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Sicherheitsbericht: Zahl der Unfälle bei der Bahn nimmt deutlich zu


Alarmierender Sicherheitsbericht
Zahl der Unfälle bei der Bahn nimmt deutlich zu

Aktualisiert am 27.09.2018Lesedauer: 6 Min.
Warnschild an einer Eisenbahnstrecke in Köln: Das Eisenbahnbundesamt registrierte noch nie mehr Unfälle auf den Strecken der Bahn.Vergrößern des Bildes
Warnschild an einer Eisenbahnstrecke in Köln: Das Eisenbahnbundesamt registrierte noch nie mehr Unfälle auf den Strecken der Bahn. (Quelle: Future Image/imago-images-bilder)
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Im deutschen Schienennetz kam es 2017 zu 346 "signifikanten Unfällen", die höchste Zahl seit langem. Besonders zu schaffen machen der Bahn Rotlicht-Sünder – Lokführer, die Stopp-Signale überfahren oder Fahrdienstleiter, die Signale falsch stellen.

2017 war für die Sicherheit der Bahn in Deutschland ein schwarzes Jahr. Auf den Schienenwegen gab es mit 346 „signifikanten Unfällen“ die höchste Unfallzahl seit der Unfallerfassung durch das Eisenbahnbundesamt im Jahr 2010. Im Vorjahr, 2016, waren es noch 310 Unfälle.

Nach dem neuen Sicherheitsbericht der Bonner Behörde, der t-online.de vorliegt, hat sich die Zahl gegenüber dem Vorjahr im Einzelnen um 11 Kollisionen, fünf Entgleisungen und 23 Bahnübergangsunfälle erhöht. 165 Menschen wurden dabei schwer verletzt – die höchste Zahl der Verletzten seit 2007. 157 Menschen starben bei den Unfällen, sieben mehr als im Vorjahr. Allerdings waren die wenigsten der Todesopfer Fahrgäste, sondern meist Menschen, die sich zum Beispiel im Gleisbereich aufgehalten hatten. Zudem gab es über 700 Suizide.

112 mal in der "Gefahrenzone"

Generell sei die Sicherheitslage im deutschen Schienennetz gut. Das Bundesamt sieht jedoch eines der größten Sicherheitsprobleme beim Überfahren von Rotlicht. "Im Bereich der überfahrenen Haltesignale nahm die Zahl der Ereignisse nach dem deutlichen Anstieg im Jahr 2014 mit 25 Prozent im dritten Jahr in Folge weiter zu", heißt es in dem neuen Report. Laut Bericht hat es hier im letzten Jahr Vorgänge gegeben, bei denen vor einer Notbremsung 112 mal eine "Gefahrenzone" erreicht wurde, in weiteren 431 Fälle wurde noch vor Erreichen der Gefahrenzone gebremst.

Erwähnt wird in dem Bericht in diesem Zusammenhang ein dramatisch verlaufener Beinaheunfall eines ICE bei Wuppertal am 1. Februar letzten Jahres, der weitgehend unbekannt ist. Der Lokführer des Hochgeschwindigkeitszug, der von München nach Dortmund unterwegs war, sah gegen 22.54 Uhr bei der Durchfahrt durch die kleine Station Gruiten zwischen Solingen und Wuppertal unmittelbar vor ihm im gleichen Gleis Schlusslichter eines stehenden Regionalzugs. Der Lokführer, für den das Signal eben auf freie Fahrt gesprungen war, ging hart in die Bremsen. Der Triebkopf des Hochgeschwindigkeitszugs kam vor dem Regionalzug in letzter Sekunde zum Halten. „Meister“, rief der Lokführer erregt das Stellwerk über Zugfunk an, „vor mir steht ne RB 48 am Bahnsteig. Ich steh 20 Meter vor dem Ding“.

