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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Scholz in Kanada Und es hat Zoom gemacht
Um die Abhängigkeit von Russland zu verringern, reist Scholz zwei Tage lang durch Kanada. An der aktuellen Gaskrise wird das nichts ändern.
In der Politik ist es manchmal wie im echten Leben: Freundschaften können auch noch spät geschlossen werden. Kanada und Deutschland sind ein Beispiel dafür. Dabei kannte man sich schon lange, schätzte sich, pflegte guten Kontakt. Doch so richtig "Zoom" hat es erst jetzt gemacht. Schuld daran ist kein anderer als Wladimir Putin. Weil der russische Präsident die Ukraine in einen Krieg und das vom russischen Gas abhängige Deutschland in eine Energiekrise gestürzt hat, wird jetzt verzweifelt nach neuen Partnern gesucht. Kanada erscheint dafür aus mehreren Gründen ideal.
Am Sonntag ist Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) deshalb nach Kanada gereist, um zwei ganze Tage mit dem kanadischen Premierminister Justin Trudeau (Liberale Partei) zu verbringen. Ein so langer Staatsbesuch ist ungewöhnlich, erst recht für den deutschen Kanzler. Vor wenigen Wochen hat er auf dem Balkan in derselben Zeitspanne fünf Länder absolviert. Um zu zeigen, wie wichtig ihm die Reise ist, hat Scholz auch noch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sowie eine hochrangige Wirtschaftsdelegation mitgebracht, darunter der Uniper-Vorstandsvorsitzende Klaus-Dieter Maubach und VW-Chef Herbert Diess.
Kanada ist ähnlich reich an Bodenschätzen wie Russland
Das Ziel der Reise neben dem Vertiefen der Freundschaftsbande: Man möchte die Position gegenüber Russland abstimmen und einer neuen Energiepartnerschaft den Boden bereiten. Denn der Nato-Partner Kanada hat alles, was Russland hat, wie es Premier Trudeau einmal auf den Punkt brachte: Uran, Erdöl, Erdgas und viele andere Bodenschätze. Nur, dass es obendrein eine Demokratie ist.
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Auf der ersten Station in Montreal ging es nicht nur um Energie. Gemeinsam mit dem kanadischen Premier besuchte der Kanzler das Mila-Institut, das sich auf maschinelles Lernen spezialisiert hat. Zuvor hatten beide in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Trudeau am alten Hafen von Montreal noch einmal die Bedeutung der deutsch-kanadischen Beziehungen betont. "Kanada braucht ein starkes Deutschland und Deutschland braucht ein starkes Kanada", sagte Trudeau. Scholz dankte ihm "für die Freundschaft". Man wolle aus den ohnehin guten Beziehungen "noch mehr machen".
Deutsch-kanadisches Abkommen für "grünen" Wasserstoff
Bereits am Montagnachmittag reiste Scholz nach Toronto weiter. Hier wird er am Dienstagmorgen (Ortszeit) auf dem deutsch-kanadischen Forum eine Rede halten. Als letzte Station steht dann Stephenville, ein kleiner Ort (rund 6.600 Einwohner) an der Westküste der Insel Neufundland, auf dem Kanzlerprogramm. Dort soll die erste große Anlage Kanadas entstehen, in der klimaneutral Wind in Wasserstoff und Ammoniak verwandelt und exportiert werden soll. Scholz will eine Fachmesse für Erneuerbare Energien besuchen und ein deutsch-kanadisches Importabkommen für diesen "grünen" Wasserstoff unterzeichnen. Kanada gilt als Vorreiter bei der Energiegewinnung aus Wasserstoff.
Die akute Energiekrise Deutschlands kann das nicht beseitigen. Und auch die geplante Zusammenarbeit beim Flüssigerdgas (LNG) ist ein Projekt für die mittelfristige Zukunft, nicht die Gegenwart. Bislang gibt es noch kein Terminal für Flüssigerdgas, das für den Export geeignet wäre. Schlimmer noch: Eine aktuelle Analyse des kanadischen International Institute for Sustainable Development kommt zu dem Ergebnis, dass es mindestens drei Jahre dauern wird, bis ein solches Projekt fertiggestellt ist. Viel zu spät für Deutschland. Bei der Pressekonferenz wollte sich Premier Trudeau deshalb auch nicht festlegen, ob und wann man LNG nach Deutschland liefere. Ein solcher Export habe sich in der Vergangenheit nicht "als Geschäftsmodell" erwiesen. Man prüfe nun, ob sich dies angesichts der neuen Bedingungen anders darstelle oder ob man Deutschland besser auf andere Weise unterstütze.
Deutschland ist für Kanada innerhalb der Europäischen Union der größte Absatzmarkt für seine Produkte und der sechstwichtigste Handelspartner weltweit.
