Mordfall Meredith Kercher Wer tötete die Studentin mit 47 Messerstichen?
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Eine Britin wird 2007 in einem Haus in Perugia aufgefunden – ermordet. Der Tod von Meredith Kercher macht Schlagzeilen. Weil ein jahrelanges Justizdrama mit Amanda Knox in der Hauptrolle folgt.
Bei der Polizei von Perugia geht ein Anruf ein. In der Via della Pergola 7 sei "jemand ins Haus eingedrungen. Er hat ein Fenster zerbrochen und alles verwüstet. Eine Tür ist abgesperrt." Es ist der 2. November 2007, um die Mittagszeit des Giorno dei morti, des Tages der Toten, wie die Italiener den Allerseelenfeiertag nennen.
Als die Polizei das Landhaus unterhalb des Zentrums der alten Etruskerstadt erreicht, warten Amanda Knox und ihr neuer italienischer Freund Raffaele Sollecito auf sie. Die junge Amerikanerin aus Seattle wohnt hier. Die beiden haben den Notruf abgesetzt. Im Inneren finden die Beamten ein Schlachtfeld. Das Fenster wurde offenbar mit einem großen Stein eingeworfen. Der oder die Täter haben ein Chaos angerichtet aus Scherben, zerfledderter Kleidung und verstreuten Gegenständen.
47 Messerstiche
Carabinieri lassen die verriegelte Tür im hinteren Winkel der Etage aufbrechen. Unter einer Daunendecke ragt ein Fuß hervor. Sie ziehen die Decke weg und sehen die halbnackte, blutverschmierte Leiche von Meredith Kercher, 21. Ihr schwarzer Slip und der BH: Ausgezogen. Das T-Shirt: Bis über die Brust geschoben. Alle Indizien deuten auf ein Sexualverbrechen. Die englische Gaststudentin an der örtlichen Uni mit den dunklen, rötlich schimmernden Haaren war gewürgt und mit 47 Messerstichen verletzt worden. Ein Schnitt in die Kehle hatte den Tod herbeigeführt.
Was diesem brutalen Mord an Meredith folgt, ist nicht nur ein menschliches und juristisches Drama über viele Jahre hinweg. Es erregt die Öffentlichkeit in Italien, England und den USA, lässt Menschen in den sozialen Netzwerken der Welt über Schuld und Unschuld streiten und beschäftigt die globalen Medien immer noch. 10.000 Seiten Akten wurden angelegt. An 500 Verhandlungstagen haben fünf italienische Gerichte bis zum römischen Kassationshof versucht, die Wahrheit über die Vorgänge des späten 1. und des frühen 2. November 2007 zu ermitteln. Ohne Erfolg. 40 erwiesene Ermittlungsfehler und ein so falscher wie offenbar fanatischer Fahndungsansatz eines Leitenden Staatsanwalts haben bisher alle Aufklärungsversuche scheitern lassen.
Es sind die Tage nach Allerseelen. Knox und Sollecito werden vernommen. Sie versichern: Die Tatnacht haben sie nicht im Landhaus, sondern in der Wohnung Raffaeles verbracht. Mit Drinks, Joints, Sex, mit Schlaf. Am Morgen, sagt Amanda, sei sie gegen zehn Uhr zurückgekehrt, um zu duschen. Sie habe den Einbruch entdeckt, Blutspuren, Fäkalien in der Toilette und die verschlossene Tür zu Merediths Zimmer gesehen und den Freund alarmiert. Nachgewiesen ist: Sie hat auch versucht, Meredith auf dem Handy anzurufen. Vergeblich.
"Satanistische Motive"
Irritierend für die Vernehmer ist, dass Knox sich merkwürdig gibt. Sie tänzelt, macht Yoga-Übungen vor dem Verhör. Das Paar küsst sich vor laufender Kamera. Es wirke seltsam unbeteiligt am Tod der Mitbewohnerin, notieren die Polizisten Zeugenaussagen: "In ihren Augen lag keine Emotion." Nach 14 Stunden Vernehmung – ist es Müdigkeit? – bricht Amanda zusammen.
Sie ändert ihre Aussage. Sie beschuldigt den kongolesischen Klubbesitzer Diys "Patrick" Lumumba, in dessen Bar sie aushilft, in der Tatnacht mit ihr die Wohnung in der Via della Pergola aufgesucht zu haben. Lumumba habe Meredith attraktiv gefunden – und sie getötet. Die Fahnder sehen sich am Ziel, verhaften Lumumba. Der bestreitet die Verwicklung.
Schnell strickt der Leitende Staatsanwalt Giuliano Mignini seine These.
Amandas Verhalten spielt darin eine Rolle, auch das kurz zuvor gefeierte Halloween. Es sei ein Mord aus "satanistischen Motiven" gewesen, ein dämonisches, sexuelles Ritualverbrechen, ausgeführt durch Knox, ihrem Freund Sollecito und dem Barbesitzer Lumumba. Mignini lässt ein Messer aus Raffaeles Küche holen. Vielleicht die Tatwaffe? Die Polizei von Perugia teilt mit: Der Fall ist gelöst, die Täter sind festgesetzt. Satanismus? So findet die Mutmaßung ihren Weg in die Schlagzeilen der Weltpresse.
