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"Heulmeisje" – Wenn Tote keine Namen haben


Der Fall des "Heulmeisje"
Wenn Tote keine Namen haben

10.06.2018Lesedauer: 6 Min.
Eine kriminalistische Nachbildung des "Heulmeisje": Wer war die junge Frau, die an der Autobahn gefunden wurde? wird Ihre Identität jemals geklärt werden?Vergrößern des Bildes
Eine kriminalistische Nachbildung des "Heulmeisje": Wer war die junge Frau, die an der Autobahn gefunden wurde? wird Ihre Identität jemals geklärt werden? (Quelle: BKA)
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Täter unbekannt, Opfer auch. Manche Fahnder gehen mit quälenden Ungewissheiten in Pension. Wie beim "Heulmeisje". Nach ihrer Identität wird seit 42 Jahren gefahndet.

Schon 17 Jahre versuchen die Frankfurter Ermittler, das "tote Main-Mädchen" zu identifizieren. Passanten hatten die Leiche der Ermordeten 2001 am Mainufer entdeckt. Sie war verpackt. In Hockstellung, Beine und Arme an den Körper gepresst, in einen braunen Bettbezug mit Leopardenmuster gewickelt. Ein Sonnenschirmständer, wie man ihn in Baumärkten bekommt, hing daran. Er sollte als Sinkgewicht dienen. Dem 13- bis 16-jährigen Opfer mit wohl langen, dunkelbraunen Haaren war viel Gewalt angetan worden, ermittelten die Gerichtsmediziner. Sie stellten "multiple Verletzungen" fest: Brüche beider Oberarme. Narben an Stirn, Rumpf, Beinen. Überall Brandwunden. Man hatte sie mit brennenden Zigaretten gefoltert.

Drei Tote, keine Identität

Das "tote Main-Mädchen", über das sich die Mordkommission 3 der Main-Metropole auch nach 17 Jahren noch Hinweise erhofft, gehört zu den aktuell 3200 Leichen, die in Deutschland keiner Identität zugeordnet werden können. Wie der dunkelblonde Mann, unrasiert, zwischen 40 und 65 Jahre alt, den sie 2004 aus dem Teltowkanal in Berlin geborgen haben. Wie auch die junge Frau, mögliche Mutter eines zehn bis zwölf Jahre alten Kindes, die 2002 in einem Segelhafen nahe dem Bremer Weserstadion in einen Teppich eingerollt gefunden wurde. Sie stammte wohl aus Osteuropa.

Die Mehrzahl dieser Toten sind Männer. Nur die wenigsten sind Verbrechensopfer. "Eher selten" sei das so, sagt ein Fahnder. In den meisten Fällen melden sich suchende Angehörige, Freunde oder Arbeitgeber spätestens nach Tagen. Aber wenn keine Vermisstenmeldung vorliegt, keine persönlichen Sachen aufgefunden wurden, wenn dann noch Verletzungen auf tödliche Gewalt hindeuten, heißt das: Kein Opfername, kein Täterumfeld. Für die Polizei beginnt eine nervenaufreibende Puzzle-Arbeit.

"Heulmeisje" ist das Langzeit-Rätsel des BKA

Wie beim "Heulmeisje". Es hat einen Stammplatz auf der Liste der unbekannten Toten des Bundeskriminalamtes. Es ist ihr Langzeit-Rätsel. Die Suche nach seiner Identität hat unglaubliche Volten geschlagen. Es ist, weiß man heute, im jungen Teenager-Alter von 12 oder 13 getötet worden. Das war im Herbst vor 42 Jahren in den Niederlanden an der viel befahrenen Autobahn A12, die Touristen vom Rhein-Ruhr-Raum an die Strände der Nordsee und Fernfahrer in die großen Seehäfen der Benelux-Region schaufelt. Zahlreiche der ermittelten Spuren führen seither nach Deutschland. Mehrfach haben die Ermittler davon in Sendungen wie "XY Ungelöst" des ZDF oder dem niederländischen Pendant "Obsporing Verzocht" erzählt. Das hat Verdachtsmeldungen ergeben. Aber keinen zielführenden Treffer.

