Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Bekenntnisse eines Wechselwählers Den kann man nicht wählen! Oder doch?
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Unser Kolumnist ist Wechselwähler. Wen der Elder Statesman am kommenden Sonntag wählt, sagt er Ihnen hier.
Sie sind niemandem Rechenschaft schuldig, wen Sie wählen. Nicht Ihrer Familie, Ihren Freunden, nicht einmal Ihrem Ehepartner. Artikel 38 des Grundgesetzes garantiert das Recht auf geheime Wahl. Das ist ein Recht, keine Vorschrift. Sie können genauso gut aller Welt verkünden, wen Sie wählen. Sie dürfen in Ihrer Familie und in Ihrem Freundeskreis für Ihre Partei werben. Wenn Sie Ihren Leuten mit dem Wohnzimmer-Wahlkampf auf die Nerven gehen, werden die es Ihnen schon sagen.
Ich habe mich entschlossen, in meinem Bekanntenkreis offenzulegen, wen ich wähle und warum. Mein Bekanntenkreis sind Sie, die Gemeinschaft von t-online. Viele von Ihnen lesen jede Woche meine Kolumne, Sie wissen, wie ich die Entwicklungen in Politik und Wirtschaft beurteile. Heute sage ich Ihnen, welche Wahl daraus für mich folgt. Ob Sie meine Argumente nachvollziehen können, entscheiden Sie wie immer selbst. Im Grundgesetz ist nicht nur die geheime Wahl verankert, sondern auch die freie Wahl. Niemand, wirklich niemand darf Ihnen vorschreiben, wo Sie Ihre beiden Kreuze auf dem Wahlzettel machen.
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Zur Person
Uwe Vorkötter gehört zu den erfahrensten Journalisten der Republik. Seit vier Jahrzehnten analysiert er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, er hat schon die Bundeskanzler Schmidt und Kohl aus der Nähe beobachtet. Als Chefredakteur leitete er die "Stuttgarter Zeitung", die "Berliner Zeitung" und die "Frankfurter Rundschau". Er ist Herausgeber von "Horizont", einem Fachmedium für die Kommunikationsbranche. Nach Stationen in Brüssel, Berlin und Frankfurt lebt Vorkötter wieder in Stuttgart. Aufgewachsen ist er im Ruhrgebiet, wo man das offene Wort schätzt und die Politik nicht einfach den Politikern überlässt. Bei t-online erscheint jeden Dienstag seine Kolumne "Elder Statesman".
Also, wen soll ich wählen? Mir fällt die Entscheidung schwer. Leichter ist die Entscheidung, wen ich nicht wähle. Für mich kommt eine Partei, die Deutschland aus der Europäischen Union herausführen will, nicht infrage. Was die AfD da fordert, ist brandgefährlich. Es gibt viele Wege, die deutsche Wirtschaft zu ruinieren – die Abwendung von Europa ist der sicherste. Die D-Mark-Nostalgie der Rechten ist von gestern. Von vorgestern ist ihre Sicht auf die deutsche Geschichte. Führende Vertreter der Partei verharmlosen den Nationalsozialismus, einige sind Nazis. Ihr gewollt zweideutiger Umgang mit den Parolen von damals ist abstoßend. AfD? Nein, auf keinen Fall.
Dann wäre die Ukraine eine russische Provinz
Zudem wähle ich keine antiamerikanische und prorussische Partei. Deshalb kommt auch das Bündnis Sahra Wagenknecht für mich nicht infrage. Vor einem Jahr, als das BSW an den Start ging, hielt ich diese neue politische Kraft für ein interessantes Experiment: nicht links, nicht rechts, zwischen populär und populistisch, mit einer charismatischen Frau an der Spitze. Heute sehe ich, dass Sahra Wagenknecht Putins Marionette ist. Wenn sie die Politik bestimmen könnte, gäbe es längst keinen Krieg in der Ukraine mehr, das stimmt. Aber die Ukraine wäre eine russische Provinz. Und Putin könnte seine Armee für den nächsten Feldzug rüsten, in Moldau, im Baltikum, wo auch immer.
Kennen Sie Heidi Reichinnek? Das ist die Co-Vorsitzende der Linken. Eine Frau aus dem Osten, Mitte dreißig, die gerade auf Social Media Begeisterung bei jungen Leuten auslöst. Sie bringt eine frische Tonlage in die Politik. Reichinnek und Jan van Aken, ihr Partner an der Spitze, sind dabei, diese totgesagte Partei wiederzubeleben. Ich vermute, die Linke wird wieder in den Bundestag einziehen. Für solche überraschenden Geschichten habe ich eigentlich ein Faible.
Diese Partei löst alle Probleme mit Geld
Wählen werde ich sie trotzdem nicht. Van Aken sagt, Deutschland könne eine Million (!) Flüchtlinge im Jahr aufnehmen; das glaube ich nicht. Die Linke löst alle Probleme mit Geld: die Migration, die fehlenden Kitaplätze, die Altersarmut der Rentner, die Bedürfnisse der Bürgergeld-Empfänger. Das Geld dafür kommt von den Milliardären – die sollen abgeschafft werden. Nichts gegen plakative Sprüche in der Politik. Aber nur Sprüche, das ist zu wenig.
Ich bin ein Wechselwähler. Mit SPD, Grünen und FDP tue ich mich diesmal schwer, weil sie als Ampelkoalition versagt haben. Und alle drei schicken prompt wieder ihre gescheiterten Führungsfiguren ins Rennen.
