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Deutsche Bürokratie – vorbei an den Bedürfnissen der Gesellschaft


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Tagesanbruch
Wenn Bürokratie auf Realität trifft

MeinungVon Camilla Kohrs

Aktualisiert am 23.08.2022Lesedauer: 6 Min.
Abgelehnte Asylbewerber werden für den Transport zum Flughafen abgeholt (Symbolbild): Die Regierung plant ein neues Migrationspaket.Vergrößern des Bildes
Abgelehnte Asylbewerber werden für den Transport zum Flughafen abgeholt (Symbolbild): Die Regierung plant ein neues Migrationspaket. (Quelle: Sebastian Willnow/dpa)
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Bürokratie und Realität sind nicht immer die besten Freunde, das haben viele von Ihnen sicher auch schon erlebt. Manchmal aber prallen Gesetze und das Leben so hart aufeinander, dass es nicht nur absurd, sondern auch besonders tragisch wird.

Wie gerade in Freiburg. Da wurde eine Pflegerin während ihrer Nachtschicht in einem Altenheim von der Polizei abgeholt, in ein Flugzeug gesetzt und abgeschoben. Zoufinar Murad heißt die Betroffene, über deren Fall die "Badische Zeitung" (Bezahlschranke) und der SWR ausführlich berichteten. Die 53-Jährige kommt aus Syrien, hat dort einen großen Teil ihres Lebens verbracht, bis sie von dort flüchtete. In Deutschland beantragte sie Asyl, ihr Antrag wurde allerdings vor vier Jahren abgelehnt.

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Ihre Chefin hatte vor, sie weiterzubilden – ein Ausbildungsvertrag war schon unterschrieben. Jetzt aber ist Murad in Armenien. Von dort kommen ihre Vorfahren, vor rund 20 Jahren studierte sie dort. Verbindungen in das Land hat sie heute keine, so berichten es Personen, die sie kennen. Welcher Punkt in dem Verfahren unklar ist: Laut ihrem Anwalt besitzt Murad seit 2020 keinen armenischen Pass mehr. Nach Angaben der Behörden allerdings stellte Armenien für die jetzige Abschiebung Passersatzdokumente aus.

"Ein Unding" und "menschenunwürdig" nannte die Chefin den Vorgang in der "Badischen Zeitung". Sie beschreibt Murad als "sehr motiviert, fleißig, loyal und empathisch" – und unverzichtbar, denn fähige Arbeitskräfte seien derzeit nur schwer zu finden. Das Regierungspräsidium in Karlsruhe hingegen teilt auf Anfrage mit, sie habe jederzeit mit einer Abschiebung rechnen müssen, bereits 2021 habe es einen Abschiebeversuch gegeben. "Es war ihr dadurch bewusst, dass es beabsichtigt war, sie abzuschieben."

Nun kann man sagen: So ist halt das Gesetz. Das stimmt. Aber es sind auch Beispiele dafür, wie Bürokratie völlig an den Bedürfnissen der Betroffenen sowie der Gesellschaft vorbeigehen kann.

Da ist zunächst die moralische Ebene. Wenn jemand über Jahre hier in Deutschland lebt, sich integriert und hier ein Leben aufbaut: Ist es dann fair, die Person abzuschieben – vor allem, wenn man bedenkt, wie viel Leid das für die Betroffenen auslösen kann? Hinzu kommt eine zweite Ebene. Seit Jahren hören und lesen wir in den Nachrichten, wie viele Arbeitskräfte fehlen – und die Lage wird immer dramatischer. Erst vor Kurzem schrieb ich im Tagesanbruch darüber, wie groß etwa der Mangel an Flughäfen und in der Gastronomie ist.

Zwar gibt es seit 2019 ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz, jedoch halten Experten es für viel zu starr und bürokratisch. Visaanträge dauern zu lange, es gibt Probleme mit der Anerkennung von Abschlüssen. Wirtschaftsvertreter sagen, jährlich müssten mehrere Hunderttausend qualifizierte Menschen zuwandern. Davon sind wir weit entfernt.

Arbeitsminister Hubertus Heil hat bereits angekündigt, das Gesetz vereinfachen zu wollen und Innenministerin Nancy Faeser stellte im Juni ihren Entwurf für ein neues Migrationspaket vor. Abgelehnten Asylbewerbern mit einer durchgehenden Duldung soll es nach fünf Jahren erleichtert werden, in Deutschland zu bleiben, wenn sie innerhalb eines Jahres bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Dazu gehört etwa, eigenständig den Lebensunterhalt zu bestreiten. Das sogenannte Chancen-Aufenthaltsrecht könnte bis Ende des Jahres in Kraft treten.

Tatsächlich ist das eine Abkehr von der bisherigen Praxis. Denn noch unter den CDU-geführten Regierungen galt dieser sogenannte Spurwechsel – also von Asylrecht zu Einwanderungsrecht – als rotes Tuch. Unionspolitiker fürchten, dass Deutschland somit mehr Anreize für illegale Migration setzt und abgelehnte Asylbewerber ihre Abschiebung hinauszögern, um das Chancen-Aufenthaltsrecht in Anspruch nehmen zu können. Natürlich muss der Gesetzgeber die Voraussetzungen schaffen, dass ein solches Gesetz nicht ausgenutzt wird. Richtig ist deswegen, dass die Regierung Straftäter ausschließt.