Es ist Sonntag, der 24. Oktober 1976. In der alten Bundesrepublik hat Kanzler Schmidt die Wahl gewonnen und Schalke Bayern mit 7:0 geschlagen. Zwischen Arnheim und Utrecht, in der Fahrtrichtung Deutschland, findet ein Förster im bewaldeten Umfeld eines Autobahnparkplatzes eine nackte, halb verweste Mädchenleiche. Sie liegt unter herabgewehten Blättern. Der Parkplatz beim Ort Maarsbergen heißt "De Heul". Die Tote wird zum Heulmeisje.

Schnell gibt es einen Verdacht: Ist nicht, im Jahr zuvor im benachbarten Bilthoven, die 18-Jährige Monique Jacobs verschwunden? Leichenteile mit der DNA-Methode zuzuordnen, das gibt es noch nicht. Und so scheint sich ein ungeklärter Vermisstenfall in traurige Sicherheit zu verwandeln. Die Tote ist Monique Jacobs, sie wurde ermordet, sind sich Polizei und Angehörige nach kurzer Zeit einig. Die Akte Heulmeisje wird geschlossen, ohne, dass ein Täter ermittelt wurde. Die auf dem Parkplatz gefundenen sterblichen Überreste, vermeintlich die von Monique Jacobs, werden im Grab 26 auf dem Kirchhof von Maarn beigesetzt.

Doch die vermeintlich schnelle Lösung des Falles stellt sich als ein fataler Irrtum heraus. Denn Monique Jacobs lebt. 2006 reist sie mit dem Zug aus Deutschland an. Sie meldet sich bei Verwandtschaft und Polizei. Sie hat aus eigenen Gründen ein eigenes Leben ohne Kontakt nach Hause führen wollen.

Wissenschaft bringt Aufklärung voran

Die Fahnder sind fassungslos. Zu welchem Mordopfer gehören dann die Knochen in Grab 26? Nach dreißig Jahren klappen sie ihre Akte wieder auf. Die Kriminaltechnik hat ungeahnte Fortschritte gemacht. Tests des Erbguts DNA gehören zur Regel. In Utrecht und an der Uni von Amsterdam, wohin die Gebeine des Mordopfers von 1976 gebracht worden sind, erfahren Polizisten wie Wim Perlot und Forscher wie Gareth Davies bald mehr. Sie lesen in den Leichenteilen aus dem Kirchhof von Maarn wie in einer Biografie.

Die Tote, steht für sie fest, war jünger als 1976 angenommen. Sie könnte zwischen 1960 und 1964 geboren sein. Sie war 1,60 Meter groß und schlank, hatte zu Lebzeiten kastanienbraunes Haar und eine helle Haut. Das alles ergibt sich aus der jetzt möglichen Epiphysen-Untersuchung der Knochen. Und im Labor erfahren die Experten noch mehr: Heulmeisje lebte in den ersten sieben Jahren irgendwo zwischen Eifel und Ruhrgebiet. Grundwasserspuren in der Leiche, teils vulkanischen Ursprungs, sind typisch für dieses Gebiet.

Die Analyse ist Anlass, die Fahndung auf das nahe Ausland auszudehnen. Im Jahr nach der überraschenden Wende in Sachen Monique Jacobs, Anfang 2007, geht ein Rechtshilfeersuchen der Rijkspolitie in Heerlen bei den Kollegen im deutschen Erftstadt bei Köln ein. Ob die dort seit dem 5. Mai 1976 vermisste Pauline Sybille Breuer mit der in Maarsbergen gefundenen Toten identisch sein könnte? Deren Schwester wird um eine DNA-Probe gebeten. Die alte Faustregel scheint bestätigt: Nicht selten greift ein Kriminalfall in den anderen.

