Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Eine unangenehme Wahrheit
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
unser Wochenend-Podcast ist aus der Winterpause zurück. Heute spreche ich mit meinen Kollegen Theresa Crysmann und Sebastian Späth über ein Thema, das Deutschland grundlegend verändern wird. Hören Sie bitte hinein:
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In aufgeregten Zeiten neigen ja leider viele Menschen zu pauschalem Denken: Sie unterscheiden nur noch zwischen Richtig und Falsch, Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Die Corona-Regeln sind aus dieser vereinfachten Sicht entweder völlig übertrieben oder viel zu lasch. Politiker sind entweder Helden oder Deppen. Und Andersdenkende sind Flitzpiepen, denen man am besten gar nicht erst zuhört.
So ist es auch bei der größten Herausforderung, der wir uns gegenwärtig gegenübersehen: der Erhitzung unseres Planeten. Nach der Flüchtlingskrise und der Pandemie dürfte das Ringen um den Kurs gegen die Klimakrise zur dritten gesellschaftlichen Bruchstelle werden, die Familien und Freundschaften entzweit, politische Gräben aufreißt, die Stimmung vergiftet.
Denn auch diese Debatte driftet immer stärker in den Schwarz-Weiß-Modus ab: Auf der einen Seite stehen Klimaaktivisten, die sich im Besitz der wissenschaftlichen Wahrheit wähnen und alle anderen Menschen erziehen wollen. Auf der anderen Seite haben sich Ignoranten eingebunkert, die Warnungen vor den Folgen der Erderwärmung für Blödsinn und Greta Thunberg für eine freche Göre halten. Zwischen diesen beiden Fronten bleibt immer weniger Raum für Vernünftige, die den Austausch von Argumenten und das differenzierte Abwägen von Für und Wider nicht für eine Schwäche, sondern für eine Stärke halten. Diese Polarisierung umfasst nur Teile der Bevölkerung, natürlich, aber sie prägt zunehmend die Diskussion über den Klima- und Umweltschutz.
So ist es auch bei der Schlüsselfrage dieser Tage, die vom energiepolitischen Grundsatzpapier der EU-Kommission aufgeworfen worden ist: Wie kann Deutschland, wie können die EU-Staaten ihre ambitionierten Klimaziele erreichen? Eine Drosselung der CO2-Emissionen bis 2030 um 55 beziehungsweise 65 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 – und dann Klimaneutralität bis 2045: Kann das allein mit Windrädern, Solaranlagen und Biomasse gelingen oder braucht es dafür auch Erdgas und Atomkraft?
Lauscht man grünen Regierungsvertretern, kann man den Eindruck bekommen, sie würden am liebsten alle anderen Europäer auf ihren Kurs zwingen: AKWs sind demnach böse und müssen schleunigst überall verboten werden. Erdgas ist auch doof, aber weil wir in Deutschland leider noch nicht genügend Windräder und Solaranlagen aufgebaut haben, ist es dann doch irgendwie akzeptabel, dass wir Putins Gas verfeuern, obwohl bei dessen Förderung und Transport ebenfalls gravierende Emissionen entstehen. Ziemlich heuchlerisch, diese Position.
Bis Europa (hoffentlich) Klimaneutralität erreicht, braucht es Übergangstechnologien, das steht außer Frage. Ebenso klar müsste eigentlich jedem Politiker sein: Fortschritt in Europa gelingt nicht, indem man von allen anderen Staaten verlangt, nach der deutschen Pfeife zu tanzen. EU-Politik basiert seit jeher auf Kompromissen. So ist die Union zum mächtigsten und wohlhabendsten Staatenbund der Welt aufgestiegen. Wenn Länder wie Frankreich, Finnland, Tschechien, Belgien, Schweden und die Niederlande sowie künftig auch Polen und Italien auf Kernkraft setzen, mag das aus der Sicht deutscher AKW-Gegner verwerflich sein. Vernünftige und vor allem pragmatische Regierungspolitik kann sich daran aber nicht orientieren. Um die hochgesteckten Klimaziele überhaupt noch erreichen zu können, braucht es in Europa verschiedene Technologien, die parallel optimiert werden. Auch Atomenergie gehört zumindest vorübergehend dazu.
Solche unangenehmen Einsichten gehören zur Klimadebatte, selbst wenn viele Leute das für hirnrissig halten. Darüber muss man reden – ohne Schranken im Kopf und Schaum vorm Mund. Wie man durch differenzierte Diskussion zu konstruktiven Ergebnissen gelangt, hat übrigens der Bürgerrat Klima bewiesen. Zwei Monate lang haben 160 Menschen aus verschiedenen deutschen Orten und Milieus über die Frage debattiert: "Wie gestalten wir Klimapolitik: Gut für uns, gut für unsere Umwelt und gut für unser Land?". Die Ergebnisse sind bemerkenswert (hier der Überblick).
So, genug Worte, nun sind Sie dran: Damit Sie beim Lesen, Nachdenken und überhaupt an diesem Wochenende gut unterhalten werden, empfehle ich Ihnen einen Song des Musikgenies, das heute 75 Jahre alt geworden wäre. Leider trällert es inzwischen ein paar Etagen weiter oben. Aber die Musik, die es uns hienieden zurückgelassen hat, ist ebenfalls himmlisch.
Mit diesen Klängen wünsche ich Ihnen ein wunderbares Winterwochenende.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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