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Corona | Omikron: Impfpflicht – Wo beginnt die Freiheit, wo endet sie?


Tagesanbruch
Dieser Plan funktioniert nicht

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 17.12.2021Lesedauer: 5 Min.
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Kanzler Olaf Scholz und viele Abgeordnete der Regierungsfraktionen wollen die allgemeine Impfpflicht.Vergrößern des Bildes
Kanzler Olaf Scholz und viele Abgeordnete der Regierungsfraktionen wollen die allgemeine Impfpflicht. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

"Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden", hat Rosa Luxemburg geschrieben, und selbst wenn sie den Satz ganz anders gemeint hat, klingt er wunderbar nach Toleranz und Pluralismus. Auf unsere postheroische Gesellschaft übertragen, bedeutet er ganz einfach: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo sie die Freiheit der Mitmenschen einschränkt. Oder, frei nach Schiller: Leben und leben lassen.

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In normalen Zeiten kommt man mit dieser Banal-Moral ziemlich weit. Man kann damit Nachbarschaften, kommunales Leben und sogar einen ganzen Staat organisieren. Schwierig wird es, wenn statt Friede, Freude, Eierkuchen ausnahmsweise Krise herrscht, und erst recht, wenn die Krise länger dauert als geplant (was Krisen leider so an sich haben). Dann gelangen auch wohlstandsgesättigte Gesellschaften wie unsere erstaunlich schnell an ihre Grenzen. Dann brechen Konflikte auf, die wir kaum noch für möglich gehalten hätten, und wir stellen verblüfft fest, dass der alte Sigmund Freud wohl doch recht hatte: Der Firnis der Zivilisation ist dünn.

Wie dünn er ist, sehen wir gegenwärtig nicht nur in Sachsen und Thüringen, wo aufgebrachte Leute gegen einen vermeintlich "diktatorischen" Staat protestieren, der sie und ihre Mitbürger doch einfach nur schützen will. Wir sehen Familienväter, denen es nichts ausmacht, neben Neonazis zu marschieren, um ihrem Ärger Luft zu machen. Wir bekommen merkwürdige Whatsapp-Nachrichten von Bekannten, die vor dunklen Mächten warnen: Unter dem Vorwand des Gesundheitsschutzes würden wir jetzt alle versklavt, stand nämlich auf Facebook, und der Stefan von nebenan sagt das auch. Fast ein Drittel der Bevölkerung ist anfällig für Verschwörungstheorien, lesen wir in wissenschaftlichen Studien, und hören, wie Ewigempörte im Brustton der Überzeugung die Impfung gegen Covid verweigern: Das sei ihre "Freiheit".

Wo beginnt die Freiheit und wo endet sie? Je nachdem, wen man fragt, bekommt man nun unterschiedliche Antworten. CSU-Leute wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder und sein Generalsekretär Markus Blume beispielsweise verstehen darunter vor allem die Freiheit von Politikern, den Bürgern Vorschriften zu machen. Weil sie davon ausgehen, dass sich Probleme am besten durch Verordnungen lösen lassen. Und wenn die anderen nicht mitmachen, muss man sie halt zwingen. So ist Herrn Blumes Aufforderung an Bundeskanzler Olaf Scholz zu verstehen, dass der sich gefälligst um "die Corona-Verharmloser in der Ampel" kümmern solle. Mehr als 20 FDP-Politiker haben sich nämlich gegen die allgemeine Impfpflicht ausgesprochen, darunter (natürlich) der widerborstige Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki. "Der Bundestag kann eine allgemeine Impfpflicht nicht beschließen, solange er nicht einmal die Häufigkeit der mit der Pflicht verbundenen Schutzimpfungen kennt", schreiben die Parlamentarier. Selbst wenn man das Geschwurbel vieler Impfgegner für Kokolores hält und jedem Verschwörungsjünger am liebsten eine seriöse Tageszeitung abonnieren würde, muss man den FDP-Abgeordneten zugestehen: Da treffen sie einen wunden Punkt.

Der deutsche Staat ist ja nicht nur bei der Digitalisierung hoffnungslos abgehängt, er hat auch seine Verwaltung nicht voll im Griff. Es gibt kein Impfregister, es gibt keine verlässlichen Auskünfte über die Menge verfügbaren Impfstoffs, und vielerorts hakt es ein Dreivierteljahr nach Start der Impfkampagne immer noch mit der schnellen Terminvergabe. Trotzdem wollen der Kanzler und viele Politiker von SPD, Grünen, CDU und CSU die Bürger zum Pflichtpiks verdonnern.

