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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ex-Fifa-Boss Blatter "Sepp, du hast ein Monstrum geschaffen"
Sepp Blatter war viele Jahre lang Präsident des Weltfußball-Verbandes Fifa. Im Interview mit t-online spricht er über seine Erfahrungen – und attackiert seinen Nachfolger.
Er ist ein streitbarer Charakter und war lange Zeit der mächtigste Mann im Weltfußball: Sepp Blatter, von 1998 bis 2015 Präsident der Fifa und zuvor bereits in anderen Positionen beim Weltverband dem beliebtesten Sport insgesamt fast ein halbes Jahrhundert lang eng verbunden.
Seine Amtszeit wurde von diversen Skandalen und Negativschlagzeilen überschattet, von Vorwürfen der gekauften Weltmeisterschaft in Katar bis zu Gerichtsverfahren. Blatter war einer, der mit seiner Art und Amtsführung, mit seinen Visionen für den Fußball polarisierte – und dies bis heute tut.
Als die t-online-Reporter den 86-jährigen Schweizer zum Interview treffen, wirkt er anfangs zurückhaltend. Doch dann taut er auf und formuliert bemerkenswerte Sätze: über die umstrittene WM in Katar, über seine eigenen Verfehlungen, über die Lage im Fußball – und über seinen umstrittenen Amtsnachfolger Gianni Infantino.
t-online: Herr Blatter, schauen Sie eigentlich selbst noch Fußball oder haben Sie wie viele Fans den Spaß daran verloren?
Sepp Blatter: Ich schaue nicht nur Fußball, ich lebe mit dem Fußball. Schon als Bub habe ich mich für Fußball interessiert, als mein Vater noch in einer kleinen Provinzmannschaft als Verteidiger spielte. Später war ich ab Ende 1974 in der Fifa, hatte damals nur einen Handshake-Vertrag mit dem damaligen Präsidenten João Havelange geschlossen. Bis man mich im Jahr 2015 mehr oder weniger höflich aus der Fifa begleitet hat – nach 41 Jahren.
Wie haben Sie die umstrittene WM in Katar verfolgt?
Ich habe sie täglich verfolgt, habe zu Hause eine Art eigenes Stadion, mit einem sehr großen Fernseher. Eine bis zum Schluss spannende WM mit einem perfekten Ausgang. Die Argentinier hatten mit dem Papst als ihrem größten Fan ja auch göttlichen Beistand.
Rund um die Entscheidung für Katar und um die WM selbst gab es eine Menge Kritik, dabei fiel auch Ihr Name immer wieder, denn Sie waren damals Fifa-Präsident. Wie groß war Ihr Anteil an der Vergabe-Entscheidung?
Es war ja nicht meine persönliche Entscheidung, nach Katar zu gehen. Nachdem wir beschlossen hatten, im Jahr 2010 zwei Weltmeisterschaften auf einmal zu vergeben, war mein Wunsch, dass das Turnier 2018 zurück nach Europa geht (nachdem es 2010 in Südafrika und 2014 in Brasilien stattgefunden hatte, Anm. d. Red.). Danach wäre Nordamerika dran gewesen. Das war ein Gentlemen's Agreement, das nicht schriftlich festgehalten, aber mit dem Exekutivkomitee besprochen war. Eine Woche vor der Entscheidung hatte dann eines unserer Mitglieder, Michel Platini (damals Uefa-Präsident, Anm. d. Red.), eine Bitte vom französischen Staatspräsidenten Sarkozy bekommen, dass er wohl aus wirtschaftlichen Gründen für Katar stimmen solle. Das haben er und drei seiner Mitläufer dann auch getan.
Also verstehen wir das richtig: Die Politik hat entschieden, was im Fußball damals passiert ist. Das war dann aber doch Schiebung, und zwar unter Ihrer Präsidentschaft.
Der Vorwurf der Schiebung kam erst im Nachhinein. Für mich gab es sie nicht, weil ich es nicht wusste, und es nicht gesehen habe. Ich war enttäuscht, dass ich das Exekutivkomitee nicht davon überzeugen konnte, mit der WM in die USA zu gehen. Katar war für mich als Land zu klein für eine Weltmeisterschaft. Das ist die größte Sportveranstaltung der Welt, sie hat einen höheren Stellenwert als Olympia. Dazu kam dann noch das Klima in Katar. Der Fußball hat bewiesen, dass der Stellenwert der WM unverändert hoch bleibt – unabhängig davon, wo und wann die Endrunde gespielt wird.
Hätten Sie daraus dann nicht Konsequenzen ziehen müssen?
Der Fifa-Kongress hat später unter meiner Führung entschieden, dass nicht mehr nur das Exekutivkomitee bei einer WM-Vergabe über den Austragungsort entscheidet, sondern der ganze Kongress (die Versammlung aller 211 Nationalverbände, die Mitglied in der Fifa sind, Anm. d. Red.) am Ende die Entscheidung fällt.
Der Fifa-Präsident war also machtlos? Das ist doch unglaubwürdig.