Eine Turbine als Unterpfand der Freundschaft
Den eigentlichen Freundschaftsdienst hatte Kanada der deutschen Regierung aber schon vor der Reise erwiesen: Trotz Russland-Sanktionen hatte die kanadische Regierung die Ausfuhr einer Gasturbine genehmigt. Es war das Ende eines kleinen Machtspiels mit Putin: Mitte Juni hatte der russische Staatskonzern Gazprom Lieferungen nach Deutschland durch die Pipeline Nord Stream 1 mit dem Verweis auf Reparaturarbeiten reduziert. Für die Rückkehr zur uneingeschränkten Versorgung sei eine Turbine nötig, die aber zwecks Wartung in Montreal war.
Dort wollte man die Turbine unter Verweis auf das Sanktionsregime zunächst nicht abgeben. Am Ende einigten sich die deutsche und die kanadische Regierung doch darauf, sie nach Deutschland zu liefern. So konnte Scholz erklären, dass die Turbine zur Verfügung stehe und nicht mehr als Vorwand für einen Versorgungsstopp von Russland tauge.
Trudeau hat für Scholz viel Ärger riskiert
Trudeau hat dafür einiges riskiert. Nicht nur nutzte die Opposition die Gelegenheit, um die mit der Auslieferung befassten Minister vor den Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten zu zitieren. Auch die ukrainische Regierung geißelte den Vorgang als gefährlichen Präzedenzfall in Zeiten, in denen die internationale Gemeinschaft doch geschlossen gegen Russland vorgehen müsse. Das ist insofern besonders heikel, als in Kanada 1,4 Millionen Bürgerinnen und Bürger ukrainischer Herkunft leben – mehr sind es nur in Russland.
Bei der gemeinsamen Pressekonferenz musste Trudeau sich daher auch noch einmal erklären. Gefragt von einem kanadischen Journalisten, ob man mit der Aktion nicht die Deutschen bevorzuge, antwortete Trudeau: Putin habe die Deutschen "bestrafen" wollen, weil sie die Sanktionen gegen Russland unterstützten. Mit der Rückgabe der Turbine habe man gezeigt, dass "der einzig Verantwortliche für die Energiekrise" Wladimir Putin sei: "Wir werden nicht zulassen, dass er die Energiepolitik als Kriegswaffe einsetzt."
Doch auch die deutsche Regierung war nicht untätig. Sie hat dafür gesorgt, dass das umstrittene Ceta-Abkommen, das Handelsabkommen der EU mit Kanada, endlich ratifiziert werden soll. Deutschland hatte die Ratifizierung jahrelang blockiert, unter anderem, weil das Abkommen Sonderklagerechte für Investoren und spezielle Schiedsgerichte vorsieht. Vor allem bei den Grünen gab (und gibt es) dagegen Widerstand. Seit 2017 war es deshalb nur vorläufig in Kraft.
Die Beziehungen zu den USA bleiben unersetzlich
Doch der Krieg in der Ukraine hat alles verändert. Die von Scholz beschworene "Zeitenwende" bedeutet auch, sich neue Partner zu suchen. So kommt es, dass der "kleine" Bruder Kanada (gemessen an der Einwohnerzahl und der politischen Bedeutung), der bei den transatlantischen Beziehungen immer im Schatten des "großen Bruders", den USA stand, plötzlich sehr gefragt ist. Ersetzen wird das die Bindung an die USA nicht. Aber in Zeiten, in denen US-Präsident Joe Biden sichtlich abbaut und eine Rückkehr von Donald Trump an die Macht droht, könnte sich so eine andere stabile Bindung über den Atlantik etablieren.
Mit Justin Trudeau hat Scholz dafür den richtigen Partner gefunden. Obgleich auf den ersten Blick recht unterschiedlich – hier der um keinen Showeffekt verlegene "Sunnyboy" Trudeau, dort der nüchtern-trockene Scholz – verstehen sich die beiden nicht nur politisch, sondern auch zwischenmenschlich hervorragend. Und das schon seit Längerem.
Scholz und Trudeau verbindet Persönliches
Als Erster Bürgermeister von Hamburg hatte Scholz Trudeau 2017 zum Matthiae-Mahl eingeladen, einer Festmahls-Tradition aus dem 14. Jahrhundert, bei der "freundliche gesinnte Mächte" aus dem Ausland Ehrengäste sind. Ein paar Spitzengrüne bat Scholz damals noch dazu, damit der Kanadier für Ceta werben konnte. Heute ist Trudeau einer der wenigen Menschen in der internationalen Politik, die Scholz als echten Freund sieht. Nicht nur in Krisenzeiten.
Auch da ist die Politik wie das echte Leben. Wenn persönlich die Chemie stimmt, kann das auch in der beruflichen Zusammenarbeit ungemein helfen. Zumal der angeschlagene Kanzler Olaf Scholz freundlich gesinnte Mächte aus dem Ausland gerade dringend gebrauchen kann.
- Begleitung des Kanzlers bei Kanada-Reise