Ist das klug? Das haben mein Kollege Marc von Lüpke und ich einen der besten Juristen gefragt: Hans-Jürgen Papier war früher Präsident des Bundesverfassungsgerichts und zählt zu den bedeutendsten Staatsrechtlern des Landes. Seine Antworten sind bemerkenswert. "Wie wollen Sie denn über zwanzig Millionen Personen zu mehrfachen Impfungen zwingen, die nicht geimpft werden wollen und die keiner Behörde namentlich bekannt sind?", fragt er. "Mithilfe der Polizei? Mit Bußgeldern und Erzwingungshaft? Davon abgesehen würde eine solche Maßnahme das Vertrauen der Menschen in die Politik kaum stärken." Papier weiter: "Es ist immer schlecht, den Bürgern Pflichten aufzuerlegen, die der Staat selbst im Regelfall nicht durchsetzen kann." Und schließlich: "Ich glaube, dass noch lange nicht alle Mittel ausgeschöpft sind, um die Menschen in stärkerem Maße zur Impfung zu bewegen."

Es ist ein Interview geworden, das zu denken gibt. Nicht nur mir, vielleicht auch Ihnen. Ganz sicher aber einigen Entscheidern im Bundestag und in der Regierung. Womöglich kommt der Denkanstoß genau im richtigen Moment. In der Schule würde man sagen: Macht erst mal eure Hausaufgaben, bevor ihr Forderungen stellt. Aber lesen Sie selbst.


CDU zählt aus

Helge Braun, Norbert Röttgen oder – im dritten Anlauf – Friedrich Merz? Um zu klären, wer die Partei als Nachfolger von Armin Laschet in die Post-Merkel-Ära führen soll, hat die CDU ein Experiment gewagt und zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Mitgliederbefragung über den nächsten Vorsitzenden veranstaltet. Bis gestern durften die 400.000 Parteibuchbesitzer abstimmen, mehr als die Hälfte hat mitgemacht. Welcher der drei Bewerber vorn liegt, will Generalsekretär Paul Ziemiak heute Nachmittag verkünden. Sollte keiner der Kandidaten mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, braucht es einen zweiten Wahlgang, der am 29. Dezember beginnen und bis zum 12. Januar dauern würde. Offiziell muss der neue Vorsitzende dann von den Delegierten eines digitalen Parteitags Ende Januar gewählt werden – wobei als sicher gilt, dass diese der Basis folgen. Meine Prognose: Merz macht's. Aber der nächste Kanzlerkandidat der Union heißt trotzdem Markus Söder.


Heikler Herrscher

Die türkische Lira liegt darnieder. Gestern stürzte die Währung auf ein Rekordtief – und immer mehr Türken verlieren das Vertrauen in Präsident Erdoğan. Der jedoch frönt unverdrossen seinen neo-osmanischen Ambitionen: Derzeit umgarnt er afrikanische Staats- und Regierungschefs auf einem dreitägigen Türkei-Afrika-Gipfel, von dem er sich neben geostrategischem Einfluss internationale Wirtschaftskontakte, einen Handelsaufschwung und Devisen erhofft. Was diese Großmachtfantasien für bedrängte Minderheiten auf dem afrikanischen Kontinent bedeuten, erklärt uns die Gesellschaft für bedrohte Völker: nichts Gutes. Denn während Herr Erdoğan die afrikanischen Chefs hofiert, wählt er als Zielländer für den Export türkischer Drohnen Konfliktgebiete wie Marokko und Äthiopien. Im Sudan soll die Türkei in den Militärputsch verwickelt sein, im somalischen Mogadischu unterhält sie eine Militärbasis. Zynismus ist ein zu kleines Wort dafür.

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Kicker auf Rekordkurs

Mit sechs Punkten Vorsprung auf den Tabellenzweiten Dortmund geht der FC Bayern in den letzten Hinrunden-Spieltag. Heute Abend empfangen die Münchner mit dem VfL Wolfsburg einen ihrer Lieblingsgegner: Gegen die Elf aus der Autostadt hat der Rekordmeister kein einziges der bislang 24 Heimspiele verloren. So erdrückend ist die Dominanz der Bayern weiterhin, dass nur noch das mögliche Einstellen historischer Bestmarken für ein bisschen Restspannung sorgt: Robert Lewandowski, der mit bislang 42 Bundesligatoren im Kalenderjahr 2021 genauso viele Treffer erzielt hat wie Gerd Müller 1972, könnte heute zum alleinigen Rekordhalter werden. Na dann.


Was lesen?

Will Wladimir Putin wirklich die Ukraine angreifen – oder ist der russische Truppenaufmarsch nur ein Bluff? Mein Kollege Jan-Henrik Wiebe erklärt die Hintergründe.


Die Europäische Zentralbank geht davon aus, dass die Preise kommendes Jahr weiter schnell steigen. Trotzdem lässt sie die Zinsen auf Nullniveau. Unser Wirtschaftschef Florian Schmidt hat eine klare Meinung dazu.


Was amüsiert mich?

Und das kommt dabei heraus, wenn man sich nur auf Facebook informiert.

Ich wünsche Ihnen einen gut informierten Tag. Morgen erscheint der letzte Tagesanbruch des Jahres, danach ist Weihnachtspause bis zum 2. Januar.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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