Er war nicht machtlos, aber er musste den Entscheid der Exekutive mittragen. Die Vorverurteilungen gegen meine Person kamen durch die Intervention der USA, nachdem sie die Weltmeisterschaft nicht bekommen hatten. Sie haben geschaut, wer in der Fifa schuld daran ist – und dann kamen sie auf Blatter. Als dann herausgekommen ist, dass auch noch Geld geflossen sein soll vor der Vergabe, wurde ich direkt vorverurteilt. Bei mir galt interessanterweise nie die Unschuldsvermutung.
Sie haben in einem ZDF-Interview gesagt, dass Sie in Bezug auf die Korruptionsvorwürfe "nicht weggeschaut, aber auch nicht besonders hineingeschaut" hätten. Hätten sie nicht genauer hinschauen müssen?
Bin ich moralisch verantwortlich für meine Mitglieder, die ich nicht mal selbst bestimmt habe?
Aber Sie waren zu der Zeit der Präsident der Fifa.
Ich war der Coach einer Mannschaft, die ich nicht bestimmt habe.
Sie sehen sich also nicht in der Verantwortung?
Ich persönlich lebe nach den Prinzipien meines Vaters: Ich nehme nur Geld, das ich auch verdient habe, und ich zahle meine Schulden. Man hat versucht, juristisch zu beweisen, dass Geld geflossen sein soll. Dafür kann ich keine Verantwortung übernehmen.
Sie meinen damit also, weil man Ihnen juristisch nichts nachweisen konnte, seien Sie nicht verantwortlich. Wie ist Ihre Amtszeit als Fifa-Präsident also rückblickend zu bewerten?
Meine Amtszeit sollen die bewerten, die jetzt in der Fifa sind. Angefangen mit den Spielern, den Klubs und den Ligen. Worauf ich allerdings sehr stolz bin, ist, dass wir auch durch unsere Entwicklungsprogramme dafür gesorgt haben, dass der Fußball inzwischen auf der ganzen Welt organisiert ist.
Und was bereuen Sie?
Wir haben versucht, den Fußball zu schützen. Aber nachdem er sich sozial-kulturell entwickelt hat, ist er plötzlich auch wirtschaftlich groß geworden. Besonders als die TV-Sender weltweit festgestellt haben, wie viel Show und wie viele Möglichkeiten das Spiel bietet. Denn anders als in einer griechischen Tragödie kennt man den Ausgang eines Fußballspiels nicht. Das hat das große Geld und viele neue Sponsoren in den Fußball gebracht. Mein Vorgänger João Havelange sagte zu mir: "Sepp, tu as créé un monstre." Sepp, du hast ein Monstrum geschaffen. Aber das ist kein Monster, das ist der heutige Fußball.
An der Entstehung dieses Monsters haben Sie doch aber mitgewirkt.
Eigentlich schon, aber das sehe ich anders. Wir haben versucht, dem entgegenzuwirken, etwa mit einer Lohnobergrenze, also den "Salary Cap" einzuführen, den es so schon im US-Sport gibt. Aber uns ist das nicht gelungen, genauso wie die "Sechs-plus-Fünf"-Regel einzuführen. Das hätte bedeutet, dass ein Klub zu Beginn eines Spiels sechs einheimische und nur noch fünf ausländische Spieler aufstellen darf. Das sollte für ein besseres Gleichgewicht in den Ligen sorgen. Die EU-Politiker haben es jedoch gestoppt, weil es gegen das Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer verstoßen hätte. Sie haben unseren Vorstoß damit gestoppt – und mir nahegelegt, dass es sich um die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft handelt.
Und was finden Sie heute an der Fifa kritikwürdig?
Mir gefällt das Schiedsrichterwesen nicht. Mit der Einführung des Videoschiedsrichters hat man die eigentliche Aufgabe des Schiedsrichters stark eingeschränkt. Zudem finde ich es schwierig, weil weltweit nur in einem Prozent diese Technologie verwendet werden kann, so entsteht eine Zweiklassengesellschaft. Auch die Vermehrung sowohl der Klub- als auch der Nationalmannschaftswettbewerbe ist nicht förderlich. Der Fußball nimmt so immer mehr Platz ein, das führt zu Unstimmigkeiten mit anderen Sportarten. Zudem gibt es die Veränderungen im Personalsektor der Fifa.
Was meinen Sie?
Ein Beispiel: Solange ich die Weltmeisterschaften mitorganisiert habe, wurde das Personal richtig ausgerüstet und in Hotels untergebracht. Jetzt, in Katar, wurden sie in Unterkünften der zweiten Kategorie untergebracht, wo noch nicht mal jedes Zimmer eine eigene Dusche hatte. Sie wurden als Mittelklasseleute behandelt. Die Leute hatten nicht mal einen Fifa-Anzug, bekamen stattdessen einen Adidas-Trainingsanzug.
Das Fifa-Personal ist unzufrieden, sagen Sie. Sie haben also noch enge Kontakte in die Fifa?