Über 100 Jahre alte Stellwerke

Der Dialog zwischen Führerstand und Stellwerk ist in einem Report der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU) detailliert wiedergegeben, die dem Eisenbahnbundesamt, der Aufsichtsbehörde in Bonn, angegliedert ist. Er zeigt, dass das insgesamt hohe Sicherheitsniveau der Bahn auch der Aufmerksamkeit von Lokführern wie dem des ICE 1222 München-Dortmund zu verdanken ist. Denn die DB AG hat, erkennbar seit 2011 und verstärkt seit 2014, ein Problem auf vielen ihrer Fahrwege.

Viele Stellwerke sind veraltet. Von den 2776 Stellwerken im Netz werden 752 – Stand 2016 – noch immer mechanisch, also von Hand bedient. Sie sind teils über 100 Jahre alt, obwohl es bereits seit 1894 weit modernere Techniken wie die elektromechanischen gibt. Von denen des dritten Jahrtausends auf digitaler Basis gar nicht zu reden.

Es gibt Nachwuchsmangel auf den Stellwerken. Die Bahn lockt deshalb auch Quereinsteiger in den Job mit einer Ausbildungszeit von 109 Tagen.

Ein- bis zweimal täglich Rot-Signale missachtet

Signale werden durch die Fahrdienstleiter häufiger falsch gestellt oder durch die Lokführer häufiger missachtet. Im Schnitt werden im Netz inzwischen ein- bis zweimal täglich Rot-Signale schlicht missachtet. Rotlicht-Sünden gehören inzwischen zu den vier schwersten Unfallursachen auf der Schiene.

Nicht-bundeseigene Eisenbahnen nutzen seit der weitgehenden Privatisierung Anfang der 1990er Jahre gegen Bezahlung das Netz der staatlichen Bahn AG, die dort für einen sicheren Fahrweg sorgen muss. Sie sind in der Organisation Mofair zusammengeschlossen. Mofair hat Alarm geschlagen und nach einer Reihe spektakulärer Unfälle am 2. Januar 2018 einen Brand-Brief an die DB Netz AG geschickt. "In den vergangenen Jahren hatten wir einige Unfälle und eine Vielzahl von Beinahe-Unfällen", heißt es in dem Schreiben, das die 'Wirtschaftswoche' veröffentlicht hat. "Nach unseren Erkenntnissen gaben die Fahrdienstleiter der DB Netz AG jeweils falsche Fahrbefehle."

Schwere Unglücke seit 2011

Eine Serie von mit der "Fahrbahn-Steuerung" zusammenhängenden Bahn-Unglücken begann im Januar 2011. Auf einer eingleisigen Strecke bei Magdeburg kollidierte ein Personenzug mit einem Güterzug. Bei dichtem Nebel hatte der Güterzug-Lokführer das Haltesignal übersehen. Die Strecke war nicht mit einem Zugbeeinflussungs-System PZB ausgestattet, dessen Installation zu einer automatischen Zwangsbremsung geführt hätte. Zehn Menschen in dem Regionalzug starben, 23 wurden schwer verletzt.

August 2014. Der Lokführer eines Güterzugs, unterwegs von Duisburg ins ungarische Sopron, überfuhr in Mannheim mehrere rote Haltesignale und rammte den IC Graz-Saarbrücken seitlich. Er war zwar vorher mehrfach zwangsgebremst worden, hatte die Bremsvorgänge aber immer wieder aufgehoben. 35 Fahrgäste im IC wurden verletzt.

Februar 2016. Bei einem Zusammenstoß auf der eingleisigen Strecke beim bayerischen Bad Aibling starben zwölf Zuginsassen, 89 wurden teils schwer verletzt. Die Schuld lag beim Fahrdienstleiter im Stellwerk, stellte ein Gericht später fest. Er hatte auf seinem Smartphone "Dungeon Hunter 5" gespielt und beiden Zügen freie Fahrt gegeben, die sich jeweils von Kolbermoor und Bad Aibling in Gegenrichtung in Bewegung gesetzt hatten und dann kollidierten.

Dezember 2017. Beim niederrheinischen Meerbusch wurde der Regionalzug Köln-Krefeld der Gesellschaft "National Express" in ein Gleis geleitet, in dem bereits der Güterzug Dillingen-Rotterdam zum Stillstand gekommen war. Der Regionalzug-Lokführer sah das Hindernis im letzten Moment und leitete die Notbremsung ein. Bei der unvermeidlichen Kollision wurden neun Fahrgäste schwer- und 41 leicht verletzt.

