Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Russlands Kriege "Das ist bestürzend"
1939 griff die Sowjetunion Finnland an, doch die finnische Armee hielt stand. Wie gelang diese militärische Sensation? Und lässt sich daraus etwas für Russlands Krieg gegen die Ukraine lernen? Der Historiker Jörg Baberowski gibt Antworten.
Im Februar 2022 wollte Wladimir Putin Kiew im Handstreich erobern, aber die russischen Streitkräfte scheiterten. Ähnlich erging es dem sowjetischen Diktator Josef Stalin, dessen Rote Armee im sogenannten Winterkrieg das kleine Finnland ab dem 30. November 1939 bezwingen sollte – und zum Erstaunen der Welt von der zahlenmäßig unterlegenen finnischen Armee bis zum Friedensschluss am 13. März 1940 gedemütigt wurde.
Wie gelang den Finnen dieses militärische Wunder? Und in welcher Hinsicht ähneln sich der sowjetisch-finnische Winterkrieg von 1939/40 und der russische Krieg gegen die Ukraine in unserer Gegenwart? Jörg Baberowski, einer der führenden Osteuropahistoriker, erklärt, warum Russland seine Kriege brutal, aber ineffektiv führt.
t-online: Professor Baberowski, 1939 gelang Finnland im sogenannten Winterkrieg eine Sensation: Die kleine finnische Armee hielt dem Angriff der gefürchteten Roten Armee stand. Wie war das möglich?
Jörg Baberowski: Die finnische Stärke ergab sich aus der sowjetischen Schwäche. Als Josef Stalin 1939 den Angriff auf Finnland anordnete, gab es überhaupt keine militärische Strategie, weil der Diktator annahm, auf keinerlei Widerstand zu stoßen.
Tatsächlich hätte es auch kaum jemanden gegeben, der eine wie auch immer geartete Strategie in die Praxis hätte umsetzen können.
Richtig. Während des Großen Terrors im Jahr 1937 ließ Stalin seine höheren Offiziere zu Tausenden erschießen. Nun fehlten ihm die strategischen Köpfe für eine erfolgreiche Offensive gegen Finnland.
Weshalb attackierte Stalin Finnland überhaupt?
Finnland war seit 1801 Teil des russischen Imperiums, gebot aber über eine weitreichende Autonomie. Im Jahr 1917 erklärte sich Finnland für unabhängig und löste sich aus dem russischen Imperium. Ihm folgten Litauen, Estland, Lettland und Polen. Im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes vom August 1939 besetzte die Rote Armee die baltischen Staaten und den Osten Polens. Finnland sollte Teile Kareliens und die an den Ladogasee angrenzenden Gebiete an die Sowjetunion abtreten.
Jörg Baberowski, Jahrgang 1961, lehrt Osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsfelder sind unter anderem der Stalinismus und die Geschichte der Gewalt. 2012 erhielt Baberowski den Preis der Leipziger Buchmesse für sein Standardwerk "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt". Drei Jahre später erschien seine Studie "Räume der Gewalt", zuletzt dann 2021 "Der bedrohte Leviathan. Staat und Revolution in Russland".
Zunächst versuchte Stalin es im Falle Finnlands mit Erpressung. Als diese sich als vergeblich erwies, setzte er militärische Gewalt ein.
Es zeigte sich, von welchem Wert eine stabile Demokratie sein kann. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 …
… in dem der deutsche und der sowjetische Diktator die Teilung Polens und die Aufteilung Osteuropas in "Interessensphären" vereinbarten …
… setzte Stalin die Regierungen der baltischen Republiken unter Druck und verlangte von ihnen, ihrer Annexion durch die Sowjetunion zuzustimmen. Das war nur möglich, weil alle drei Staaten autoritär regiert wurden, ihre Regierungen in geheimen Verhandlungen eine Unterwerfung anboten, der die Bürger niemals zugestimmt hätten, wären sie informiert gewesen. Die finnische Regierung widersetzte sich und verwies auf den Umstand, dass Fragen von Krieg und Frieden im Parlament entschieden werden müssten. Das Begehren der Sowjetunion wurde in der Öffentlichkeit Finnlands verhandelt und abgelehnt.
