Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch "Das wird jetzt dramatisch"
Guten Morgen aus Jerusalem, liebe Leserin, lieber Leser,
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Olaf Scholz ist nach Israel geflogen, ein länger geplanter Antrittsbesuch, aufgrund der aktuellen Lage auf wenige Stunden verkürzt. Der Kanzler ist noch keine 100 Tage im Amt, hat noch nicht einmal alle befreundeten Staaten besucht, aber befindet sich schon mittendrin in drei Großkrisen. Corona ist immer noch nicht bewältigt. Das Klimadrama läuft aus dem Ruder. Nun auch noch Putins Überfall auf die Ukraine und die Neuausrichtung der deutschen Sicherheits- und Energiepolitik im Hauruckverfahren: Angesichts dieser gewaltigen Aufgaben ist es kaum verwunderlich, wenn jemand ins Schlingern gerät. Olaf Scholz ist geschlingert, keine Frage. Es dauerte Tage, bis er eine klare Haltung zum russischen Angriffskrieg fand; die europäischen Verbündeten und der ukrainische Präsident Selenskyj halfen ihm auf die Sprünge. Doch mittlerweile steht er.
So stand er auch gestern am späten Abend in einem Airbus der deutschen Luftwaffe: nachdenklich, besorgt, aber entschlossen. Auch sein berühmtes Selbstbewusstsein trägt der Regierungschef wieder erkennbar vor sich her. Vielleicht nicht schlecht in einer Zeit, in der es Führung braucht. Seine Genossen in der SPD-Bundestagsfraktion hat er mit der massiven Aufrüstung der Bundeswehr überrumpelt, wohl noch nicht einmal die SPD-Spitzen waren vorab in alle Details eingeweiht.
Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Dazu gehört auch, dass man eine Reise in den Nahen Osten kurzerhand verkürzt. Also kein Besuch in Ramallah bei den Palästinensern, kein Besuch in Amman beim jordanischen König – doch der israelische Ministerpräsident, Außenminister und Parlamentspräsident können nicht länger warten. Deutschland pflegt ein besonderes Verhältnis zu Israel, da zählt jede Geste. Und natürlich geht es auch in Jerusalem um die politische Zeitenwende, die Putin mit seinem Verbrechen verursacht hat.
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Denn die Lage in der Ukraine ist dramatisch und verschärft sich stündlich. Die russischen Soldaten feuern rücksichtslos auf Städte, treffen auch Zivilisten. Teile von Sumy sehen aus wie das syrische Aleppo. Charkiw liegt unter schwerem Raketenbeschuss. Mariupol ist ein Schlachtfeld. Ein riesiger russischer Militärkonvoi ist auf Kiew zugerollt, die Drei-Millionen-Metropole wird umzingelt. Neben russischen sind nun offenbar auch belarussische Soldaten beteiligt. Söldner der Kreml-Kampftruppe "Wagner" sollen Jagd auf ukrainische Politiker machen; die Einheit ist durch Kriegsverbrechen in Syrien und Libyen bekannt geworden.
Putins Plan sei klar, sagt der Russlandexperte Hans-Henning Schröder: Er wolle die politische und militärische Führung der Ukraine "ausschalten und stattdessen eine Marionettenregierung einrichten, die dann einen Waffenstillstand aushandelt". "Nimmt man den ukrainischen Soldaten das politische Zentrum, verliert der Kampf für sie den Sinn. Auch organisatorische Dinge, wie die Beschaffung von Munition, werden dann schier unmöglich."
Der Bundeswehrexperte Carlo Masala geht davon aus, dass die Russen Kiew sturmreif schießen werden. Dabei kommen auch ihre berüchtigten Raketenwerfer zum Einsatz, "Putins Höllensonne" genannt. Eine bestialische Waffe. Anschließend werden sie wohl strategische Ziele in der Stadt besetzen. Falls dann noch eine Stadt da ist. Derweil bereiten sich Kiews Einwohner mit Straßenblockaden aus Autoreifen und Schrott sowie selbstgebastelten Molotowcocktails auf die Invasion vor. Es ist ein Kampf wie David gegen Goliath, nur dass diesmal wohl nicht David gewinnt. "Die Ukraine kämpft buchstäblich ums Überleben", sagt Olaf Scholz. "Wir dürfen uns nichts vormachen: Das wird jetzt noch eine ganz, ganz dramatische Zeit werden." Die bisherigen Bilder von Opfern und Zerstörungen "werden nur ein Anfang sein von dem, was wahrscheinlich noch kommt". Der Kanzler schaut sehr ernst, wenn er über die Tragödie spricht, die Zigtausende Ukrainer in den nächsten Tagen und Wochen erwartet.
Putin schlägt zu – aber die freie Welt schlägt zurück und hat begonnen, das russische Regime systematisch zu isolieren. Ob in der Diplomatie, dem Sport, der Kultur oder Teilen der Wirtschaft: Überall wird Russland zum Pariastaat. Am härtesten treffen die Finanzsanktionen. Dass die EU die Milliardenreserven der Moskauer Zentralbank auf europäischen Konten einfriert, nennt der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze einen "vollumfänglichen Finanzkrieg". Der Mann weiß, wovon er spricht, er hat das Standardwerk zur Weltfinanzkrise geschrieben. Auch in der Bundesregierung ahnt man, dass die Sanktionen Russland auf Jahre hinaus massiv beeinträchtigen werden. Allerdings sickert nun auch durch, welche Institute von den Strafen ausgenommen sind – etwa die Gazprom-Bank, über die Deutschland russisches Gas bezahlt. Man will den Gegner bestrafen, nicht sich selbst.