Zuletzt: Aichach in Bayern, Mai 2018. Zwei Tote und 14 Verletzte sind die Bilanz der Kollision eines Regionalzugs mit einer im Gleis stehenden Güterzuglok. Das Stellwerk hatte den Regionalzug-Lokführer auf das bereits belegte Gleis geschickt.

Der Faktor Mensch

"Der schwere Eisenbahnunfall von Bad Aibling sowie einige weitere Ereignisse zeigen, dass dem Faktor Mensch und seinem Wirken im System Eisenbahn verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Auch die hohe Zahl an überfahrenen Bahnsignalen fällt in diesen Bereich", stellte das Eisenbahnbundesamt schon im vergangenen Jahr fest. Sein Rat: In Gesprächen mit Lokführern und Stellwerkspersonal soll den Gefahren vorgebeugt werden.

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Auch die Gerichte gucken eher auf den Menschen nach solchen Dramen. In den Strafprozessen finden sie meist "menschliches Versagen" als Ursache und urteilen auf "fahrlässige Tötung". Lokführer und Fahrdienstleiter im Stellwerk müssen also meist – neben der psychischen Belastung durch die Verantwortung für Tote und Schwerverletzte – gegebenenfalls ins Gefängnis.


Dabei kann es aber auch um Systemfehler gehen, wenn die Technik veraltet und nicht darauf eingerichtet ist, Lokführer und Fahrdienstleiter vor oder nach einem Fehler zu warnen. Wie in Bad Aibling, wo die zwölf Menschen sterben mussten. Schon in den 1980er Jahren hat eine bahninterne Richtlinie empfohlen, alte Relaisstellwerke wie das an der bayerischen Unfallstrecke so nachzurüsten, dass die Freigaben mit einem leuchtenden Pfeil gekennzeichnet und somit für den Fahrdienstleiter wesentlich sichtbarer sind. Passiert war bis zum Unfall wenig.

Bahn will nachrüsten

Das ändert sich gerade. Im Januar 2019 will der Konzern mit eben dieser Nachrüstung beginnen. 600 Stellwerke sollen eine Warnanlage erhalten, die mit lauter Sirene und einem blinkenden Licht den Fahrdienstleiter darauf hinweist, dass die Strecke, die er gerade freigeben will, besetzt ist. Ausgelöst wird die Warnung mit Sensoren im Gleis. 90 Millionen Euro kostet der Umbau, der 2024 abgeschlossen sein soll.

Parallel hat die Bahn AG eine Zukunfts-Offensive gestartet, die mit einem neuen System namens ETCS Signale generell überflüssig macht. Züge sind danach digital so gesteuert, dass die Lokführer über Computer alle Fahrbefehle auf das Cockpit-Display gespielt bekommen. Der Bahnvorstand spricht vom Projekt "Digitale Schiene Deutschland", das in den Jahren 2020 bis 2040 realisiert werden soll. Einige andere europäische Länder haben ähnliches schon.

Das Problem: Faktisch bedeutet der Plan einen Totalumbau des deutschen Schienennetzes und der meisten Fahrzeuge – mit enormen Kosten von 20 bis 30 Milliarden Euro, konservativ gerechnet. Die Bundesregierung hat eine Kostenübernahme noch nicht zugesagt. Auf eine Bundestags-Frage der Linken hat das Verkehrsministerium festgestellt, die DB müsse bitte zunächst genauer mitteilen, wann was gemacht werden soll, "bevor eine Finanzierungsentscheidung getroffen werden kann".

Verwendete Quellen
  • Süddeutsche Zeitung 251/16, Wirtschaftswoche
  • Untersuchungsbericht BEU v. 12.09.2017
  • Jahressicherheitsberichte Eisenbahnbundesamt
  • Bundestags-Drucksache 19/3254
  • Eigene Recherchen
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