Eine neue Spur
Doch das Konstrukt ist falsch. Es gibt längst die andere Spur. Das Zimmer von Meredith, die Bekleidung, ihre Haut und ihre Vagina sind voll von der DNA eines 20-jährigen Afrikaners von der Elfenbeinküste. Seine Fußabdrücke finden sie am Tatort. Rudy Hermann Guede ist in den Wochen zuvor durch Drogendeals und Einbrüche aufgefallen. Das Polizeilabor macht den genetischen Abgleich und meldet die Treffer. Nur: Wo ist Guede? Ein internationaler Haftbefehl folgt. Zwei Wochen nach der Tat wird er in Deutschland festgenommen, im Zug zwischen Koblenz und Mainz. Lumumba dagegen – inzwischen hat er ein belastbares Alibi – ist wieder frei.
Im Präsidium von Perugia erzählt Guede seine Sicht der Geschichte: Er und Meredith hatten Zärtlichkeiten in der Via della Pergola ausgetauscht. Er ging zur Toilette. Über zehn Minuten hörte er dort mit dem Kopfhörer Musik. In der Zeit läutete es an der Wohnungstür. Personen traten ein. Er erkannte Amandas Stimme: "Ich bin mir zu 101 Prozent sicher". Dann: Streit. Schreie. Er sei erregt in Merediths Zimmer gelaufen. Er sah Amanda und einen Begleiter, wie sie aus dem Haus rannten. Der Mann habe noch gerufen: "Schwarzer Mann am Tatort. Schwarzer Mann der Täter." Guede will noch Merediths Wunden abgebunden haben. Den Rettungsdienst? Alarmierte er nicht. Stattdessen: Angst. Panik. Auf der Flucht stieß er ein entgegenkommendes Pärchen an.
Zwei Erzählungen aus derselben Nacht. Drei junge Menschen, die irgendwie verwickelt sind. Eine junge Frau im Trio, Amerikanerin, hübsch, verführerisch. Ist sie die perfekte Mörderin? Der Staatsanwalt denkt so. Sie vor allem will er verurteilt sehen. Seine Leute streuen die Tattheorie unter Journalisten. Amanda Knox wird darin zum ruchlosen "Engel mit den Eisaugen", wie die Autoren Douglas Preston und Mario Spezi später ihr Buch zum Mordfall Meredith Kercher nennen.
Fragen über Fragen
Kann das alles so stimmen? Wer hat die Verwüstungen angerichtet, den mutmaßlichen Einbruch? War der Stein, den man fand, nicht viel zu groß für das Fenster? Wo ist die Hardware, was mit den Tatortbeweisen, die Knox und Sollicito belasten? Jetzt holt die Fahnder die lange Fehlerliste der ersten Stunden ein, Schlampereien bei der Sicherstellung der Asservate wie auch bei der Eingrenzung der Tatzeit. Den mit Blut bespritzten BH hat die Kriminaltechnik ohne den abgerissenen Verschluss eingepackt. Man wird ihn – auf dem zertrampelten Boden des Tatorts! – erst 43 Tage später und mit DNA-Sprengseln unter anderem von Sollecito verunreinigt finden.
Aber die können leicht übertragen worden sein. Als Beweis bleiben sie also ohne Wert. Luminol sollte Fußspuren von Amanda und Raffaele im Bad nachweisen – ein Fehlschlag, reagiert die Substanz doch auch auf Putzmittel. Schließlich geben zwei Gutachter zwei unterschiedliche Tatzeiten an. War es zwischen 21 und 23 Uhr? Oder doch zwischen 21 Uhr und vier in der Frühe?
Was hier richtig sein kann oder falsch – es sind die Kernfragen, die von nun an Italiens Richter verzweifeln lassen. Während Guede in einem abgetrennten Verfahren wegen Beihilfe zum Mord zunächst zu 30, dann zu 16 Jahren Haft verurteilt wird, führt die unsaubere Ermittlung bei Knox und Sollecito zu einem beispiellosen Wechselbad der Rechtsprechung. Ein Schwurgericht schickt sie 2009 für 26 und 25 Jahre ins Gefängnis. 2011: Das Urteil wird aufgehoben. Freispruch. Knox nimmt das nächste Flugzeug und fliegt in die Heimat. 2014: Beim Berufungsgericht Florenz folgt der nächste Schuldspruch. Er hält gerade ein Jahr. Im März 2015 entscheidet das oberste Gericht in Rom: Amanda und Raffaele sind frei.
Entschädigung für Amanda Knox
Anders als von Rudy Guede gibt es von ihnen keine DNA-Spuren in Kerchers Zimmer, urteilen Italiens oberste Richter: "Sie haben die Tat nicht begangen." Aber auch der Mann von der Elfenbeinküste könne nicht allein schuldig sein, findet die höchste Instanz. War Meredith Kercher nicht eine trainierte Kampfsportlerin? Den Mord an dieser jungen Frau müssen mehrere verübt haben. Wer noch? Das haben die Juristen offengelassen. Es ist so bis heute.
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Guede will nach Verbüßung der Haft in Italien bleiben: "Das ist mein Land." Sollecito, heute Informatikingenieur, denkt an eine Arbeit im Ausland. Knox hat in den USA Journalistik studiert, kümmert sich um Justizopfer und will in Seattle heiraten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sprach ihr im Januar 2019 eine Haftentschädigung von 20.000 Dollar zu, zu zahlen durch die Republik Italien. Und irgendwo im Süden Londons ist die trauernde, ratlose, verzweifelte Familie Kercher zurückgeblieben. Sie will wissen, was mit "Mez" passiert ist, damals, in Perugia in den Hügeln Umbriens.
- Douglas Preston und Mario Spezi; "Der Engel mit den Eisaugen", Knaur, 2013.
- Artikel: "Wer hat den Mord begangen?", in "Hessisch-Niedersächsische Allgemeine"
- Artikel: "Den letzten Makel ausgeräumt" , in "Süddeutsche Zeitung"