Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Neue Rolle, neue Führung Wer hätte das gedacht

Die Wahl haben sie krachend verloren. Ihre Superstars Habeck und Baerbock sind abgetreten. Und jetzt? Schreiben die Grünen erst einmal Geschichte.
Uli Hoeneß kennt sich im Fußball sehr gut aus. Auch im Leben kennt er sich aus. Und im Business. Er hat Bayern München zu einem kleinen, aber feinen Weltkonzern gemacht und dabei solide gewirtschaftet. Als internationale Konkurrenten wie Real Madrid, Juventus Turin oder der FC Barcelona milliardenhohe Schuldenberge auftürmten, um den sportlichen Erfolg zu erzwingen, legte Hoeneß das legendäre Festgeldkonto der Bayern an: Vorsorge für schlechte Zeiten. Er war die lebende Schuldenbremse im risikofreudigen Fußballgeschäft.
In der vergangenen Woche sprach Sandra Maischberger im TV mit Uli Hoeneß, statt um Fußball ging es um Politik. Ich hätte bei Tipico 10 Euro darauf gewettet, dass Hoeneß Merz und Klingbeil frontal angehen würde: Diese Schuldenkönige, die verzocken unsere Zukunft! Aber auf die Frage, was er von dem milliardenschweren Finanzpaket halte, sagte er: "Ich finde das total richtig." Die neue Regierung müsse investieren, darauf komme es jetzt an, die alte Regierung habe schon genug Zeit verloren. Ja, der Uli ist immer für eine Überraschung gut. Und recht hat er auch noch.
Hoeneß schickte noch die Forderung hinterher, es müsse jetzt alles ganz schnell gehen, es dürfe nicht noch Zugeständnisse an die Grünen geben. Damit lag er auf einer Linie mit den meisten professionellen Beobachtern der Politik. Medien, Professoren und Lobbyisten appellierten an die demokratische Mitte, Einigkeit zu demonstrieren. Und Handlungsfähigkeit. Die Grünen sollten ihre staatspolitische Verantwortung wahrnehmen, ohne parteitaktische Spielchen. Friedrich Merz und Lars Klingbeil sahen das auch so.

Zur Person
Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, bei t-online erscheint jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman". Mehr
Als sich die Grünen trotzdem widerspenstig zeigten, hieß es, sie seien beleidigt, weil Merz sie noch kurz vor der Wahl als "linke und grüne Spinner" attackiert hatte. Markus Söder hatte Robert Habeck ein fieses "Auf Nimmerwiedersehen" gewünscht. Ja, das sei ungeschickt gewesen, urteilte die öffentliche Mehrheitsmeinung, aber jetzt sei die Lage doch so: Der Russe droht, der Ami spinnt, und ihr wollt persönliche Befindlichkeiten ausleben?
Nein, das wollten sie gar nicht. Obwohl sie Merz im Bundestag noch einmal kühl abtropfen ließen, als die Zeit für eine Einigung bereits knapp wurde. Es ging aber nicht um Nettigkeiten im Umgang miteinander, sondern um Forderungen in der Sache. Die neuen Schulden dürften nicht nur für Sicherheit und Infrastruktur eingesetzt werden, auch der Klimaschutz müsse auf die Prioritätenliste; alles andere wäre für eine grüne Partei der Selbstaufgabe gleichgekommen. Vor allem aber bestanden sie auf einem sperrigen Wort, das die künftigen Koalitionäre auf keinen Fall buchstabieren wollten: Zusätzlichkeit.
Regieren kann so leicht sein
Ohne dieses Wort hätte die neue Regierung zum Beispiel die Sanierung von Bahnstrecken künftig aus dem Sondervermögen finanzieren können statt aus dem Bundeshaushalt. Und im regulären Haushalt würde es Geld regnen: für die Mütterrente, für die Senkung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie, für die Diesel-Subvention in der Landwirtschaft. Regieren kann so leicht sein. Dem haben die Grünen einen Riegel vorgeschoben: keine Grundgesetz-Änderung, die Merz und Klingbeil einen Batzen Spielgeld in die Hand gibt! Ich formuliere es bewusst pathetisch: Sie haben unserem Land einen Dienst erwiesen.
Sie, das sind vor allem Britta Haßelmann und Katharina Dröge, die beiden Fraktionschefinnen. Zwei Frauen, die bisher in der zweiten Reihe standen, hinter Habeck und Baerbock. Nach dem Rückzug der beiden Superstars richteten sich alle Augen und alle Scheinwerfer auf sie. Man sah: Die beiden können es. Ihre Worte sind nicht so tiefgründig wie die von Robert Habeck, ihr Auftritt ist nicht so stylish wie der von Annalena Baerbock. Aber da standen zwei erwachsene Frauen, die in einer historischen Ausnahmesituation starke Nerven und einen klaren Kompass hatten. In der Sache klar, im Ton verbindlich – die hartgesottenen Kerle der Union staunten nicht schlecht. Und die ehemaligen Partner in der SPD mussten erkennen, dass sie vor allem ehemalig sind. Chapeau!
