüpke und ich auf seine Einschätzungen zu Putins Krieg und dem Krisenmanagement der Ampelkoalition. Es ist ein interessantes Interview geworden, in dem zwei Sätze hervorstechen: "Europa ist nicht so schwach, wie manche meinen", lautet der eine, "Deutschland ist eine Enttäuschung" der andere. Ein Widerspruch? Leider nicht, aber lesen Sie selbst.
Oder nein, Moment, bevor Sie weiterspringen, schenken Sie mir bitte noch ein paar Minuten Ihrer Zeit. Ich möchte Sie auf eine Reise mitnehmen. Nicht an einen anderen Ort, sondern in eine andere Zeit: in die Zukunft. Tagtäglich beschäftigen wir uns ja mit den gegenwärtigen Krisen – dem Krieg, dem Klima, der Inflation und einigem mehr. So tief stecken wir alle mit dem Kopf im Krisenschlamassel, dass wir den großen Überblick verloren haben: Ist das, was wir da gerade erleben, ein Sturm, der zwar an Heftigkeit zunimmt, aber berechenbar bleibt? Sind das die Herausforderungen, denen wir in Zukunft einfach noch viel heftiger ausgesetzt sein werden – noch mehr Konflikte zwischen Diktaturen und Demokratien, noch mehr Wetterkapriolen, noch höher steigende Preise? Oder kommt da noch ganz anderes auf uns zu? Liest man die täglichen Schlagzeilen und hört viele Politiker reden, mag man Ersteres glauben.
Höchste Zeit also, den Kopf zu heben und den Blick in die weitere Zukunft zu richten. Bis ins Jahr 2030 zum Beispiel. Niemand ist ein Hellseher, auch ein Tagesanbruch-Autor nicht, aber es gibt kluge Köpfe, die viel Zeit damit verbringen, ein realistisches Szenario dessen zu entwerfen, was die Menschheit in sieben Jahren erwarten wird. Zum Beispiel die Strategen, Ökonomen und Geheimdienstler, die dem amerikanischen Director of National Intelligence zuarbeiten und die Sicherheitsstrategien der Vereinigten Staaten formulieren. In Deutschland zanken sich Politiker ja seit Jahren, ob es einen Sicherheitsrat und eine nationale Sicherheitsstrategie braucht, und falls ja, wer darinsitzen und wer sie formulieren darf. Kanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock haben sich in dem Streit so sehr verhakt, dass der gesamte Prozess zu scheitern droht.
Die Amerikaner sind da längst viel weiter, weil sie keine moralisierende "wertegeleitete Außenpolitik" betreiben, sondern schlicht Interessenpolitik. Dafür leisten sie sich ein Heer an Spezialisten, das permanent die Zeitläufte analysiert und Schlüsse daraus zieht. Praktisch dabei: Weil die USA eine Demokratie sind, stellen sie viele ihrer Erkenntnisse ins Internet. Man muss also nicht lange suchen, um herauszufinden, was einige der gescheitesten Köpfe Amerikas für das Jahr 2030 erwarten. Es steht in einem frei zugänglichen Bericht mit dem Titel "Global Trends 2030: Alternative Worlds".
"Die Welt des Jahres 2030 wird sich radikal von unserer heutigen Welt unterscheiden", ist dort zu lesen. Zwar werde Asien dann ökonomisch mächtiger und politisch einflussreicher sein – während Amerika, Europa und Russland sich im wirtschaftlichen Niedergang befänden. Aber: "2030 wird kein Land – weder die USA noch China noch jeder andere Staat – eine Hegemonialmacht sein." Stattdessen würden informelle Netzwerke aus Einzelpersonen, Firmen und Organisationen dominieren. Grund seien digitale Technologien und der Aufstieg von Milliarden Menschen aus der Armut in die Mittelschicht. Was einerseits die Hoffnung auf innovative Ideen, Eigeninitiative und weniger Macht für brutale Diktatoren keimen lässt. Und andererseits die Angst vor zerstörerischen Technologien in der Hand einzelner Personen schürt, sei es eine Massenvernichtungswaffe oder eine künstliche Intelligenz.
Ein weiterer "Megatrend" kommt den Experten zufolge hinzu: die rapide Zunahme des weltweiten Durchschnittsalters. Nicht nur bevölkern immer mehr Zweibeiner den Planeten, sie leben auch immer länger. Das führe zu großen Migrationsströmen in die wohlhabenden Länder, schnell wachsenden Metropolen und Verteilungskonflikten um Wohnraum, Wasser, Lebensmittel.
Womit wir beim dritten Megatrend sind: der zunehmenden Knappheit lebensnotwendiger Ressourcen. Der Bedarf an Nahrung, Trinkwasser und Energie werde im Vergleich zu heute um bis zu 50 Prozent steigen – während zeitgleich Dürren weite Teile des Globus austrocknen. Nicht nur in Afrika, Asien und dem Nahen Osten, sondern auch in Europa werden die Folgen den Experten zufolge massiv zu spüren sein. Es könnte der Tag kommen, an dem auch aus deutschen Wasserhähnen mal nichts mehr fließt.
Aber damit genug der düsteren Prophezeiungen und zurück ins Hier und Heute. Denn selbst der klügste Experte kann die Zukunft zwar erahnen, zum Glück aber nicht exakt vorhersagen. Ob die Menschheit die gewaltigen Herausforderungen in den Griff bekommt oder nicht, liegt an uns. Dazu müssen wir allerdings den Kopf heben und uns stärker mit den globalen Megatrends beschäftigen, statt nur über die Probleme von heute zu sprechen. Führung und Verantwortung sind dabei sicher hilfreich.
So ein Theater!