Zu einem Stalin sagte man so etwas wohl besser nicht.
Widerstand beantwortete Stalin, wie stets, mit Gewalt. Nur rechnete er nicht mit dem erbitterten Widerstand der finnischen Armee. An Kampfkraft waren die finnischen den sowjetischen Streitkräften überlegen, weil sie auf eigenem Territorium operierten, ihre Verteidigung geschickt organisierten und weil ihre Offiziere selbstständige Entscheidungen treffen konnten, in auffälligem Gegensatz zur schwerfälligen, zentralistisch geführten Roten Armee, deren Generäle von Strategie und Taktik wenig verstanden und ihre Soldaten zu Tausenden in den Tod schickten.
Entsprechend hoch waren die Verluste unter den Rotarmisten.
Die sowjetischen Streitkräfte mussten einen hohen Blutzoll entrichten. Die Offiziere trieben ihre Soldaten frontal gegen die feindlichen Linien. Auf finnischer Seite kämpften Soldaten hingegen in kleinen mobilen Einheiten, die Verheerungen in den feindlichen Reihen anrichteten. Die Rote Armee operierte mit Panzern und schwerem Gerät in bewaldetem Gelände. Die mobilen finnischen Einheiten lockten sie in den Hinterhalt und zerstörten die sowjetischen Panzer.
Seien es die Zaren, die Bolschewiki oder das Regime Putins: Russland ist bislang in jedem seiner Kriege auf brutalste Weise mit den eigenen Soldaten umgegangen. Woran liegt das?
Es ist tatsächlich immer die gleiche Vorgehensweise: Die Soldaten werden sinnlos verheizt, durch Terror unter der Knute gehalten, alles wird in Schutt und Asche gelegt. Die russische Armee ist eine Organisation, die ihre eigenen Soldaten nicht besser behandelt als die Gegner, die sie bekämpft: eine gewaltige Disziplinierungs- und Todesmaschine, in der Soldaten gegen ihren Willen tun, was sie sich unter anderen Umständen nicht zumuten würden.
Warum ist das so? Es ergibt doch keinen Sinn, das Leben der eigenen Leute so zu missachten.
Russlands Armee verfährt, wie sie immer schon verfahren ist. In der US-Armee gilt nach wie vor das Prinzip "Safety First", also der Vorrang der Sicherheit für die eigenen Soldaten. In Russlands Armee wird das Leben der Soldaten dem Erfolg untergeordnet, in der Hoffnung, dass der Sieg die Opfer rechtfertigen werde. Soldaten laufen frontal auf die feindlichen Linien zu, opfern sich, weil der Rückzug die gleichen tödlichen Folgen für sie hätte wie der Angriff. Wer will schon von den eigenen Leuten erschossen werden? Wer keine Wahl hat, läuft nach vorn. Stalin ließ nicht nur auf zurückweichende Soldaten schießen, er schickte Soldaten, die sich den Deutschen ergeben hatten, nach dem Ende des Krieges in Straflager. Man mag diese Strategie für sinnlos halten, in der Wahrnehmung der Generäle aber hatte sie sich bewährt. Der Erfolg sprach für sich.
Wie robust ist aber diese menschenverachtende Haudrauf-Methode? Selbst der für seine Verbissenheit berüchtigte Stalin sah irgendwann während des Winterkriegs ein, dass man so nicht zum angestrebten Ziel kommt.
Stalin ließ Offiziere erschießen, er führte ein Regiment von Furcht und Schrecken in der Armee ein, in der die Angst der Vater der Befehle war. Die Motivation von Soldaten spielt oftmals eine geringere Rolle als die Furcht vor Repressionen, die sich von oben nach unten durchsetzte. Es kommt also darauf an, die Angst der Soldaten unter Kontrolle zu halten und sie dazu zu bringen, ihr Leben zu opfern. Warum soll man eine Strategie aufgeben, die man kennt, die sich bewährt hat und die den Gegner zermürbt? Stets aber lernte die Armee auch aus den Fehlern, die sie beging, begann, zu improvisieren und hatte damit bisweilen auch Erfolg.