Paulines Schwester Gertrud hatte die Vermisste zuletzt gesehen. An einem Sommerabend 1975 stand die damals 22-Jährige betrunken bei ihr in der Tür, hatte eine Pistole, einen Schlagring und eine Flasche Bier in der Tasche und gesagt: "Ich hab noch was Wichtiges zu erledigen. Pass gut auf dich und deine Kinder auf. Du hörst von mir." Es waren ihre letzten bekannten Sätze.

Es bleiben viele Fragezeichen

Die neuartige Nutzung des Erbguts für Ermittlungszwecke kann aber auch Fakten schaffen, die eben nicht die Sicherheit bringen, die Angehörige von über viele Jahre Vermissten so dringend brauchen. Die DNA von Heulmeisje hat am Ende nicht mit der von Pauline Sybille Breuer übereingestimmt.

Wer war Heulmeisje? Und wer hat das junge Mädchen, dessen Leiche auf dem niederländischen Autobahnparkplatz gefunden wurde, umgebracht? Nach drei Jahrzehnten und manch falscher Spur bleiben die beiden großen Fragezeichen. Zeit für die Zwischenbilanz: Was liegt auf dem Tisch? Was wissen wir?

Die niederländische Kripo hat – teils aufgrund der TV-Fahndungen – ganze Aktenberge von Informationen und Aussagen gesammelt. Auch das Bundeskriminalamt kennt greifbare Ergebnisse: "Circa 1975 soll sich das Mädchen in Ost-Deutschland oder in Osteuropa aufgehalten und bis zum Todeszeitpunkt in Westeuropa (Deutschland oder Niederlanden) gelebt haben." In der Zeit aber vor ihrem Tod, also im Jahr 1975, habe sie sich "sehr einseitig ernährt". Gründe dafür: Eine "extreme Armut". Oder auch eine Entführung.

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Der niederländische Professor Gareth Davies hat für diese Erkenntnisse die Isotopen-Methode verwendet. Isotopen sind Informationsträger in Haaren, die über aufgenommene Nahrung Auskunft geben können. Heulmeisje, sagt er, habe zunächst die Nahrung erhalten, die der der Menschen im reichen Nordwesteuropa entspricht. Später bis zum Tod habe sie Hunger gelitten.

Das könnte bedeuten: Die Spur führt ins Rotlicht-Milieu. Zwischenzeitlich ist ja ein Peter C. in Verdacht geraten, der für fünf Morde an Prostituierten in der Umgebung von Maastricht verantwortlich gemacht wurde und 1976 in Maarsbergen zur Schule gegangen ist. Andererseits: Ein Autofahrer will zur möglichen Tatzeit eine junge Frau und einen Begleiter als Anhalter mitgenommen und nahe der Fundstelle rausgelassen haben: "Sie sprachen deutsch." Ein Taxifahrer erinnerte sich an einen Fahrgast, der angetrunken war und von Heulmeisje interessante Dinge erzählt hat. Sie komme aus Essen im Ruhrgebiet, hat er angedeutet. Wenn es diesen Fahrgast gab: War er der Täter?

2012 schließlich, als längst ein auf der Basis der Kriminaltechnik rekonstruierter Kopf von Heulmeisje Teil der Öffentlichkeitsfahndung ist, hinterlegte ein Informant: Zwei Männer hätten zur fraglichen Tatzeit einen leblosen Körper weggeworfen. Sie seien damals 30 oder 40 Jahre alt gewesen. "Sie sind heute dementsprechend in den Siebzigern", sagt das BKA. "Die Polizei will in Erfahrung bringen, wer diese Männer sind."

Seit fünf Jahren ermittelt ein sogenanntes "Cold Case"-Team der niederländischen Polizei, eine Spezialeinheit für lange ungeklärte Fälle. Die Suche geht weiter. Bei Heulmeisje, im Fall des Main-Mädchens, des Mannes aus dem Teltow-Kanal und Dutzenden anderen unbekannten Verbrechensopfern. Mord verjährt nicht.

Verwendete Quellen
  • eigene Recherche
  • Algemeen Dagblad
  • Kölner Stadtanzeiger
  • Obsporing Verzocht, XY Ungelöst
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