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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Heldin im Tsunami Das Mädchen, das zum Schutzengel wurde
Eine mächtige Wand aus Wasser riss 230.000 Menschen in den Tod. Bloß an einem kleinen Abschnitt in Thailand starb niemand – weil ein Mädchen zum "Engel des Strandes" wurde.
Erst schien es nur ein merkwürdiges Naturschauspiel zu sein. Der Ozean zog sich weit zurück und legte den Meeresboden frei. Staunende Strandbesucher holten ihre Kameras heraus und filmten.
Was später auf unzähligen Videos zu sehen war, ist erschütternd: Plötzlich rollten rund um den Indischen Ozean Monsterwellen heran. An manchen Orten türmten sie sich 20, 30 oder sogar 40 Meter hoch auf. An anderen erreichten sie acht oder neun Meter Höhe. Praktisch überall hinterließen sie Tod und Zerstörung.
Die Wucht von 475 Millionen Tonnen TNT
Der Tsunami am zweiten Weihnachtsfeiertag 2004 tötete laut Vereinten Nationen 230.000 Menschen in 14 Ländern. Vor Sumatra hatte sich die Indisch-Australische Platte unter die eurasische Platte geschoben. Ein Teil der Burma-Mikroplatte wurde mit heruntergezogen und schnellte dann ruckartig nach oben zurück.
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Das Seebeben der Stärke 9,0 übertrug seine ungeheure Energie aufs Wasser. Die Kraft von 475 Millionen Tonnen TNT löste Wellen aus, die mit zu 1.000 km/h durch den Ozean pflügten und vom Grund des Meeres bis zur Oberfläche reichten. Die Ufer am Rande des Indischen Ozeans bremsten diese Wellen zwar ab – gleichzeitig aber hoben sie diese zu tödlichen Wasserbergen an.
Noch nach Wochen fanden Helfer Tote
Gewaltige Massen drückten mit Macht ins Landesinnere. Das Wasser hatte eine solche Kraft, dass es Menschen an Gebäuden zerquetschte, Häuser zermalmte und ganze Städte vernichtete. Die Opfer wurden von Treibgut erschlagen oder von scharfen Gegenständen aufgeschnitten. Beim Zurückströmen riss das Wasser Überlebende mit auf offene See, wo sie dann doch noch den Tod fanden und ertranken.
Bilder von Leichenbergen gingen um die Welt. Tag für Tag wurden die Toten aus den Trümmern geborgen, wochenlang ging das so. Nur an einem Strand auf der thailändischen Insel Phuket überlebten alle Anwesenden. Medien sprachen hinterher von einem "Engel des Strandes", der mehr als 100 Menschen gerettet hatte.
Der "Engel des Strandes": ein kleines Mädchen
Dieser Engel war ein kleines Mädchen, das zwei Wochen zuvor gut in der Schule aufgepasst hatte – und nun beharrlich die Erwachsenen warnte und auch nicht aufgab, als diese sie anfangs ignorierten.
Tilly Smith war damals zehn Jahre alt. Am zweiten Weihnachtsfeiertag 2004 lief sie morgens vor dem Frühstück mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester Holly den Strand von Mai Khao entlang. "Es war wie im Paradies – weißer Sand und türkisblaues Meer", beschrieb sie später den Anfang des Familienurlaubs.
Tilly bemerkte Schaum auf dem Wasser – und erinnerte sich
Die junge Britin aus der englischen Grafschaft Surrey genoss die Weihnachtsferien. Bis ihr plötzlich auffiel, dass sich das Meer sonderbar verhielt: An der auf einmal wilden Oberfläche bildete sich ein seltsamer Schaum, die Wellen drückten an Land, ohne wieder im gleichen Rhythmus zurückzufließen, ein Baumstamm drehte sich im Wasser.
Tilly fiel wieder ein, was sie gerade erst im Geografie-Unterricht gelernt hatte: Manchmal macht sich die unglaubliche Energie eines aufs Land zurollenden Tsunamis schon frühzeitig durch aufgewirbeltes Wasser am Ufer bemerkbar. Noch bevor sich das Wasser zurückzieht, wirkt es, als würde es kochen.
Als nichts mehr half, schrie Tilly
"Ich ahnte, dass etwas Schreckliches passieren würde", schilderte Tilly später in Interviews den Moment. Aber weil am Horizont noch nichts zu sehen war, wiegelten ihre Eltern ab. "Sei nicht albern, Tilly", versuchten sie sie zu beruhigen.
Die Zehnjährige gab nicht auf. Sie redete beharrlich – und als nichts mehr half, schrie sie. "Tsunami! Es wird einen Tsunami geben."
