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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erdoğan unter Druck Der Sultan wütet
Nach dem heftigen Erdbeben in der Türkei und in Syrien steht Präsident Erdoğan in der Kritik. Kostet ihn die Katastrophe nun die Wiederwahl?
Die Hoffnung schwindet, doch noch immer gibt es kleine, gute Nachrichten: 68 Stunden nach dem schweren Erdbeben in der türkischen Provinz Hatay haben Helfer ein Baby und wenige Stunden später dessen Vater aus den Trümmern eines Hauses gerettet. Sie leben. "Wir hoffen auf noch mehr Wunder", sagte ein Reporter im türkischen TV-Sender TRT.
Doch die Zeit dafür wird knapp. Zehntausende Retter kämpfen gegen das Ticken der Uhr an. Jede Stunde, jede Minute zählt. Mittlerweile sollen laut türkischer Regierung über 100.000 Helferinnen und Helfer in der Krisenregion eingetroffen sein. Doch angesichts der Trümmerwüste stellen immer mehr Menschen vor Ort die Frage: Kamen sie zu spät?
Kritisch wird diese Frage für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Das Beben ist für ihn längst zum Politikum geworden. Der 68-Jährige möchte im Mai wiedergewählt werden – und muss sich jetzt gegen Vorwürfe wehren sowie als Krisenmanager beweisen. Seine Reaktion gleicht dabei der eines wütenden Sultans. Er schimpft gegen die Opposition, lässt Twitter blockieren, Menschen verhaften. Erdoğan weiß: Am Ende könnte das katastrophale Erdbeben sein politisches Ende eingeläutet haben.
Erdoğan will sich als Krisenmanager präsentieren
So ist das Erdbeben zwar in erster Linie eine humanitäre Katastrophe, aber für das Land birgt es auch politischen Sprengstoff. Die Türkei befindet sich im Wahlkampf, die größte Oppositionspartei CHP wollte im Februar ihren Kandidaten vorstellen, der Erdoğan bei der Präsidentschaftswahl am 14. Mai herausfordern soll.
Das Erdbeben aber verändert alles. Nicht nur Erdoğan, sondern sämtliche Politiker müssen nun zeigen, wie sie mit der Katastrophe umgehen. Es geht um Mitgefühl und darum, möglichst schnell Hilfe zu organisieren. Viele Menschen in der Krisenregion sind obdachlos, sie brauchen Nahrungsmittel und ein Dach über dem Kopf. Alles muss jetzt sehr schnell gehen.
Erdoğan, so viel steht fest, weiß das von allen Akteuren am besten. Er ist seit fast 20 Jahren an der Macht, er kennt die Bedeutung der Bilder im Wahlkampf und hat sich im türkischen Staat stets als Vaterfigur inszeniert. Deswegen mischte sich der Präsident, als er am Mittwoch das Krisengebiet besuchte, unter die Menschen. Er umarmte Frauen, versprach den Opfern Hilfe und Geld. Bisher ging Erdoğan oft politisch gestärkt aus Krisen hervor, aber diesmal könnte er mit dem Rücken zur Wand stehen.
Opposition: Erdoğan ist "hauptverantwortlich"
Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Naturkatastrophe einen Machtwechsel in der Türkei einläutet. Im Jahr 1999 gab es ein verheerendes Erdbeben in der Stadt İzmit, mehr als 18.000 Menschen starben. Das verschärfte die Regierungskrise im Land, und zwei Jahre später kam Erdoğan an die Macht.
Das ist wichtig zu betonen, denn damit wird klar: Die aktuelle Katastrophe könnte auch Erdoğan und seiner AKP-Regierung auf die Füße fallen. Die Türkei ist aufgrund ihrer Lage seit jeher ein Erdbebengebiet, kleinere und größere Beben gab es in den vergangenen Jahren einige.
Trotzdem schien die Regierung schlecht auf ein mögliches Erdbeben vorbereitet zu sein. Die Hilfskonvois kamen spät in die Region. Außerdem brachen viele Gebäude durch das Erdbeben zusammen – die Bausubstanz war zu großen Teilen offenbar nicht erdbebensicher. Und schließlich habe die Armee nicht ohne Befehl der Führung helfen dürfen, kritisieren Hilfsorganisationen. Das habe wertvolle Zeit gekostet.
Besonders brisant: Zwei Wochen vor dem Erdbeben im Südosten der Türkei und in Syrien hatte der Oppositionspolitiker und Bürgermeister von Antakya, Lütfü Savaş, vor einem derartigen Szenario gewarnt: "Antakya ist nicht bereit für ein großes Erdbeben. Egal wie viele Briefe wir an die Ministerien schicken, wir bekommen keine Antwort." Die Gefahr wurde offenbar über viele Jahre ignoriert.
Entsprechend scharf ist deshalb jetzt die Kritik an Erdoğan: "Wenn jemand hauptverantwortlich für diesen Verlauf ist, dann ist es Erdoğan", sagte Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der größten Oppositionspartei CHP, in einem Video, das er am frühen Mittwochmorgen auf Twitter teilte. Auch der Oppositionsführer besuchte die Krisenregion im Südosten der Türkei, auch die CHP benutzt die Bilder im Wahlkampf. Erdoğan habe es versäumt, das Land in seiner Regierungszeit auf ein solches Beben vorzubereiten, schimpfte Kılıçdaroğlu.
