Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die letzte wichtige Stelle
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
es gibt eine Menge Dinge, um die sich mal jemand kümmern könnte. Das Tohuwabohu an deutschen Flughäfen zum Beispiel könnte jemand lichten. Oder das schlechte Handynetz an vielen Bahnstrecken ausbessern. Oder das marode Gesundheitssystem reparieren. Oder die Abrüstung der Atomwaffen in Europa vorantreiben. Oder endlich Ernst mit der Klimapolitik machen. Oder, oder, oder.
Embed
15 Bundesministerien gibt es, sie beschäftigen eine Menge Staatssekretäre, Abteilungsleiter und Referenten. Hinzu kommt das Kanzleramt mit seinem auch nicht gerade kleinen Apparat. An die 30.000 Personen arbeiten für die Bundesregierung, von Legislaturperiode zu Legislaturperiode werden es mehr. Trotzdem scheint großer Bedarf an zusätzlichen Posten zu bestehen. Warum sonst gibt es zusätzlich zu all den Ministern, Staatssekretären, Abteilungsleitern und so weiter auch noch eine lange Reihe prestigeträchtiger Sonderposten? 41 sind es an der Zahl – und die Damen und Herren, die diese Ämter bekleiden, schmücken sich mit fantasievollen Titeln.
Da gibt es beispielsweise die Koordinatorin der Bundesregierung für Maritime Wirtschaft und Tourismus. Oder den Beauftragten der Bundesregierung für Informationstechnik. Oder die Bevollmächtigte der Bundesregierung für Pflege. Oder den Beauftragten der Bundesregierung für Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Auch einen Koordinator der Bundesregierung für strategische Auslandsprojekte im Interesse der Bundesrepublik Deutschland gibt es, was auch immer man sich darunter vorstellen mag. Nicht zu vergessen der Bundesbeauftragte für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung, was in diesem Zusammenhang besonders pikant ist. Von einer "Berater-Inflation" schreibt die "Süddeutsche Zeitung".
Nun könnte man den Gedanken hegen, dass ein Apparat, der derart viele hochgestellte Fachleute beschäftigt, große Fortschritte bei der Bewältigung der jeweiligen Aufgaben macht. Dass dem nicht so ist, merkt jeder, der in diesen Tagen stundenlang auf überfüllten Flughäfen versauert, seit Jahren auf Zugfahrten über das funklose Handy flucht oder gar in die Mühlen des ausgelaugten Gesundheitssystems gerät. Ganz zu schweigen von all den anderen Baustellen, bei denen man sich wünschte, dass Deutschland schneller vorankäme – Klimaschutz, digitale Verwaltung, Kampf gegen Armut und so weiter.
Ein hoch entwickelter Staat wie Deutschland braucht auch auf Bundesebene ausreichend Fachpersonal, das steht außer Frage. Trotzdem darf man die Frage stellen, was alle diese Leute unterhalb der Ministerebene wirklich zum Fortschritt beitragen – und ob manche Aufgaben nicht bei Bürgerräten oder Experten aus der freien Wirtschaft besser aufgehoben wären. Oder ob man womöglich sogar auf einige der Pöstchen schlicht verzichten könnte (und das noch nicht einmal merken würde).
"Überflüssige Bürokratie werden wir abbauen", heißt es vollmundig auf Seite 26 des Koalitionsvertrags von SPD, Grünen und FDP. Ein schöner Vorsatz. Vielleicht lässt er sich ja ganz einfach umsetzen. Nachdem sie so viel Personal eingestellt haben wie selten eine Bundesregierung zuvor, könnten die Ampelleute zur Krönung noch eine letzte wichtige Stelle schaffen: den Beauftragten für den Abbau überflüssiger Beauftragtenposten in der Bundesregierung.
Von wegen Pause
Offiziell macht die russische Armee derzeit eine "operative Pause": Nach der Eroberung der Region Luhansk hat Kriegsherr Wladimir Putin verfügt, seine Soldaten sollten sich "ausruhen". In Wahrheit schießen sie in der Ostukraine weiterhin alles kurz und klein. Die Menschen flüchten zu Hunderttausenden aus dem Donbass. Zuletzt wurde ein Raketenangriff auf einen Wohnblock im Ort Tschassiw Jar im Gebiet Donezk gemeldet, bei dem mindestens 19 Menschen starben.
