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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Riskanter Sonderweg Macht Deutschland die "dümmste Energiepolitik der Welt"?
Das traut sich sonst kein Industriestaat: Deutschland steigt nicht nur aus der Kohleenergie aus, sondern auch aus der Atomkraft. Die einen halten das für Kamikaze, die anderen sehen dazu keine ernsthafte Alternative.
In der letzten Nacht des alten Jahres zeigte sich noch einmal, wie einsam die Bundesrepublik international dasteht. Zumindest in der Energiepolitik.
Gerade einmal zwei Stunden vor Mitternacht veröffentlichte die EU-Kommission eine Empfehlung, nach der Gas und Atomkraft unter bestimmten Auflagen für Investoren künftig als nachhaltige Technologien eingestuft werden. Atomkraft bedeutet also Umweltschutz? Für die meisten Deutschen ist das ein unlösbarer Widerspruch. Denn hierzulande sollen bis zum kommenden Jahr die letzten drei Meiler vom Netz gehen und der Atomausstieg damit endgültig besiegelt werden. Die Empfehlung der EU-Kommission aus der Silvesternacht ist dagegen eher ein Türöffner für mehr Kernenergie. Zumindest in anderen Ländern.
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Entrüstete Reaktionen aus Deutschland ließen daher nicht lange auf sich warten. Vizekanzler Robert Habeck etwa nannte die Entscheidung der EU-Kommission falsch und sprach von einem "Etikettenschwindel". Seine Parteikollegin Ricarda Lang, die für den Parteivorsitz kandidiert, sieht es nicht weniger kritisch: "Die Hochrisikotechnologie Atomkraft als nachhaltig einstufen zu wollen, ist Greenwashing und untergräbt die Energiewende. Da sollten wir nicht mitgehen", teilte sie t-online mit. "Wo nachhaltig draufsteht, muss auch nachhaltig drin sein."
Überraschend ist die Haltung der beiden nicht, denn die Anti-Atomkraft-Bewegung führte vor mehr als 40 Jahren mit zur Gründung der Grünen. Und als sie nach 1998 erstmals auf Bundesebene mitregierten, beschlossen sie mit der SPD den Atomausstieg. Endgültig vollzogen hat ihn 2011 allerdings die Union unter der Führung Angela Merkels, nachdem sie ihn zuvor eigentlich rückgängig gemacht hatte. Viele in CDU und CSU bezweifeln inzwischen, dass das Atom-Aus nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima richtig war. Der neue CDU-Chef Friedrich Merz nennt es aber nur einen Fehler, zuerst aus der Kernenergie und dann aus der Kohle auszusteigen. Zurück zur Atomkraft will auch er nicht.
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Das alles zeigt: Die Beziehung der Deutschen zur Kernenergie ist, freundlich ausgedrückt, ziemlich kompliziert. Die Frage ist nur: Wie sinnvoll ist es, angesichts eines allgemeinen Unwohlseins möglicherweise falsche Entscheidungen zu treffen?
Kein anderes Industrieland traut sich, was Deutschland vorhat
Denn kein anderes Industrieland traut sich, was Deutschland sich vorgenommen hat – den baldigen Ausstieg sowohl aus der Atomkraft als auch aus der Kohleverstromung. Im ersten Halbjahr des vergangenen Jahres trugen beide Energieträger noch zu rund 40 Prozent der Stromerzeugung bei.
Trotzdem soll bis Ende des Jahres nicht nur der letzte Meiler vom Netz gehen, sondern "idealerweise" bis 2030, wie es im Koalitionsvertrag heißt, auch das letzte Kohlekraftwerk abgeschaltet werden. In zehn Jahren, so haben es sich SPD, Grüne und FDP vorgenommen, sollen 80 Prozent des deutschen Energiebedarfs durch erneuerbare Energien gedeckt werden, also vor allem durch Wind und Sonne. Im ersten Halbjahr 2021 waren es deutlich weniger als 50 Prozent.