Endlich schreibt es einer
Das wäre eigentlich ein schöner Schluss für diese Kolumne. Die Sympathisanten der Grünen unter Ihnen könnten sagen: Endlich schreibt es einer, danke an den Elder Statesman. Die anderen, denen die Grünen in den vergangenen drei Jahren ziemlich auf den Wecker gegangen sind, könnten großzügig einräumen: Ja, dieses eine Mal haben sie es richtig gemacht. Vielleicht würde sogar Uli Hoeneß zustimmen.
Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende, nächste Woche beginnt ein neues, ein ganz anderes Kapitel. Dann tritt der neue Bundestag zusammen. Dann bekommen die Grünen zu spüren, dass sie die Wahl verloren haben. 11,6 Prozent, nur noch 85 Sitze, vorher waren es 118. Opposition statt Regierung. Und vor allem: Merz und Klingbeil kommen ohne sie aus. Union und SPD haben die Kanzlermehrheit, das reicht. Eine Zweidrittelmehrheit brauchen sie im politischen Alltag nicht, sie hätten sie ja auch mit den Grünen gar nicht mehr.
Im Alltag werden die Grünen einen Bedeutungsverlust erleiden. Haßelmann und Dröge, die gerade noch einmal erfolgreich mitregiert haben, sind nicht einmal Oppositionsführerinnen im neuen Bundestag, diese Rolle fällt Alice Weidel zu. Eine trostlose Perspektive für eine Partei, die sich schon als neue Volkspartei sah, die 2021 die Kanzlerin und 2025 den Kanzler stellen wollte. Baerbock: gescheitert, Habeck: gescheitert.
Wo liegt ihre Zukunft?
Jetzt müssen die Grünen sich neu aufstellen, bescheidener als zuvor. Und die strategische Frage beantworten: Wo liegt ihre Zukunft? Nach wie vor in der politischen Mitte, die mit Friedrich Merz, dem impulsiven Kanzler in Ausbildung, schon hadert, bevor er überhaupt gewählt ist? Cem Özdemir will demnächst Ministerpräsident in Baden-Württemberg werden; wenn überhaupt, hat er nur eine Chance mit einer Partei, die bis zur Langeweile bürgerlich daherkommt. Oder liegt die Zukunft der Grünen (wieder) im linken Spektrum, bei den Aktivisten, den NGOs, bei Fridays for Future, auf dem Kirchentag und an den Universitäten?
Außerhalb ihres ureigenen Milieus haben die Grünen zuletzt vor allem Ablehnung provoziert. Ihr technokratischer Regierungsstil, ihre volkspädagogischen Belehrungen, ihr Verständnis für jegliche Minderheit, gepaart mit einem profunden Desinteresse an den Empfindungen der Mehrheit, hat die Mitte der Gesellschaft enttäuscht. Innerhalb ihres Milieus haben sie aber ebenfalls Ablehnung erzeugt. Weil sie eine Migrationspolitik mitgetragen haben, die auf die Abschottung Europas setzt und die Abschiebungen nach Afghanistan erlaubt. Wegen einer Außenpolitik, die den Krieg als Mittel zur Durchsetzung des Völkerrechts akzeptiert.
Die Linke, eine mehrfach totgesagte Partei, hat ein sensationell gutes Wahlergebnis erzielt. Sie zeigt, wie man lustvoll dagegen sein kann, dass man alles und jedes fordern kann. In der linken Nische ist man woke, am besten queer, man wählt sein Geschlecht selbst und sagt keine bösen Wörter. Hier gilt: Konzerne enteignen! Refugees welcome! Frieden schaffen ohne Waffen! Sind diese einfachen Parolen eine Verlockung für die grüne Partei? Zurück zu den Wurzeln?
Kann Heraklit weiterhelfen?
Die Frage ist nicht entschieden, den Grünen steht ein Richtungskampf bevor. Vielleicht kann ein Philosoph bei der Standortbestimmung helfen. Nein, nicht Robert Habeck, sondern Heraklit, einer von den alten Griechen: Panta rhei, alles ist im Fluss. Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, weil er sich ständig verändert, ebenso wie die Gesellschaft. Haben die Grünen mehr zu bieten als die Rezepte vom letzten oder vorletzten Mal?
Wenn Ihnen Heraklit zu wolkig ist, versuchen wir es noch einmal mit Uli Hoeneß. "Euer scheiß Geld, das reicht nicht", rief er den Konkurrenten mit den vielen Schulden zu. Und als es ihm einmal nach einer persönlichen Niederlage ganz dreckig ging, kündigte er selbstbewusst sein Comeback an: "Das war’s noch nicht." Hoeneß ist kein Grüner. Aber Britta Haßelmann und Katharina Dröge, diesen beiden grünen Frauen, traue ich in der Politik die Abteilung Attacke zu, für die Hoeneß im Fußball bekannt ist.
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