Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Warum redet darüber kaum jemand?
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
der Kanzler trifft die anderen EU-Chefs oben in Brüssel. Weit im Osten schießen Russen und Ukrainer aufeinander. Schreckliches Erdbeben unten in der Türkei. Die Chinesen schicken Spionageballons um die Erde. Im Berliner Regierungsviertel sagt die Baerbock dies und der Merz das. Und der Kühnert, die Lang, der Lindner, der Dobrindt und wie sie alle heißen. Dann sitzen sie in den Fernseh-Talkshows und sagen dasselbe noch mal, reden auch dort über die Ukraine, die Chinesen, den Putin und so weiter.
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Vielleicht schauen Sie sich das an und kratzen sich am Kopf. Knipsen den Fernseher aus und treten vors Haus. Luft schnappen. Schauen in die Dunkelheit, sehen die Sterne funkeln und hören das Käuzchen rufen. Schön. Weit weg von all den Aufgeregtheiten. Mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland wohnt in ländlichen Regionen, in Kleinstädten, Dörfern oder Gemeinden. Metropolen wie Berlin, Hamburg, München und Köln haben große Anziehungs- und Wirtschaftskraft, aber knapp die Hälfte der deutschen Wirtschaftsleistung wird in ländlichen Regionen erbracht. Warum spielen die Probleme der Leute auf dem Land dann in den täglichen Debatten allenfalls eine Nebenrolle?
Falls Sie auf dem Land oder in einer Kleinstadt leben, fragen Sie sich das vielleicht auch. Sie stehen immer noch vor dem Haus, atmen tief durch – aaah, die gute Luft! – und kehren dann zurück ins Wohnzimmer, wo über die Mattscheibe immer noch der Lanz, die Illner oder die Maischberger flimmern und die Politiker über Themen reden, die die Welt bewegen: Krieg und Panzer, Klimaschutz und Artensterben, Amerika, China und so weiter. Natürlich geht es auch um die Inflation, die betrifft uns ja alle, aber schon schwenken sie um auf den Wohnungsmangel in Großstädten. Sie kratzen sich noch mal am Kopf und fragen sich vielleicht: Stimmt, alles wichtig – aber wann spricht man in diesem Land mal ausführlich über meine Probleme? Also nicht Ihre persönlichen, sondern jene, die Sie mit vielen anderen Bewohnern des ländlichen Raums teilen? Gedanklich gehen Sie eine Liste durch, was sich da in den vergangenen Jahren alles aufgestaut hat:
- Viele Geschäfte, Kneipen, Kinos und Restaurants sind geschlossen worden. Wo früher reges Leben war, herrscht heute Ödnis.
- Das Schwimmbad und das Stadttheater haben auch zugemacht.
- Bis zur nächsten Arztpraxis ist es eine halbe Weltreise.
- Mit dem Bus kommen Sie da kaum hin, der fährt nämlich nur noch zweimal am Tag. Die Regionalbahn fällt ständig aus, kommt zu spät oder erscheint Ihnen nicht mehr geheuer, seit man so oft von Gewalttaten in Zügen liest.
- Sie sind nun mal auf Ihren Wagen angewiesen und finden es ungerecht, dass Autofahrer wegen des Klimawandels nun allerorten verteufelt werden.
- Als Arbeitslohn verdienen Sie vermutlich weniger als Leute in vergleichbaren Jobs in der Stadt, auch das erscheint Ihnen ungerecht.
- Vielleicht arbeiten Sie in der Landwirtschaft, dann vergeht Ihnen wegen all der neuen Vorschriften, Gesetze und EU-Richtlinien Hören und Sehen. Sie fragen sich, ob es überhaupt noch irgendetwas gibt, was Sie noch dürfen.
- Schulen, Kitas und Seniorenheime sind an Ihrem Wohnort mangelhaft ausgestattet, es fehlt an Lehrern, Betreuerinnen, Pflegern.
- Junge Leute fehlen auch, denn nach dem Schulabschluss wandern viele in die Städte ab.
- Irgendwie kommen Sie sich im Stich gelassen vor.
Ich könnte diese Liste fortsetzen, aber ich denke, Sie wissen, worauf ich hinauswill – und damit sind nun wieder alle Leserinnen und Leser gemeint, auch jene in den Städten: Krieg, Klimakrise und all die anderen großen Themen sind wichtig und dominieren zu Recht die Debatten in Politik und Medien. Aber wir sollten nicht vergessen, dass viele Menschen in unserem Land täglich auch noch ganz andere Herausforderungen bewältigen müssen. Auch die sollten gesehen, gehört und gelöst werden. Um es mit dem großen Bertolt Brecht zu sagen, der heute vor 125 Jahren in Augsburg geboren wurde und das Landleben ebenso liebte wie die Metropolen:
Ich habe gewusst, dass Städte gebaut wurden
Ich bin nicht hingefahren.
Das gehört in die Statistik, dachte ich
Nicht in die Geschichte.
Was sind schon Städte, gebaut
Ohne die Weisheit des Volkes?