Das Ziel dieses gigantisches Umbaus: Deutschland soll möglichst schnell seine CO2-Emissionen reduzieren. Viele andere Staaten wollen zwar ebenfalls klimafreundlicher werden und sich entsprechend von fossilen Energieträgern trennen. Aber sie wollen dabei eben nicht auf Atomstrom verzichten, sondern vielmehr dessen klimafreundliche Produktion ausnutzen. In Frankreich ist die Kernenergie wieder besonders en vogue. 56 Atomkraftwerke sind dort aktuell am Netz, und es sollen noch mehr werden. Präsident Emmanuel Macron hat sogar ein "neues Zeitalter der Kernenergie" ausgerufen. Zwar ist man in Ländern wie Großbritannien, Polen, Italien oder Finnland nicht ganz so euphorisch. Aber auch die dortigen Regierungen setzen weiter oder wieder verstärkt auf Kernenergie.
Energiepolitische Kamikaze-Aktion
Und das ist nur die europäische Perspektive. Weltweit betrachtet steht Deutschland, das schon jetzt die höchsten Strompreise der Welt hat, mit seiner ablehnenden Haltung noch isolierter da als in der EU. Das "Wall Street Journal" nannte die deutsche Energiepolitik auch deshalb bereits vor Jahren "die dümmste der Welt", eine Kamikaze-Aktion, mit der die Bundesrepublik ihren Status als Industrienation aufs Spiel setze. Denn ohne bezahlbare und sichere Energie gebe es keine Wettbewerbsfähigkeit.
So hart würde es Rainer Klute nicht ausdrücken, aber auch er sieht eine riesige Lücke zwischen den energiepolitischen Ambitionen der Bundesregierung und ihrer Umsetzbarkeit. Für ihn ist die Sache daher klar. In Deutschland müsse es ein Umdenken geben. Nun ist Klute Vorsitzender von "Nuklearia", einer Vereinigung von Befürwortern der Atomkraft. Seine Position ist also nicht wirklich überraschend. Überraschend für viele dürfte allerdings sein, dass Klute seinen Verein als Umweltschutzorganisation sieht. Man verfolge die gleichen Ziele wie andere: die größtmögliche CO2-Verrinerung. Nur eben mit Atomkraft.
Der grauhaarige Mann mit dem akkurat getrimmten Vollbart sieht Kernenergie als umweltfreundlichste aller Energieformen und als bislang einziges Mittel, um Strom umweltschonend und doch zuverlässig zu erzeugen. Klute begrüßt daher natürlich auch die Empfehlung der EU-Kommission.
Fortschritte bei der Atommüll-Endlagerung
Kritik an der von ihm favorisierten Technik wehrt er routiniert ab. Etwa das wohl am häufigsten gegen die Kernenergie hervorgebrachte Argument: die ungeklärte Frage der Endlagerung. Klute sieht große Fortschritte und verweist auf Finnland. Dort werde gerade das weltweit erste Endlager für hochradioaktiven Atommüll fertiggestellt. In wenigen Jahren könne in dem "Onkalo" genannten Lager auf der Insel Olkiluoto Atommüll sicher untergebracht werden.
Auch den Einwand, Kernenergie sei zu teuer, weiß Klute zu parieren. Etwa zwei Drittel der Kosten eines Kernkraftwerks entstünden durch seinen Bau, der größte Teil seien Zinsen. Wenn Atomkraft wie von der EU beabsichtigt als nachhaltige Technologie eingestuft werde, könnten diese jedoch sinken. Weitere Kosteneinsparungen seien durch neue Erfahrungen beim Bau von Kernkraftwerken möglich. Mit sogenannten Mini- und Mikroreaktoren, die sich gerade in der Entwicklung befänden, ließen sich durch eine automatisierte Produktionsweise weitere Kosten reduzieren, prophezeit Klute.
Dass die amtierende Bundesregierung ihren Kurs noch einmal ändert und die Abkehr von der Atomenergie revidiert, glaubt allerdings nicht einmal Klute. Dennoch gibt er nicht auf. Er rechnet damit, dass die Atomkraft Ende des Jahrzehnts auch in Deutschland eine Renaissance erlebt: "Die dann amtierende Koalition hat zwar mehr Druck als ihre Vorgängerregierungen, aber auch größere Freiheit bei der Wiedereinführung der Kernenergie."
