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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Nach ICE-Drama Eltern des getöteten Leo fordern mehr Bahnsteig-Sicherheit
Vor knapp einem Jahr starb der achtjährige Leo auf dem Frankfurter Hauptbahnhof, weil ihn ein Mann vor einen ICE stieß. Vor dem Prozess am 19. August fordern die Eltern bessere Sicherheitsvorkehrungen.
Den Eltern des vor fast einem Jahr vor einen ICE geschubsten Leo gehen mit einem Appell an die Öffentlichkeit. Kurz vor dem Prozess gegen den 41-jährigen Täter fordern sie, dass Ankündigungen zu größerer Sicherheit an Bahnsteigen auch Taten folgen. "Schreckliche Taten wie diese sowie tragische Unfälle dürfen in Zukunft nicht mehr geschehen oder nicht mehr hingenommen werden", heißt es in einer Erklärung ihres Anwalts Ulrich Warncke gegenüber t-online.de. Darin äußert sich die Familie dazu, wie es ihr heute geht, was sie erwartet und wie im Bahnhof ein Gedenken an den Jungen aussehen könnte. Sie fordert auch einen neuen Umgang mit psychisch Kranken.
Was im Bahnhof passiert ist: Leo starb am 29. Juli 2019 auf Gleis 7, erfasst von dem um 9.59 Uhr einfahrenden ICE. Zuerst war seine Mutter aufs Gleis geschubst worden, dann er. Die Frau hatte sich noch wegrollen können, musste aber den Tod ihres Kindes mit ansehen. Täter Habte A. floh, wurde verfolgt und unweit vom Bahnhof gefasst. Bei Habte A. handelt es sich um einen aus Eritrea stammenden Mann, der als Flüchtling in die Schweiz gekommen war. Dort galt er als Musterbeispiel für Integration, stand kurz vor der Einbürgerung.
Dann bekam A. psychische Probleme und war seit Januar 2019 krankgeschrieben. Unmittelbar vor der schrecklichen Tat in Frankfurt soll er in seiner Heimat eine Nachbarin mit einem Messer bedroht haben. Er war deshalb in der Schweiz zur Fahndung ausgeschrieben. Am Bahnhof Basel war A. von seinem Auto in einen Zug nach Deutschland umgestiegen. Ein Gutachten kam zum Schluss, dass er schuldunfähig ist.
Wie es der Familie geht: Das ganze Leben der Angehörigen kreist weiter um den Tod des Jungen, so Anwalt Ulrich Warncke. Die Familie selbst erklärt: "In den vergangenen Monaten stand einzig die Erinnerung und Trauer um unseren kleinen Leo im Vordergrund." Die Familie hat sich auch mit anderen verwaisten Eltern getroffen und ist in psychologischer Betreuung. Mutter, Vater und Schwester von Leo sind seit rund drei Wochen auch in einer Therapie mit täglichen Einzel- und Gruppensitzungen. Anwalt Warncke: "Der Jahrestag und der bevorstehende Prozess sind für die Familie besonders schwer zu ertragen." Belastend war auch, wie versucht wurde, das Kind zu instrumentalisieren.
Worum es im Prozess geht: Vom 19. August an wird verhandelt. Dabei geht es nicht um eine Gefängnisstrafe: Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, den Beschuldigten dauerhaft in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen – weil er mit seiner Krankheit als schuldunfähig gilt, aber eine Gefahr darstellt. Zum Unmut der Familie wirft die Staatsanwaltschaft ihm "nur" Totschlag und versuchten Totschlag vor. Das Gericht hat aber bereits erklärt, dass auch eine Verurteilung wegen Mordes und versuchten Mordes infrage komme. Dazu muss sich bei den bisher sechs angesetzten Verhandlungstagen herausstellen, dass Abte A. "unter bewusster Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit der Opfer" gehandelt hat.
Welches Gedenken die Eltern sich wünschen: An der Stelle, an der Leo starb, soll eine Gedenktafel angebracht werden. Sie soll auch andere Menschen an Leo erinnern. "Die große Zahl bewegender Briefe, Geschenke und Spenden hat auch gezeigt, wie sehr das Schicksal auch andere Menschen berührt hat." Grundsätzlich gibt es gegen eine Tafel auch bei der Bahn keine Vorbehalte, so Anwalt Warncke. Nun gebe es Entwürfe von Familie und Bahn in Abstimmung. "Es gibt vieles zu beachten. Es muss würdig und nicht plakativ sein, es darf keine Stolperfalle darstellen und muss beständig sein gegen Vandalismus, man weiß ja nicht, was Menschen vielleicht auch einfällt." Eine Bahnsprecherin erklärt: "Wir unterstützen den Wunsch nach einem Gedenken und stehen hierzu im engen Austausch mit der Familie. Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen."