Aber die Kritik am Präsidenten kommt nicht nur aus politischen Kreisen, sondern auch von Teilen der Wissenschaft. Zum Beispiel warf der renommierte türkische Geologe und Erdbeben-Experte Celâl Şengör den politisch Verantwortlichen in einem Interview mit dem ZDF vor, den Gefahrenbewertungen von Experten keinen Glauben geschenkt und diese ignoriert zu haben. Experten wie Şengör fordern nun ein Umdenken, besonders mit Blick auf ein drohendes Superbeben in Istanbul.
Autoritäre Methoden gegen Kritik am Präsidenten
Diese Vorwürfe kann Erdoğan nicht gänzlich entkräften, im Gegenteil: Bei seinem Besuch in Hatay musste er Fehler einräumen. "Natürlich gibt es Defizite. Die Zustände sieht man ja ganz klar", sagte der Präsident. Gleichzeitig nahm er Polizisten und Soldaten gegen die nach dem Erdbeben aufgekommenen Kritik in Schutz. Diese handelten "ehrenhaft". In der Krisenregion wurde Erdoğan mit der Kritik von Opferfamilien konfrontiert – eine Verantwortung seiner Regierung sieht er jedoch nicht.
"Es ist die Zeit der Solidarität. Ich kann es nicht ertragen, wenn jemand in einer solchen Zeit nur auf seinen politischen Vorteil bedacht ist und simple Schmutzkampagnen veranstaltet", schimpfte Erdoğan. Gemeint sind seine politischen Gegner, aber simpel ist die Kritik nicht. So hätten die Menschen nur auf Anweisungen der Behörden wie dem Katastrophenschutz hören sollen und nicht etwa auf "Provokateure".
Das ist das Narrativ des Präsidenten im Angesicht dieser Katastrophe: Kritiker sind Provokateure. Deshalb haben die türkischen Behörden Twitter blockieren lassen, obwohl Erdbebenopfer auch über die Plattform Hilfe organisieren. Die türkische Polizei hat laut eigenen Angaben mehr als 200 Menschen wegen "provokativer Beiträge" in den sozialen Medien festgenommen. Kılıçdaroğlu beschimpfte die türkische Regierung daraufhin als "wahnsinnige Palastregierung."
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Allein das zeigt: Erdoğan sieht durch das Erdbeben seine Wiederwahl gefährdet und schränkt deshalb die Meinungsfreiheit weiter ein.
Erdbeben könnte politisches Ende von Erdoğan eingeläutet haben
Denn Gründe für berechtigte Kritik gibt es genug. Zum einen wird in der Türkei seit der letzten großen Katastrophe von 1999 eine Erdbebensteuer, die offiziell "private Transportsteuer" in der Türkei heißt, erhoben. Über die Jahre sollen 88 Milliarden Türkische Lira zusammengekommen sein, berichtet die türkische Oppositionszeitung "Cumhuriyet".
Aber wo ist das Geld gelandet? Kritiker werfen der Erdoğan-Regierung Zweckentfremdung vor. Es floß offenbar in Bildung oder in die Tilgung der Staatsverschuldung. Erdoğan kann lediglich darauf hoffen, dass die Versäumnisse seiner Administration bei der Erdbebenprävention nicht bis zum Wahltermin aufgearbeitet sein werden. Es gibt in jedem Fall viele offene Fragen.
Für Erdoğan wird auch wahlentscheidend sein, ob er seine kurdischen Wählergruppen in der Türkei für sich mobilisieren kann. Geschätzt 19 Prozent der türkischen Bevölkerung sind Kurden, etwa die Hälfte davon – vor allem die konservativen Muslime – hat oft treu Erdoğan und die AKP gewählt. Nun wird Erdoğan von kurdischen Gruppen vorgeworfen, er habe die Hilfe für kurdische Gebiete verzögert, Hilfsgüter sollen beschlagnahmt worden sein, schreibt die pro-kurdische Partei HDP auf Twitter. Außerdem fliegen türkische Kampfflugzeuge weiterhin Angriffe auf kurdische Milizen im Erdbebengebiet in Nordsyrien.
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"Wir haben gestern Nacht noch mal Nachbeben gehabt, und trotzdem wurden weiter türkische Luftangriffe geflogen. Auch gerade in der Gegend, die schwer betroffen war von den Erdbeben", sagte eine Helferin der Organisation Kurdischer Roter Halbmond in Nordsyrien dem ZDF. Laut der in England ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte seien in Nordsyrien vier Menschen durch eine Rakete verletzt worden.
Letztlich will Erdoğan im Angesicht der Erdbebenkatastrophe mit einem Solidaritätsnarrativ viele Türkinnen und Türken hinter sich vereinen, um im Wahlkampf zu punkten. Die Umfragen sahen schon vor dem Beben nicht gut für ihn aus, die Wirtschaftskrise hat sein Land weiterhin fest im Griff. Der Schock in der Türkei sitzt nach den vergangenen Tagen noch immer tief, aber es kocht auch immer größere Wut hoch. Das Beben in Verbindung mit den Versäumnissen der türkischen Regierung könnte das politische Ende von Erdoğan eingeleitet haben.
- spiegel.de: Das Beben wird zum Politikum
- fr.de: Kritik an Erdogan wächst: Erdbebensteuer ging in die Taschen seiner Vasallen
- cumhuriyet.com.tr: Deprem vergileri ne oldu sorusu yine gündemde! (türkisch)
- n-tv.de: Erdogan und Assad sollen Erdbebengebiete bombardiert haben
- zdf.de: Erdogan besucht das Katastrophengebiet
- focus.de: Erdogan zwackte Steuergeld ab, statt Häuser gegen Erdbeben zu sichern
- tagesschau.de: Erdogan verspricht Hilfe und sorgt für Kritik
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- Eigene Recherche