"Ich weiß, das klingt völlig verrückt"
"Natürlich wussten sie nicht, wovon ich sprach", sagte Tilly Smith hinterher über ihre Eltern. Aber als sie mit ihrer Angst auch ihre kleine Schwester ansteckte, reagierte der Vater doch und lief mit den Kindern zurück zum Hotel, während sich ihre Mutter immer noch nicht bewegen ließ, den Strand zu verlassen.
Am Hotel sprach der Vater einen Sicherheitsmann an und sagte laut Tilly: "Ich weiß, das klingt völlig verrückt, aber meine Tochter glaubt, es wird einen Tsunami geben."
Evakuierung – gerade noch rechtzeitig
Zum Glück für alle Menschen am Strand war der Sicherheitsmann ein Japaner. Das Wort Tsunami stammt aus dem Japanischen, dort kennen sich die Menschen mit dem Phänomen aus – und der Mann sagte: "Ich glaube, Ihre Tochter hat recht."
Die Evakuierungsaktion, die der Sicherheitsmann startete, kam den Berichten zufolge gerade noch rechtzeitig. "Da war eine Familie, die im Meer Kajak fuhr, Leute im Pool", beschrieb Tilly die Aufregung später. "Alle fingen an zu rennen, es herrschte pure Panik."
"Es krachte und knallte, das Meer toste"
Als eine der Letzten sei auch ihre Mutter angerannt gekommen. Währenddessen zog sich das Meer nun immer weiter zurück: das Zeichen, dass der Tsunami unmittelbar bevorstand.
Und dann war es so weit: "Eine Wasserwand kam auf uns zu", schilderte Tilly den folgenden Horror. "Wasser strömte in das Hotel. Es krachte und knallte, das Meer toste."
Hunderte von Menschen schrien völlig verängstigt durcheinander – aber alle hatten es rechtzeitig in Hotelstockwerke geschafft, die hoch genug lagen.
"Das war der Moment, in dem mir die Tragweite bewusst wurde"
Was sie für ein Glück hatten, erfuhren die Urlauber in den folgenden Tagen: Tilly erinnert sich an ein kleines Mädchen, das in ihr Hotel gebracht wurde. Es hatte am ganzen Körper Verletzungen und war schwer traumatisiert. Im Tsunami war die gesamte Familie des Kindes gestorben.
Im Hotel war nach dem Tsunami auch ein aus England eingeflogenes DNA-Team untergekommen, das bei der Identifizierung der Leichen half. Nachts saßen die Team-Mitglieder schweigend im Hotel und versuchten, die Eindrücke des Tages zu verarbeiten.
Als Tillys Familie Anfang 2005 nach Hause fliegen konnte, fragten Sicherheitsleute an Bord, wer Menschen durch den Tsunami verloren hatte. "Viele hoben die Hand", schrieb Tilly später in einem Beitrag für die Vereinten Nationen. "Das war der Moment, in dem mir bewusst wurde, welche Tragweite diese Katastrophe hatte." An Bord des Fliegers waren nur Urlauber: "Wie viel schlimmer muss es für die Menschen vor Ort gewesen sein, die so viele geliebte Menschen verloren hatten?"
Bill Clinton: "Bildung macht Unterschied zwischen Leben und Tod"
Ein Jahr später traf Tilly den ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton, der zu dem Zeitpunkt UN-Sonderbeauftragter für die weitere weltweite Unterstützung des Wiederaufbaus nach dem Tsunami war.
"Tillys Geschichte zeigt uns, wie wichtig es ist, jungen Menschen etwas über Naturgefahren beizubringen", sagte Clinton. "Tillys Geschichte ist eine Erinnerung daran, dass Bildung den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen kann."
- tumblr.com: "Tilly Smith: In disasters, lessons save lives", Beitrag von Tilly Smith für das Büro der Vereinten Nationen zur Reduzierung von Katastrophenrisiken (UNDRR) (Englisch)
- youtube.com: "Lessons save lives: How a schoolgirl outsmarted a tsunami", UNDRR-Beitrag (Englisch)
- thesun.co.uk: "If I hadn’t spotted that the sea was fizzing then my parents, sister and me would all be dead" (Englisch)
- undrr.org: "British schoolgirl hero meets President Clinton" (Englisch)
- irishtimes.com: "Schoolgirl 'angel' returns with poem" (Englisch)
- abcnews.go.com: "From Fear to Survival: Knowledge Is Key" (Englisch)
- news.bbc.co.uk: "Award for tsunami warning pupil" (Englisch)
- genesys-hannover.de: "Schweres Seebeben vor der indonesischen Insel Sumatra"