Was ist an den Theatern los? In Zürich haben die Intendanten ihr Publikum mit moralinsauren Wokeness-Debatten vergrätzt. In München laufen die Leute den Kammerspielen in Scharen davon. In Berlin planen linke Aktivisten die Besetzung der Volksbühne, um den missliebigen Intendanten loszuwerden. Und nun auch noch ein Skandal in Hannover: Dort hat das Staatstheater den Ballettchef rausgeworfen, nachdem er einer Kritikerin Hundekacke ins Gesicht gedrückt hatte. "Eine unentschuldbare Tat", kommentiert unser Hannover-Reporter Patrick Schiller. "Rezensionen sind nicht immer fair. Doch selbst wenn ein Stück vom Kritiker zerrissen wird, darf das niemals ein Grund sein, Journalisten anzugreifen oder zu erniedrigen."
Zu Recht ist die Attacke mit Rauswurf und Hausverbot bestraft worden. Vielleicht ist sie aber auch der Gipfel einer aufgestauten Wut an vielen Theatern: Schauspieler, Tänzer, Sänger, Regisseure, Bühnenbildner und -arbeiter haben heftiger unter den Corona-Lockdowns gelitten als Arbeiter in vielen anderen Branchen. Und anders als Gastronomen leiden sie noch immer: Viele Theater, Opernhäuser und Ballettsäle bleiben halb leer, das Publikum kommt einfach nicht zurück. Es scheint so, als hätten sich viele Leute während Corona von der Live-Kultur entwöhnt: Streaming statt Theater, Fernsehen statt Ballett. Vor allem ernste Stoffe kommen vielerorts kaum noch an. Wenn Kritiker die Darbietungen dann auch noch mit spitzer Feder sezieren, sieht mancher rot. Dann kann schon eine schlechte Rezension oder eine übelgelaunte E-Mail eines Zuschauers ein ganzes Theater in die Sinnkrise stürzen.
Was folgt daraus? Natürlich Strafe für den Täter und Solidarität mit der angegriffenen Journalistin. Aber auch die Aufforderung an uns alle, endlich wieder öfter ins Theater, Ballett oder die Oper zu gehen und den Künstlern zu zeigen, was sie uns wert sind. Denn ohne sie wäre das Leben viel ärmer.
Ein Guggenheim für Ostdeutschland
Es ist ein in jeder Hinsicht ambitioniertes Projekt: 200 Millionen Euro will der Bund für ein "Zukunftszentrum Deutsche Einheit und Europäische Transformation" ausgeben, das die Verwerfungen seit dem Mauerfall sichtbar machen, Forschungs-, Begegnungs- und Ausstellungsstätte in einem sein soll. Für das Gebäude schwebt dem ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck eine Architektursprache vor, "die sich mindestens am Guggenheim in Bilbao oder am Freiheitsmuseum in Danzig messen lassen kann". Eine Million Besucher jährlich werden nach der Eröffnung 2028 erwartet. Bleibt nur die Frage, wo das Schmuckstück stehen soll. Beworben haben sich das Duo Leipzig und Plauen, außerdem Halle, Jena, Eisenach und Frankfurt an der Oder. Um 15 Uhr will die Jury ihre Entscheidung verkünden.
Verteidigungsfront gegen Putin
Liefert die Nato doch noch Kampfjets an die Ukraine? Der Generalsekretär der westlichen Militärallianz, Jens Stoltenberg, wollte das gestern nicht ausschließen – und rechnet damit, dass das Thema beim heute beginnenden Treffen der Nato-Verteidigungsminister in Brüssel zur Sprache kommt. Zunächst aber mahnt der Norweger die Bündnispartner zur Eile bei der Lieferung bereits zugesagter Waffen: "Geschwindigkeit wird Leben retten", meinte Stoltenberg mit Blick auf die erwartete russische Offensive zum Jahrestag des Kriegsbeginns am 24. Februar. Morgen steht dann die Stärkung der Nato-Ostflanke auf der Agenda: Geplant ist, die Zahl der Soldaten in hoher Einsatzbereitschaft von 40.000 auf 300.000 zu erhöhen. Die Bundeswehr soll dabei eine große Rolle spielen – wenn sie denn dazu in der Lage ist.
Premiere in Asien
Noch nie war ein Bundespräsident oder ein Bundeskanzler in Kambodscha. Frank-Walter Steinmeier ändert das: Zum Auftakt einer mehrtägigen Südostasien-Reise wird er heute in Siem Reap erwartet, wo er ein Minenräumprojekt und die Tempelanlage Angkor Wat besucht. Weitere Stationen sind Phnom Penh und Malaysia, wo es um Wege aus der Klimakrise geht.
Was lesen?
"Eine Partei schafft sich ab", hat unser Reporter Tim Kummert seinen Text überschrieben. Sie ahnen vielleicht, wen er meint.
Der ehemalige Fifa-Boss Sepp Blatter gehört zu den umstrittensten Persönlichkeiten im Weltfußball. Meine Kollegen Melanie Muschong und Andreas Becker haben ihn nach seinen Verfehlungen gefragt – und harte Worte über Amtsnachfolger Infantino gehört.
Bayern München gegen Messi mit Paris: Das wird ein Champions-League-Kracher heute Abend! Zur Vorbereitung hat sich unser Reporter Julian Buhl von Weltmeister Bixente Lizarazu erklären lassen, welches Team einen Vorteil hat.
Braucht es die Wehrpflicht wieder? Zwei Ex-Soldaten erklären im Interview mit meinen Kollegen Mario Thieme und Nicolas Lindken, was dafür und was dagegen spricht.
Was amüsiert mich?
Die Berliner Grünenchefin hat die Qual der Wahl.
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Valentinstag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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