Wahlkampffinale in Berlin
Apropos Metropolen: Glaubt man den Umfragen, steht bei der Wiederholungswahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am Sonntag eine kleine Sensation bevor. Zum ersten Mal in diesem Jahrhundert könnte sich in der vermeintlich linken Hauptstadt die CDU zur stärksten Kraft aufschwingen. Bei 25 bis 26 Prozent sehen die Demoskopen die Christdemokraten, dahinter folgen die SPD mit 19 Prozent und die Grünen mit 18 Prozent. Ob ein solches Ergebnis wirklich zu einem Machtwechsel führen würde, ist allerdings keineswegs ausgemacht, besonders wenn das aktuelle rot-grün-rote Dreierbündnis unter Führung von Franziska Giffey (SPD) doch auf eine knappe Mehrheit kommt. Allerdings wirkt das Koalitionsklima nicht gerade harmonisch, sogar von Schwarz-Grün wird schon geraunt.
Heute fahren die Parteien zum Wahlkampffinale noch einmal groß auf: Die CDU stellt ihrem Spitzenkandidaten Kai Wegner im Konrad-Adenauer-Haus den Bundesvorsitzenden Friedrich Merz, NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst und Generalsekretär Mario Czaja an die Seite. Die Grünen laden zum Townhall-Meeting mit Spitzenkandidatin Bettina Jarasch, Außenministerin Annalena Baerbock und Vizekanzler Robert Habeck. Die FDP schickt ihren Parteichef Christian Lindner ins Rennen, die Linke setzt auf ihre Senatoren Klaus Lederer, Katja Kipping und Lena Kreck. Nur die Berliner SPD mit Regierungschefin Giffey plant keinen derartigen Wahlkampfabschluss. Wirkt fast schon resigniert. Im Interview mit unseren Berlin-Reportern Nils Heidemann und Yannick von Eisenhart Rothe gibt sich die Amtsinhaberin aber kämpferisch.
Die Tragödie geht weiter
Schon fast 20.000 Todesopfer wurden bis gestern Abend gemeldet: Die Hoffnung schwindet, in den Erdbebengebieten in der Türkei und in Syrien noch Überlebende zu finden. Unter den Trümmern werden noch zahllose weitere Opfer vermutet – Fachleuten zufolge könnte die Zahl der Toten auf bis zu 67.000 steigen.
Gleichzeitig gestaltet sich die Arbeit der Rettungskräfte besonders im Nordwesten Syriens schwierig: Der Grenzübergang Bab al-Hawa ist der letzte von einst vier Passagen, über die Hilfen auch in jene Teile Syriens gelangen können, die von Rebellen kontrolliert werden. Nicht umsonst forderte UN-Generalsekretär António Guterres gestern die Öffnung weiterer Zugänge aus der Türkei. Die Bundesregierung hat angekündigt, die humanitäre Hilfe um 26 Millionen Euro aufzustocken, auch die EU hat Soforthilfen zugesagt. Um langfristige Unterstützung auf den Weg zu bringen, ist für Anfang März eine Geberkonferenz in Brüssel geplant. Unterdessen gerät der türkische Präsident Erdoğan im Wahlkampf immer stärker unter Druck, wie mein Kollege Patrick Diekmann berichtet.
Gefährlicher Trend
Die deutsche Wirtschaft war noch nie so abhängig von China wie jetzt: Deutschland importiert viel mehr Waren, als es exportiert. Experten warnen: Wir liefern uns sehenden Auges einer totalitären Diktatur aus – und werden irgendwann nach deren Pfeife tanzen müssen.
Und sonst so?
Die Deutsche Presse-Agentur kündigt heute Berichte zu folgenden Themen an:
Veitshöchheim: Franken im Fastnachtfieber.
San Francisco: Textroboter ChatGPT meistert Fragen von Uni-Examen.
Wien: Werkzeug nutzende Kakadus können noch mehr als gedacht.
Sie sehen also: Wird vielleicht doch noch ein dufter Tag.
Was lesen?
China betreibt offenbar ein weltumspannendes Spionagenetz mit Ballons. Meine Kolleginnen Lisa Becke und Nilofar Eschborn haben die Details.
Warum geht es beim dringend benötigten Wohnungsbau nicht voran? Unser Rechercheur Jonas Mueller-Töwe fand heraus: Bauministerin Klara Geywitz hat bisher keine einzige neugeschaffene Stelle besetzt.
Die Flüchtlingszahlen müssen dringend sinken, heißt es aus der EU. Wie es nun ganz schnell gehen soll, zeigt Ihnen meine Kollegin Camilla Kohrs.
Der Warenkorb meiner Kollegen offenbart das volle Ausmaß der Inflation. Für welche Lebensmittel Sie jetzt deutlich tiefer in die Tasche greifen müssen, zeigen Ihnen Nilofar Eschborn und Florian Schmidt.
Was amüsiert mich?
Ach ja, die Berliner.
Ich wünsche Ihnen einen entscheidungsfreudigen Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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