Ja, sicher habe ich die.
Werden Sie noch oft nach Ihrer Meinung gefragt?
Ja, über Fußball schon. Über weitere Themen und meine Kontakte rede ich nicht.
Wie bewerten Sie die Arbeit Ihres Nachfolgers Gianni Infantino?
Ihm geht es in erster Linie nur um Geld, davon will er immer mehr machen. Aber Fußball ist eben nicht nur Geld. Wenn man an der Spitze steht, muss man auch andere Sachen im Blick haben. Angestellte der Fifa berichteten zuletzt, dass man Infantino kaum in Zürich (dort residiert die Fifa, Anm. d. Red.) sehe, er nicht mit ihnen reden will, geschweige denn im gleichen Aufzug fahre. Sein Vorgänger, also ich, hätte das gemacht. Er rede aber nur mit Staats- und Regierungschefs.
Aus Ihrer Abneigung gegen Infantino machen Sie keinen Hehl. Ist das eine Privatfehde?
Infantino ist einfach ein respektloser Mensch. Er verhält sich gegenüber der Fifa als Institution und auch gegenüber demjenigen, der den Verband zuvor geführt hat, ohne jeglichen Anstand und Respekt: mir. Er betrachtet mich, der ihm ein gemachtes Nest hinterlassen hatte, als nicht existent und geht juristisch gegen mich vor. Ich glaube, er hat bei der Erziehung zu Hause etwas nicht mitbekommen.
Das heißt, Sie haben weiterhin nur über Anwälte miteinander Kontakt?
Ja, nur über die Anwälte. Wir haben uns zweimal gesehen, als er Präsident wurde. Da kam er abends zu mir nach Hause, und ich habe ihm gesagt, dass ich die Fifa so schnell verlassen habe, dass ich nicht mal Zeit hatte, meinen Tresor zu leeren. Er sagte dann: Schreibe es auf und nach dem Kongress in Mexiko, das war im Mai 2016, regeln wir das. Dann ist er zurückgekommen und es ist nichts passiert. Auf Nachfrage ließ er mir dann ausrichten, dass die Fifa mit mir nur noch über Anwälte diskutieren wird.
Würde Infantino Ihnen die Hand reichen und Frieden wollen, würden Sie einschlagen?
Freunde von mir haben mal versucht, uns zusammenzubringen. Er hat dann erst grob zugesagt, später dann aber: "Wenn der Blatter da ist, dann komme ich nicht."
Warum, glauben Sie, geht er so mit Ihnen um?
Es gibt Leute, die vermuten: Er möchte so sein wie ich. Und das gelingt ihm nicht. Er hat Spezialkurse genommen für Charisma, da ist er jedoch durchgefallen. (lacht)
Das ist Sepp Blatter
Joseph "Sepp" Blatter wurde am 10. März 1936 geboren. 1975 startete seine Karriere bei der Fifa, die er von 1998 bis 2015 als Präsident führte. Am Ende stolperte er über zahlreiche Affären und wurde von Gianni Infantino abgelöst.
Infantino wollte eine WM mit 48 Teams, er bekommt sie ab 2026. Was halten Sie davon?
Das ist total falsch. Das kann nicht gut gehen. Der Wettbewerb soll mit vier Gruppen gespielt werden. Das ergibt 104 Spiele, verteilt auf nur einen Monat, der zur Verfügung steht. Das wird ein Monster-Event. Es ist keine Bereicherung. Es schadet nicht nur dem Fußball, sondern dem internationalen Kalender. Das ist übrigens nicht nur meine Meinung, sondern auch die von Personen, die den Fußball sehr gut kennen.
Viele fordern eine radikale Veränderung des Fußballs weg vom großen Geld. Ist das realistisch?
Nein. Was der Fußball braucht, ist, dass sich die Fifa, dass sich maßgebende Leute, mal Gedanken machen, was jetzt mit dem neuen Präsidenten, der einen sehr autokratischen, selbstherrlichen Führungsstil hat, passieren soll. Niemand aus dem Fußball steht auf, stellt sich als Gegenkandidat zu Infantino bei der nächsten Wahl auf.
Erwarten Sie da auch mehr vom DFB, dem größten Fußball-Verband?
Ja. Wenn der DFB spricht, wird er gehört – und er hat kurz vor der WM in einem Communiqué verlauten lassen, dass er Infantino in der Wahl nicht unterstützen werde. Auch der englische Verband hat eine gewichtige Stimme.
Aber Sie haben keine Hoffnung, dass da noch etwas kommt?
Ich bin jetzt in einem Alter, in dem ich noch kämpferische Elemente habe. Ich habe allerdings auch gelernt, etwas ruhiger zu sein. Und meine Zeit läuft schneller, weil ich auch etwas weniger davon habe. Aber ich habe Geduld und glaube an die Justiz. In meinem unerschütterlichen Optimismus bin ich überzeugt davon, dass alles wieder gut wird.
- Interview mit Sepp Blatter