Wie das zusammenpasst? Das amerikanische Institute for the Study of War erklärt es so: Zwar müssten jene russischen Truppen, die die Städte Sjewerodonezk und Lyssytschansk erobert haben, wirklich regenerieren, bevor sie eine weitere Großoffensive starten könnten. Eine operative Pause bedeute aber eben nicht, dass eine Armee gar keine Angriffe mehr starte. Vielmehr könnten die Befehlshaber die Pausen zwischen den Einheiten abwechseln, um den Gegner kontinuierlich unter Druck zu setzen.
Auch andere Militäranalysten glauben nicht an eine dauerhafte Unterbrechung der Kampfhandlungen. Franz-Stefan Gady vom Institute for International Strategic Studies in London etwa rechnet damit, dass die russischen Streitkräfte ihre Offensive jetzt erst recht fortsetzen – schon allein deshalb, weil ihnen nur noch wenig Zeit bleibt, bevor viele westliche Waffensysteme an die Front gelangen. Die ersten amerikanischen Artilleriegeschütze haben jedenfalls bereits mehrere russische Munitionslager zerstört, schreibt mein Kollege Martin Küper.
Habeck setzt auf Solidarität
Seit gestern wird die Ostseeröhre Nord Stream 1 gewartet, weshalb durch sie kein Gas mehr aus Russland nach Deutschland fließt. Und weil keiner weiß, ob Putin in zehn Tagen den Hahn wieder aufdreht, beschwört Robert Habeck dieser Tage die europäische Solidarität. Gestern war der Wirtschaftsminister in Prag, um mit seinem tschechischen Amtskollegen Jozef Šikula die Absichtserklärung für ein gemeinsames Erdgas-Solidaritätsabkommen zu unterzeichnen, heute trifft er sich mit Vertretern der österreichischen Regierung in Wien. Auch dort geht es um gemeinsame Bemühungen für die Energiesicherheit. Hoffentlich fruchten sie.
Neue Bilder aus dem All
Es ist das leistungsfähigste Weltraum-Observatorium: Das "James Webb"-Teleskop macht erst seit wenigen Monaten Bilder im All. Nun hat die US-Raumfahrtbehörde Nasa im Beisein von US-Präsident Joe Biden das erste Farbbild veröffentlicht. Nasa-Chef Bill Nelson sagte dabei zu Biden: "Das Licht, was du auf einem dieser kleinen Flecken siehst, ist seit 13 Milliarden Jahren unterwegs."
Heute Nachmittag will Nasa weitere Farbaufnahmen präsentieren. Zu den Motiven sollen ein 290 Millionen Lichtjahre entferntes kosmisches Objekt namens "Stephans Quintett" und eine Gaswolke namens "Carina-Nebel" gehören. Man wüsste ja gern, ob es da draußen irgendwo Leben gibt.
Der Held des Tages …
… heißt Dustin Raatz. Während der Jahrhundertflut in Nordrhein-Westfalen vor einem Jahr rettete er die schwerbehinderte Chantal: Als der letzte Akku ihres Beatmungsgerätes fast leer war, holte der Kranfahrer kurzerhand aus einem Museum ein altes Bundeswehrfahrzeug und brachte das Mädchen in dessen Rollstuhl damit in Sicherheit. Für seinen mutigen Einsatz verleiht ihm Ministerpräsident Hendrik Wüst heute die Rettungsmedaille des Landes NRW.
Was lesen?
"Flieger, grüß mir die Sonne", sang einst Hans Albers. Mit dieser gigantischen Maschine erschien das Ziel tatsächlich erreichbar. Welcher Apparat es war, erfahren Sie auf unserem Historischen Bild.
Wie soll die westliche Unterstützung für die Ukraine weitergehen? Es braucht jetzt mehr Realismus und weniger Wunschdenken, meint unser Kolumnist Christoph Schwennicke.
Weltweit sind die Lieferketten gestört, auch hierzulande fehlen viele Produkte. Mein Kollege Mauritius Kloft berichtet über eine neue Technologie, die Abhilfe schaffen soll.
Was amüsiert mich?
Putin macht ernst, und auch der Kanzler guckt in die Röhre.
Verlieren Sie bitte trotzdem nicht Ihre Sommerlaune. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag – und den Leserinnen und Lesern im heißen Südwesten etwas Abkühlung.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
Den täglichen Tagesanbruch-Newsletter können Sie hier kostenlos abonnieren.
Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.