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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mordfall Peggy Warum scheitert die Fahndung nach ihrem Mörder?
Vor fast 18 Jahren wurde die 9-jährige Peggy Knobloch aus dem bayerischen Lichtenberg entführt. 2016 fand man Leichenteile. Spuren zu sechs Verdächtigen führten bisher in die Sackgasse. Das Städtchen ist mit den Nerven fertig, die Politik im Freistaat wird unruhig und der Druck auf die Ermittler wächst.
Peggy Knoblochs Mädchengesicht kennt die ganze Nation. Ihr zurückhaltendes Lächeln. Die blonden Haare. Ihre leuchtend blauen Augen. Das Publikum weiß, dass sie keine Scheu gegenüber Fremden hatte – und dass sie wohl nur neun Jahre alt wurde. Irgendjemand hat sie in diesem Alter aus einem entlegenen, 1.200 Seelen großen Städtchen im nördlichsten Zipfel Bayerns nahe der Grenzen zum Bundesland Thüringen und zur Tschechischen Republik entführt. Das geschah am 7. Mai 2001.
15 Jahre später, 2016, fand man zwölf Kilometer östlich des Wohnorts Lichtenberg in einem thüringischen Waldstück Leichenteile, die dem Mädchen zugeordnet werden konnten. Heute, wieder drei Jahre weiter und nach Auswertung von 4.800 Spuren und der Erstellung von 90.000 Aktenseiten, ist der Mörder immer noch frei. Er ist nicht einmal bekannt.
An Heiligabend hob der Amtsrichter den Haftbefehl auf
So schlägt der Mordfall aktuell eine nächste Volte. Der Bestatter Manuel S. (41) war im Herbst 2018 ins Visier der Ermittlung geraten. Bei Peggys sterblichen Überresten fanden Fahnder Pollen und Reste von Renovierungsarbeiten. Beides brachten sie in Zusammenhang mit Arbeiten von Manuel S. in seinem Garten und an seinem Haus. Vor allem: Er gestand – ohne Anwesenheit eines Anwalts und ohne eingeschaltetes Aufnahmegerät –, die Leiche des Mädchens beseitigt zu haben. Den Mord selbst will er nie begangen haben. Im Dezember widerrief er auch sein Teilgeständnis. Das Amtsgericht Bayreuth hat den Haftbefehl Heiligabend aufgehoben.
Es mangelt – wie bei all den anderen Verdachtsmomenten zuvor – am Essentiellen: Den belastbaren Beweisen. Falsche Fährten und rechtlich anfechtbare Verhöre zeichnen Teile der Ermittlungen aus. Ungewöhnliche Kinderpornofotos tauchen gleich zwei mal auf und nicht erklärbare DNA-Spuren führen in die rechte Terrorszene. Es wird sogar das Grab einer Greisin geöffnet, in dem man Peggys Knochen sucht. Ergebnislos. Die Fahndung im Fall der toten Peggy Knobloch wird zum Sammelsurium von Abstrusem und einer ungewöhnlichen Serie von Fehlschlägen. Wie ist es dazu gekommen?
Wie verschwand Peggy?
Der Tag der Tat. Susanne Knobloch arbeitet als Altenpflegerin im Schichtdienst. Die Mutter von Peggy ist alleinerziehend und geschieden, hat aber mit Erhan Ü. einen neuen Lebenspartner, für den sie zum Islam konvertierte. Am 7. Mai 2001, einem sehr kalten Tag, macht sich die Neunjährige nach dem Schulschluss um 12.50 Uhr auf den Heimweg und begleitet noch eine Freundin. Um 13.20 Uhr wird sie am Henry-Marteau-Platz in der Ortsmitte von Lichtenberg gesehen. Zeugen – unter anderem aus einem vorbeifahrenden Bus – bestätigen später: Sie habe vor ihrer Haustür gestanden. Doch als die Mutter um 20 Uhr heimkommt, ist Peggy nicht da. Keine Spur von ihrer Kleidung, die Schultasche ist verschwunden. Für Susanne Knobloch sieht es aus, als hätte die Tochter die Wohnung gar nicht erst betreten.