Andere Profiteure von Putins Mafiastaat trifft der Bann. Eine transatlantische Taskforce soll die Yachten, Villen und Konten russischer Oligarchen im Ausland konfiszieren. München hat den Dirigenten der Philharmoniker entlassen, weil er sich nicht von Putins Verbrechen distanziert. Die Mitarbeiter aus Gerhard Schröders Büro haben ihre Jobs gekündigt, weil er noch an seinen Aufsichtsratsmandaten in Putins Energiekonzernen festhält. Immer mehr SPD-Mitglieder verlangen den Parteiausschluss des Altkanzlers.
Schlag auf Schlag kommen die Strafen – entschlossen, begründet, aber auch atemlos. Unter dem Eindruck der Schreckensbilder aus der Ukraine, dem Stimmungsumschwung in der Bevölkerung und der scharfen Medienberichterstattung sind Politiker, Wirtschaftslenker und Kulturverantwortliche in einen kollektiven Bestrafungsmodus gewechselt. Versuche, Putin umzustimmen, indem man über Vertraute auf ihn einzuwirken versucht, scheint es gegenwärtig nicht zu geben.
Ist das gut? Ist das schlecht? Im Empörungssturm über den Krieg werden kritische Fragen kaum gehört, es herrscht der Herdentrieb. Das ist verständlich, auch hier im Tagesanbruch kommentieren wir ja scharf. Aber es ist auch riskant. Und es zeigt sich einmal mehr: Deutschlands politische Strukturen sind für die Bewältigung der Großkrisen unserer Zeit nicht gemacht.
- Die Folgen der Erderhitzung sind noch viel schlimmer als gedacht, der neue Bericht des Weltklimarats dokumentiert ein Desaster.
- Die Schäden des Corona-Dramas sind noch nicht überwunden, schon warnen Forscher vor den nächsten Pandemien.
- Die Demokratie ist weltweit auf dem Rückzug, Autokraten erstarken und werden von Diktatoren wie Putin und Xi Jinping unterstützt.
- Der Westen hat sich in komplexen Konflikten verheddert, von Afghanistan über Nordafrika bis zur Ukraine.
Die Regierenden mühen sich redlich, die Krisen zu bewältigen. Doch sie sind von der Größe der Herausforderungen überfordert, und das kann man ihnen noch nicht einmal vorwerfen. Auch ein Kanzler oder Präsident ist nur ein Mensch. Es braucht deshalb mehr demokratische Foren, um mehr Bürger an den Problemlösungen zu beteiligen.
- Dazu zählen Expertengremien, in denen Leute aus der Privatwirtschaft, der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft und der Landesverteidigung ihr Wissen einbringen können. Hätte es das schon früher gegeben, wären womöglich die Bundeswehr nicht kleingespart und die Corona-Krise besser gemanagt worden.
- Dazu zählen auch Bürgerräte, die im Konsens Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit suchen. Erste Versuche gibt es bereits, aber da geht viel mehr.
- Dazu kann auch ein verpflichtender Sozialdienst zählen, den alle jungen Menschen nach der Schule absolvieren müssen, um Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen und den Wert der Demokratie schätzen zu lernen.
- Und dazu sollte eine neue öffentliche Diskussionskultur gehören. Es kann ja nicht sein, dass Abend für Abend dieselben Nasen in den Talkshows sitzen und sich der Rest auf Facebook und Co. gegenseitig anschreit. Warum nicht in jeder Fernsehrunde einen Platz für einen normalen Bürger reservieren, der erzählt, was Menschen abseits der Berliner Politik- und Medienblase umtreibt?
Die Herausforderungen unserer Zeit sind zu groß, als dass man sie allein Politikern überlassen könnte. Jetzt sind alle Bürger gefordert.
Demonstrieren statt schimpfen
Traditionell steht am Aschermittwoch politische Kraftmeierei auf dem Programm – doch daran mag in diesen Tagen niemand denken. In München hat die SPD stattdessen eine überparteiliche Demonstration unter dem Motto "Frieden in Europa, Solidarität mit der Ukraine!" angesetzt. Teilnehmen wollen auch CSU-Ministerpräsident Markus Söder und der ukrainische Generalkonsul Yuriy Yarmilko. Am Brandenburger Tor in Berlin wollen abends wieder Menschen für Frieden in der Ukraine auf die Straße gehen.
Woelkis Rückkehr
Die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals im Erzbistum Köln gilt als gescheitert, und Rainer Maria Woelki wird dafür verantwortlich gemacht. Heute kehrt der Kardinal nach seiner "geistlichen Auszeit" in den Dienst zurück – obwohl ihn eigentlich niemand mehr im Amt sehen will. Die Zahl der Kirchenaustritte hat sich binnen zwei Jahren verdoppelt. Angesichts des Drucks hat Woelki angekündigt, heute auf einen Gottesdienst im Dom zu verzichten. Stattdessen will er eine Pressemitteilung veröffentlichen. Ist er klug, steht darin sein Rücktritt.
Was lesen?
Die "Nowaja Gaseta" zählt zu den letzten unabhängigen Medien in Russland. Die Zeitung hat mit Müttern russischer Soldaten in der Ukraine gesprochen und berichtet Erschütterndes.
Die Bundeswehr soll jetzt viel Geld bekommen, doch damit allein lassen sich die Mängel in der Truppe nicht beheben. Unsere Reporter erklären Ihnen, warum nicht.
Die Herstellung des Omikron-Impfstoffs verzögert sich. Wird er überhaupt noch gebraucht? Meine Kollegin Christiane Braunsdorf klärt Sie auf.
Was amüsiert mich?
In diesen düsteren Tagen ist Erheiterung umso wichtiger. Da die beiden Herren aus Hessen kürzlich großen Zuspruch in der Leserschaft fanden, serviere ich Ihnen noch ein Schmankerl.
Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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