Indirekt setzt Klute also darauf, dass Deutschland mit seiner radikalen Energiewende scheitert und deshalb letztlich wieder auf die Atomkraft setzen muss. Aber ist die Sache wirklich so klar wie er behauptet? Führt wirklich kein Weg an der Kernenergie vorbei, wenn ein Land möglichst rasch klimaneutral werden will?
150 Atomkraftwerke mehr für Deutschland?
Ein Anruf bei Harald Lesch. Der bekannte Physiker hält die Debatte über eine Renaissance der Kernkraft für eine Farce. Neue Meiler so schnell ans Netz zu bringen, dass damit der Klimawandel rechtzeitig aufgehalten werden könne, sei eine Illusion. "Bis die Dinger am Netz sind, ist der Klimawandel durch."
Zumal sich die Sicherheit von Meilern nicht erhöhe, wenn nicht schnell etwas gegen die Erderwärmung getan werde. Schon jetzt könnten Anlagen in Frankreich im Sommer nicht mehr ausreichend gekühlt werden, weil die Außentemperaturen zu hoch seien, warnt Lesch. Wolle man die jetzige Stromversorgung durch Kernkraft gewährleisten, müsse man allein in Deutschland 150 Atomkraftwerke bauen, von denen jedes einzelne hochgiftigen, radioaktiven Abfall produziert. "Das kann doch keiner wollen", ist Lesch überzeugt.
Eine noch größere Gefahr sieht er in vielen kleinen Reaktoren, auf die Atombefürworter Klute setzt, "deren Zuverlässigkeit im Übrigen erst einmal nachgewiesen werden müsste", so Lesch. Die müssten vor allem an dicht besiedelten Gebieten oder in der Nähe von Industriegebieten entstehen und würden damit ein noch größeres Sicherheitsrisiko bergen. Auch dass Kernkraftwerke inzwischen kostengünstig zu betreiben seien, sieht Lesch im Gegensatz zu "Nuklearia"-Chef Klute nicht und verweist auf die Kosten der Endlagerung. "Zur Nachhaltigkeit gehört doch inzwischen auch der Begriff der Vollkostenrechnung", konstatiert der Physiker.
Daher fordert Lesch, sich ehrlich zu machen: Die einzige zukunftsfähige Form der Versorgung seien die erneuerbaren Energien. Das bedeute aber eben auch, auf Privilegien zu verzichten: "In Zukunft werden wir lernen müssen, wieder in einem natürlichen Rhythmus zu leben." Wenn der Wind blase oder die Sonne scheine, sei eben auch am meisten Energie da. "Wer dann nachts die Waschmaschine laufen lassen will, muss eben in Kauf nehmen, dass der Strom dafür mehr kostet als zu einer anderen Tageszeit."
Die Energiewende ist zum Erfolg verdammt
Und was heißt das nun alles? Auf absehbare Zeit dürfte es in Deutschland keine politische Mehrheit für die Renaissance der Atomkraft geben. Außer der AfD zeichnet sich in keiner Partei eine entsprechende Initiative ab. Und eines Tages mal eben rasch wieder auf Kernkraftwerke zu setzen, wird auch kaum funktionieren. Die Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, dass der Bau von Reaktoren eher eine Frage von Jahrzehnten als von Jahren ist. Gleichzeitig ist Deutschland als Industriestandort aber auf eine zuverlässige und nicht allzu teure Energieversorgung angewiesen. Ist die nicht gewährleistet, könnten sich früher oder später viel grundsätzlichere Debatten über unseren Wohlstand ergeben.
Das bedeutet: Die Energiewende ist zum Erfolg verdammt, der Ausbau von Windkraft- und Solaranlagen muss massiv forciert werden. Gelingt dieses ambitionierte Projekt, wird Deutschland mit großer Wahrscheinlichkeit international zum Vorbild. Scheitert die Regierung, werden nicht nur im übertragenen Sinne eines Tages die Lichter ausgehen.
- Eigene Recherche
- Interview mit Harald Lesch am 4.1.2022
- Interview mit Rainer Klute am 4.1.2022
- Schriftliche Anfrage an Ricarda Lang