Welche Konsequenzen die Eltern sich erhoffen: Nach Ansicht der Eltern ist seit der Tat viel zu wenig unternommen worden. Die Familie ist enttäuscht vom Stand der Umsetzung "einfach umzusetzender zusätzlicher Sicherheitsmaßnahmen für mehr Sicherheit am Bahnsteig". Sie erinnern sich an die Worte von Bundesinnenminister Horst Seehofer kurz nach der Tat. Er hatte verkündet: "Es wäre unmöglich, nach einem solchen Mord einfach zur Tagesordnung überzugehen." Doch aus Sicht der Eltern haben die kurz nach der Tat angekündigten Maßnahmen bis heute zu keinem sichtbaren Ergebnis geführt, wie es in ihrer Mitteilung heißt. Ihnen geht es um die Frage möglicher besserer Überwachung auch mit künstlicher Intelligenz, die auffälliges Verhalten aufspüren könnte. Der Eritreer hatte sich zeitweise hinter einem Pfeiler versteckt. Solch weitgehende Überwachung kollidiert aber auch mit Bedenken von Datenschützern.
Ein Prozent erkrankt an Schizophrenie
Rund ein Prozent der Bevölkerung erkrankt im Laufe des Lebens an Schizophrenie, die Gefahr vor allem für die Kranken steigt dann. Der allergrößte Teil bekommt die Symptome jedoch in den Griff, ohne sich oder anderen etwas anzutun. Stigmatisierung ist für diese Menschen ein großes Problem. Die größte Studie zu Schizophrenie-Patienten ergab aber in Schweden, dass fünf Jahre nach der Diagnose jeder neunte männliche Patient wegen einer Gewalttat verurteilt war (jede 37. Patientin) und 3,3 Prozent der Männer und zwei Prozent der Frauen verstorben waren. Laut Nahlah Saimeh, langjährige ärztliche Direktorin und Chefärztin von Forensiken und Psychiatrien in NRW, ist das Risiko eines Tötungsdelikts zehnfach erhöht gegenüber der Durchschnittsbevölkerung. Die Suizidrate ist deutlich höher, Schizophreniekranke rutschen auch häufiger in Obdachlosigkeit ab und verwahrlosen.
Was die Justiz ändern soll: Der Mann, der Leo getötet hat, ist laut Gutachten schizophren, beging die Tat unter paranoiden Wahnvorstellungen. Die Familie will eine Diskussion über den Umgang mit solchen Tätern: Mit Warncke hat sie einen Anwalt gewählt, der nach eigenen Angaben bereits 20 Fälle betreut hat, in denen Menschen von psychisch Kranken getötet oder schwer verletzt wurden. Die Gewalttäter litten unter paranoider Schizophrenie und waren nicht schuldfähig, vielfach aber gegen den Rat der Fachärzte wieder aus geschlossenen Kliniken entlassen worden. In der Erklärung der Familie heißt es deshalb: "Absoluten Schutz vor Gewalttaten psychisch kranker Menschen kann es naturgemäß nicht geben", heißt es in der Stellungnahme der Familie. "Oft muss es erst zu Taten wie dieser kommen, bevor eine geschlossene Unterbringung genehmigt wird."
Wer nicht einsieht, krank zu sein, und von Ärzten für gefährlich für sich oder andere gehalten wird, soll vorbeugend leichter gegen seinen Willen untergebracht werden können. Die Praxis hatte sich in Deutschland vor allem durch den Fall Mollath geändert: Gustl Mollath, ein etwas wunderlicher Querulant, war für Jahre in der geschlossenen Psychiatrie weggesperrt, obwohl Vorwürfe gegen ihn keine Substanz hatten. Der skandalöse Fall führte zu einer großen Debatte über Zwangsunterbringungen. Der deshalb geänderte "Mollath-Paragraf" soll sicherstellen, dass sich solche Fälle nicht wiederholen. Nun würden Gesetzgeber und Justiz billigend in Kauf nehmen, dass Menschen schwer verletzt oder getötet werden, so Anwalt Warncke.
Leos Leben hätte aber auch eine andere Gesetzeslage nicht gerettet. Die Frage einer Unterbringung hatte sich bei Habte A. nach den bisherigen Erkenntnissen noch gar nicht gestellt.
- Eigene Recherchen
- Mitteilung der Familie
- Tagesanzeiger: Vor der Attacke in Frankfurt gab es Warnsignale (Abo-Inhalt)