Selbst wenn Murad von dem Gesetz hätte profitieren können: Wenn es kommt, ist es für sie zu spät. Stattdessen bleibt ihr nur ein komplizierter Umweg: Ihre Unterstützer versuchen nun, sie mithilfe des Ausbildungsvertrags wieder nach Deutschland zu bekommen. Einfach ist das nicht – und es könnte lange dauern und teuer werden. Denn nach einer Abschiebung gilt für eine individuell festgelegte Zeit eine Einreisesperre. Zudem muss die abgeschobene Person, will sie erneut einreisen, selbst für die Abschiebekosten aufkommen. Und das, obwohl sie bereits einen Ausbildungsvertrag in der Hand hielt und in einer besonders unterbesetzten Branche tätig war.

Ein Einzelfall ist dieser Umweg nicht: Es gibt viele Berichte über gut integrierte Asylbewerber, die sich nach ihrer Abschiebung in Drittstaaten um ein Arbeitsvisum bemühen und es auch bekommen. Erst Abschiebung, dann Arbeitsvisum? Das ist nicht nur schwer nachzuvollziehen. Das Handeln der Behörden in diesem Fall zeigt auch eine Tatsache auf, die Deutschland noch immer nicht verinnerlicht hat: Wir sind schon lange Einwanderungsland. Es ist überfällig, dass das auch in Gesetzen festgehalten wird.

Die Suche nach Energie

Für die Reise nach Kanada haben sich Kanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck viel Zeit genommen. Gleich drei Tage verbringen sie dort. Es soll der Beginn einer engeren Partnerschaft zwischen den beiden Staaten sein. Nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Ein großes Ziel: Deutschland langfristig unabhängiger von russischem Gas zu machen. Dafür wollen Kanada und Deutschland beim Thema Energie künftig enger zusammenarbeiten, wie Scholz bei einer Pressekonferenz mit Trudeau gestern Nachmittag betonte.

"Der Nato-Partner Kanada hat alles, was Russland hat, wie es Premier Trudeau einmal auf den Punkt brachte: Uran, Erdöl, Erdgas und viele andere Bodenschätze. Nur, dass es obendrein eine Demokratie ist", schreibt meine Kollegin Miriam Hollstein, die Scholz und Habeck begleitete. Ihren Bericht lesen Sie hier und noch mehr Eindrücke von der Reise sehen Sie auf ihrem Twitteraccount.

Wie sehr der Fokus auf der Energie liegt, zeigt das Programm für den heutigen Dienstag. Erst besucht das Zweiergespann ein deutsch-kanadisches Wirtschaftsforum, später den Ort Stephenville an der Ostküste, in dem eine Windenergieanlage zur Produktion von grünem Wasserstoff geplant ist. Daran hat Deutschland laut Habeck einen großen Bedarf.

Der frühere kanadische Botschafter in Deutschland, Peter Boehm, sieht noch einen weiteren Grund für eine engere Zusammenarbeit der beiden Staaten: den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Dessen vier Regierungsjahre hatten einen großen Einfluss auf die Kanadier wie die Deutschen, sagt Boehm im Interview mit meinem Kollegen Bastian Brauns. "Die Verbindung zwischen unseren Nationen hat darum eine noch höhere Bedeutung als zuvor bekommen."

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Die weiteren Termine

Scholz und Habeck sind heute nicht nur in Kanada, sondern auch in Kiew – zumindest virtuell. Dort findet die jährliche Konferenz "Krim-Plattform" statt. Dabei soll untermauert werden, dass die 2014 von Russland annektierte Halbinsel Krim zur Ukraine gehört. Neben Kanzler und Wirtschaftsminister sind unter anderem Kanadas Premier Justin Trudeau und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg per Video zugeschaltet.

Wegen des Fischsterbens in der Oder kommt der Umweltausschuss des Brandenburger Landtags heute zu einer Sondersitzung zusammen. Es sollen die aktuellen Erkenntnisse diskutiert und Handlungserfordernisse abgeleitet werden.

Der Deutsche Bauernverband stellt um 10 Uhr seine Bilanz zur diesjährigen Getreideernte vor. Besonders im Nordosten macht den Bauern die langanhaltende Trockenheit zu schaffen.


Was lesen?

Heute kann die Menschheit etwa mit dem Hubble-Teleskop in die Ferne des Universums blicken. 1966 war hingegen diese Aufnahme eine Sensation. Warum? Das lesen Sie hier.


Die Unionsfraktion will es jetzt genau wissen: CDU und CSU haben eine Sondersitzung des Finanzausschusses vorgeschlagen – und wollen dorthin auch den Kanzler zitieren. Mein Kollege Tim Kummert aus unserem Hauptstadtbüro hat die Details.


Die ARD distanziert sich nach dem Schlesinger-Skandal vom RBB. Doch auch der Senderverbund insgesamt bleibt undurchsichtig, schreibt mein Kollege Steven Sowa.


Fast 100.000 Stellen im IT-Bereich sind hierzulande unbesetzt, in Zukunft könnten es noch deutlich mehr werden. Können Geflüchtete aus der Ukraine dem etwas entgegensetzen? Meine Kollegin Anna Sophie Kühne hat eine von ihnen getroffen und festgestellt: Ganz so einfach ist es nicht.


Was amüsiert mich?

Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Dienstag. Morgen schreibt Ihnen wieder Florian Harms.

Ihre

Camilla Kohrs
Redakteurin Politik/Panorama
Twitter: @cckohrs

Was denken Sie über die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.

Mit Material von dpa.

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