Haben Sie ein Beispiel?
Der Russisch-Japanische Krieg von 1904/1905 war eine Katastrophe für Russland. Alexei Kuropatkin, Kriegsminister unter Nikolaus II., schrieb über das monatelange Versagen der Streitkräfte eine Abhandlung. Die Armee sei auf den Kampf gegen die Japaner in der Mandschurei nicht vorbereitet, Strategie, Ausrüstung und Logistik seien miserabel gewesen, so Kuropatkin. Erst im Sommer 1905 sei es überhaupt gelungen, die Armeen zureichend mit Soldaten und Munition auszurüsten und sich auf die Strategie des Gegners einzustellen. Just in diesem Moment habe der Zar Friedensverhandlungen aufgenommen und den Sieg verspielt, wie Kuropatkin behauptete.
Wird die russische Armee auch in der Ukraine lernen?
Sie wird zu ihren Bedingungen lernen und versuchen, der Ukraine einen blutigen Abnutzungskrieg aufzuzwingen, in der Hoffnung, das Grauen länger durchzuhalten als der Gegner. Putin braucht einen Sieg, er kann nicht als Verlierer vom Schlachtfeld abziehen. Dafür wird er wahrscheinlich alles tun, und seine Armee wird ihm dabei helfen.
Was können die Ukrainer aus der finnischen Geschichte lernen?
Die ukrainischen Soldaten operieren wie einst die finnischen in kleinen Verbänden, fügen dem Gegner empfindliche Verluste zu, zerstören seine Munitionslager und Nachschubwege, locken Großverbände in einen Hinterhalt. Diese Strategie mag erfolgreich sein, solange das Militär zu größeren Operationen noch in der Lage ist. Aber sie wird an Grenzen stoßen, sobald sich der Krieg festfährt, weil keine Seite mehr die Initiative ergreifen kann. In jedem Fall wird es Russland nicht gelingen, die Ukraine zu erobern, so wenig wie es gelang, Finnland zu besetzen. Und dennoch ist die Ukraine nicht Finnland, ihre Regierung ist gut beraten, sich auf eine Fortsetzung des Konflikts einzustellen und nach Kompromissen zu suchen, die ihm ein Ende setzen.
Das wird im Falle der Ukraine in der Gegenwart sicher weit schwieriger als die Einigung zwischen Finnland und der Sowjetunion 1940.
Ja. Finnland war ungeachtet seiner langen Zugehörigkeit zum Zarenreich nie ein Teil Russlands. Nicht einmal Stalin hätte verlangt, Finnland zu besetzen und in das Imperium zurückzuholen. Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine folgt anderen Gesetzen. Für Putin ist die Ukraine nicht Ausland, sondern "abtrünniges Territorium", das er sich einverleiben will. Wolodymyr Selenskyj und seine Minister hält er für Verräter, die sich von der Nato steuern ließen und nun für ihren Verrat bestraft werden müssten.
Putin geht es bei seinem Angriffskrieg offensichtlich nicht nur um Land und Ressourcen, sondern auch um seinen Platz in den Geschichtsbüchern.
Putin glaubt, das russische Imperium gegen äußere und innere Feinde zu verteidigen. Dieser Krieg findet nicht nur auf den Schlachtfeldern statt, sondern auch in den Köpfen derer, die das Imperium besingen, und derer, die sich von ihm verabschiedet haben. Das ist der eigentliche Grund, warum dieser Kampf so erbarmungslos ist.
Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine dauert jetzt schon länger als ein Jahr, der Winterkrieg von 1939/40 endete nach nicht einmal vier Monaten. Sehen Sie Anzeichen dafür, dass die massiven Verluste aufseiten der Russen einen baldigen Waffenstillstand möglich machen?
Ich fürchte, dass dieser Krieg noch lange dauern wird. Solange es den Kriegsparteien gelingt, sich mit Soldaten und Ausrüstung zu versorgen, wird sich das Töten und Sterben fortsetzen. Der russische Krieg ist ein Opfergang, der auf Verluste keine Rücksicht nimmt. Das ist bestürzend, aber leider wahr.
Professor Baberowski, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Jörg Baberowski via Videokonferenz