Die SPD ist die Partei meiner Jugend. Damals, im Ruhrgebiet, war es selbstverständlich, sie zu wählen. Den Niedergang der Sozialdemokratie beobachte ich mit Sorge, nicht mit Häme. Ich würde gern zu ihrer Renaissance beitragen. Wenn die SPD mit Boris Pistorius ins Rennen gegangen wäre, hätte ich sie gewählt. Scholz wähle ich nicht. Er war der Kanzler einer schlechten Regierung. Er hat mit seinem Volk nicht geredet. Er hat im Umgang mit Putin gezögert und gezaudert; die Besonnenheit, auf die er sich stets beruft, ist in Wahrheit mangelnde Entschlossenheit.
Ein Abend mit den beiden, das wär's
Robert Habeck? Der Mann polarisiert. In meinem engeren Umfeld gibt es Menschen, die begeistert sind von ihm, fast ausschließlich Frauen. Und Menschen, die ihn persönlich und die Grünen als Partei für alles verantwortlich machen, was in Deutschland schiefläuft; das sind ganz überwiegend Männer. Wenn ich mir zwei Politiker aussuchen dürfte, um einen gemeinsamen Abend bei gutem Essen und einer Flasche Wein zu verbringen, wäre Robert Habeck einer davon. Mit ihm würde die Diskussion sicher nachdenklich und anregend. Der andere ist Markus Söder. Das könnte ein unterhaltsamer Abend werden.
Aber es geht um mehr: um die Regierung. Da kommen die Grünen für mich diesmal nicht infrage. Ein Kardinalfehler der Ampelkoalition war das vermaledeite Heizungsgesetz – das geht auf Habecks Konto. Er kam als Klimaminister ins Amt, dann wurde ein Wirtschaftsminister gebraucht. Im Laufe der Zeit hat er Wirtschaft gelernt, aber die Regierung ist keine Übungsfirma. Das Experiment schreit nicht nach Wiederholung.
Die Liberalen? Christian Lindner und Olaf Scholz haben etwas gemeinsam: Sie haben immer alles richtig gemacht. Finden sie jedenfalls selbst. Ich, ich, ich – bei beiden sind das die drei zentralen Begriffe im Wahlkampf. Dabei hat Lindner seine Partei zu einer Lobbyorganisation der Unternehmer geschrumpft. Und die Schuldenbremse, sein Fetisch, ist zur Wachstumsbremse geworden. Wenn Lindner über die Ampelkoalition spricht, hört sich das so an, als sei er nie dabei gewesen. Der Mann schlägt sich in die Büsche. Also: nein.
Auf wen es hinausläuft
Bleibt die CDU. Bleibt Friedrich Merz. Ich habe zuletzt vor mehr als zehn Jahren CDU gewählt. 2013, als Angela Merkel auf dem Höhepunkt ihres Ansehens war. Sie war die Chefin von Deutschland, die starke Frau in Europa. Kurz darauf kürte das "Time Magazin" sie zur Kanzlerin der freien Welt. Die Flüchtlingskrise war 2013 noch nicht absehbar. Die wachsende Abhängigkeit von russischem Gas habe ich übersehen. Auch, dass viel zu wenig in Brücken, Bahn und Glasfaser investiert wurde. Heute, in der Rückschau, sehe ich Merkel kritischer.
Und Merz? Für mein Lebensgefühl ist er zu konservativ. Sauerland, 20. Jahrhundert. Zu sehr Spitzenfunktionär, zu wenig volksnah. Mit 69 eigentlich zu alt für das Amt.
Trotzdem werde ich ihn wählen, genauer: die CDU. Weil er in Wirtschaftsfragen kompetent ist. Eine Regierung Merz wird die Priorität auf Wachstum legen, das ist richtig. Sie wird im Haushalt rot-grüne Lieblingsprojekte streichen, das ist okay. Am Ende wird sich Merz aus den Zwängen der Schuldenbremse befreien, das ist notwendig. In Sachen Migration sagt er, was er will, das ist aufrichtig. SPD und Grüne haben immer nur gesagt, was sie nicht wollen.
In Europa traue ich Friedrich Merz eine Führungsrolle zu. Er will einen Schulterschluss zwischen Deutschland, Frankreich und Polen. Scholz hat weder zu Macron noch zu Tusk eine belastbare Beziehung aufgebaut, er hat sich außenpolitisch an Biden gekettet. Good Old Joe ist in Rente. Merz steht für eine starke EU. Das ist wichtig – erst recht in diesen Zeiten, in denen Trump und Vance Amerikas Freunden und Partnern in der Welt den Mittelfinger zeigen.
Eine Sache des Verstandes, nicht des Herzens
Auf den Kanzler kommt es an: Schon mehrfach habe ich mich von diesem Motto leiten lassen. In meiner Jugend habe ich Willy Brandt gewählt, aus Begeisterung. Später habe ich Helmut Schmidt gewählt, aus Respekt. Nach der deutschen Einheit habe ich Helmut Kohl gewählt, aus Dankbarkeit. Bei Merkel schwang Stolz mit, weil sie Deutschlands Ruf in der Welt mehrte. Und jetzt Merz. Das ist eine Sache des Verstandes, nicht des Herzens. Eine pragmatische Wahl, beinahe emotionslos. Jede Zeit fordert ihre eigenen Antworten.
Bitte treffen Sie am Sonntag Ihre ganz persönliche Entscheidung. Zwei Kreuze für die Demokratie. Ein Votum für unser Grundgesetz, für die freie und geheime Wahl. Das ist ein Privileg, alles andere als selbstverständlich in der Welt.
- Eigene Überlegungen