Die ersten Fahndungen: Ein verschwundenes Kind löst den größtmöglichen Alarm aus. Peggys Verschwinden führt zu einem der größten Polizeieinsätze der Republik. Rund um Lichtenberg suchen zwei Hundertschaften mit Spürhunden, 16 Taucher tun das in einem See. Hubschrauber und Tornado-Jets der Bundeswehr liefern Luftbilder. Nichts. Parallel nehmen Ermittler die Familie ins Gebet. Die Erfahrung: 84 Prozent der Fälle von Menschenraub und 82 Prozent aller Kindesmisshandlungen passieren in Familien. So hinterfragen sie in Lichtenberg die Alibis der Mutter und des Lebensgefährten von Susanne Knobloch, der türkischstämmig ist. Einer Spur wird in der Türkei nachgegangen. Auch hier überall: Fehlanzeige.
Das sagen Zeugen: Schnell melden sich Zeugen. Bewohner des Ortes wollen herumfahrende Fahrzeuge mit ausländischen Nummernschildern an diesem Tag gesehen haben. Peggy sei in einen roten Mercedes mit tschechischem Kennzeichen eingestiegen. Andere erinnern sich, das Mädchen sei bis zum frühen Abend auf der Straße unterwegs gewesen. Am Ende stützt die Kripo jedoch die Mutmaßung der Mutter, Peggy sei noch am Mittag vor Erreichen des Hauses auf den letzten Metern entführt worden. Die Tatzeit wird eingegrenzt: Zwischen 13.15 und 14.00 Uhr.
Die Verdächtigten: In den nächsten 18 Jahren geraten sechs Männer konkreter ins Visier der Ermittler. Aktuell ist das nach Polizeiangaben zwar nur noch der Bestatter Manuel S.. Aber schon früh gab es Fragen zum Verhalten von Robert E., Jens B. und Holger E. – und zum geistig Zurückgebliebenen Ulvi Kulac, der 2004 für die Tat verurteilt und nach zehn Jahren wieder freigelassen wird.
Nach dem Leichenfund 2016 scheint für kurze Zeit eine Sensation möglich. Ein winziger Stofffetzen an der Fundstelle lenkt den Verdacht auf den toten Rechtsterroristen Uwe Böhnhardt und seinen "Nationalsozialistischen Untergrund". War er – 1993 in Thüringen – nicht schon im Zusammenhang mit einem verschwundenen Kind befragt worden? Doch nichts belegt eine Verbindung zwischen dem Fall Peggy und den zehn NSU-Morden, die seit November 2011 die Schlagzeilen bestimmten. Wie Böhnhardts DNA an die Fundstelle kam? Das ist ungeklärt und nur mit einer Polizeipanne zu erklären.
Immer wieder Sackgassen: Auch die Spuren zu Robert E., Jens B. und Holger E. gehen bislang ins Off. Die drei stammen aus der unmittelbaren örtlichen Umgebung des Hauses der Knoblochs. Brisant daran: Zwei von ihnen haben mehrfach den sexuellen Kontakt zu Kindern gesucht und sich strafbar gemacht. Robert E. ist heute im Rentenalter. Er hat sein Patenkind (10) und die Stiefenkelin (11) missbraucht. Durchsuchungen blieben erfolglos. Bei Jens B., dessen Frau sich tagsüber um Peggy gekümmert hatte und der der Polizei durch immer neue Verdachtsmeldungen aufgefallen war, fanden die Ermittler Lücken im Alibi, aber kein Motiv.
Holger E. ist der Adoptivbruder von Jens B., den er häufig besuchte. Er war 2001 erst 17 Jahre alt. Er hat sich an der kleinen Tochter von Jens B. und am eigenen zweijährigen Kind vergangen. Dafür musste er in Haft. Mit Peggy habe er in den Osterferien 2001 "Zärtlichkeiten ausgetauscht", räumte er in der Vernehmung ein. Weil er in Halle an der Saale wohnte und zur Tatzeit keinen Führerschein hatte, kam er laut Polizei als Täter nicht in Frage.
Der Fall Ulvi Kulac: Kritiker sehen die Verurteilung des heute 42-Jährigen als den Skandal im Skandal. Sie hat zudem die Fahndung lange Zeit blockiert. Zurück ins Jahr 2002. Der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) will nach einem ersten erfolglosen Fahndungsjahr endlich Ergebnisse sehen. Er ersetzt die bisherigen Fahnder durch eine Soko Peggy 2. Deren Chef Wolfgang Geyer konzentriert sich auf Ulvi Kulac, der mit Peggy oft gespielt hat. Susanne Knobloch hat ihn verdächtigt. Kulac, auf dem geistigen Niveau eines Zehnjährigen, wird verhört.
Doch wie später bei Manuel S. ist auch bei ihm kein Anwalt dabei. Es läuft kein Band. Nach 40 Einvernahmen, in denen er eine Schuld bestritten hat, gesteht er. Er habe Peggy am 3. Mai 2001 vergewaltigt, sich am 7. Mai bei ihr entschuldigen wollen, die Fliehende an der Burgruine festgehalten und sie dabei erdrosselt. Versehentlich. "Sie bewegte sich nicht mehr."
Merkwürdig nur: Zur von ihm eingeräumten Tatzeit hat er nach Aussagen eines Zeugen in dessen Hof Holz gehackt. Auch andere Details stimmen nicht überein. Kulac widerruft sein Geständnis. Dennoch wird er nach einer Gutachter-Aussage zu seinen Lasten 2004 vom Landgericht Hof wegen Mordes zu Lebenslang verurteilt. Er muss für zehn Jahre in eine geschlossene Unterkunft, bis die amtliche Betreuerin Gudrun Rödel und der Strafrechtler Michael Euler eine Wiederaufnahme erreichen.
Im zweiten Prozess zeigt sich, dass die vernehmenden Beamten Ulvi Kulac das Geständnis eingeredet haben könnten. Sie hätten damit gedroht, ohne Geständnis nicht mehr "sein Freund" zu sein, sagt Kulac. Viel Druck für jemanden, der gerne um die Zuneigung anderer buhlt. Verschärfend: Ein V-Mann der Polizei, der ihn belastet hatte, muss eine Falschaussage einräumen. 2014 wird Ulvi Kulac freigesprochen.
Die Porno-Bilder: Das Verschwinden von Peggy Knobloch ist ein großes Thema im Netz. Mitten im Wiederaufnahmeverfahren um Ulvi Kulac tauchen 2014 überraschend pornografische Bilder im Internet auf. Sie zeigen ein Mädchen, vielleicht 13 oder 14 Jahre alt, mit einer frappierenden Ähnlichkeit zu Peggy. Das ist schon einmal, 2007, passiert. Ihr leiblicher Vater Mario S. will sogar eine Narbe am Kinn wiedererkannt haben. Es gibt Gerüchte, das Mädchen habe noch länger nach der Entführung in Weimar gelebt. Die eine Bilderserie stellt sich als Fälschung heraus, bei der anderen handele es sich definitiv nicht um Peggy. So sagt die Polizei.
Viele offene Fragen
Wie wird es 2019 weitergehen? Wird die Spur zum Bestatter Manuel S. noch einmal heiß? Muss die 30 Köpfe starke Ermittlertruppe die Ergebnisse der Verhöre der ersten Soko Peggy neu aufarbeiten? Wird der "Nahbereich" wieder wichtig, die enge Umgebung der Verwandten, Freunde, Nachbarn? Welche Rolle spielen Peggys Mutter, die kurz nach dem Verschwinden einen verlängerten Kinderausweis für ihre Tochter abholte, und der Stiefvater Erhan Ü.? Oder hat doch eine Kinderschänder-Mafia Peggy im roten Mercedes entführt, ins Milieu verschleppt und später getötet?
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Die Kritik wächst: "Hilferuf" heißt die Veröffentlichung einer Bürgerinitiative aus Lichtenberg. Sie hat sich nach dem Mordfall gebildet. Auch ein früherer Bürgermeister hat unterschrieben. Die Initiative wirft der Polizei vor, Zeugenaussagen aus den Tagen nach der Tat ignoriert oder sogar aus den Akten entfernt zu haben. Sie belegt das mit einer ganzen Liste. Ein zweiter Vorwurf, der des Strafrechtlers Euler: Nach der Konzentration der Ermittlungen auf Ulvi Kulac im Jahr 2002 seien andere Verdachtsmomente nicht weiter ermittelt worden.
Solche Debatten vor Ort beunruhigen inzwischen Bayerns Landespolitik. Der SPD-Landtagsabgeordnete Klaus Adelt: "Der Fall hat Lichtenberg nahezu paralysiert. Nachbarn haben sich gegenseitig nicht mehr getraut". Auch die regierende CSU schloss sich der Forderung nach Klartext an. Jetzt muss die Staatsregierung "zu gegebener Zeit" dem Landtag zu Ermittlungsstand und Fahndungspannen einen Report vorlegen.
- Bayerischer Landtag, Drucksachen CSU und SPD von Juli 2016
- tv Oberfranken 2017