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Tiergarten-Mord: Dieses Urteil könnte eine außenpolitische Krise bedeuten


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Tagesanbruch
Dieser Mord kann alles ändern

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 15.12.2021Lesedauer: 5 Min.
Tatort im Kleinen TiergartenIm August 2019 soll ein russischer Killer hier einen Tschetschenen ermordet haben.Vergrößern des Bildes
Tatort im Kleinen Tiergarten: Im August 2019 soll ein russischer Killer hier einen Tschetschenen ermordet haben. (Quelle: Christoph Soeder/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

in der Vorweihnachtszeit möchte man zur Ruhe kommen. Kerzen an, schöne Musik, Plätzchen naschen. Draußen wird es schon nachmittags dunkel, da verkriecht man sich zu Hause wie in einer Höhle, und die Nachbarn machen es ebenso. Nette Leute sind das, haben neulich sogar einen Teller Lebkuchen rübergebracht. Nur im übernächsten Haus, da stimmt etwas nicht. Da wohnt dieser Typ, der alles andere als gemütlich ist. Das Gekläff seiner Kampfhunde macht die ganze Nachbarschaft kirre. Er lässt die Viecher sogar am Nachbarszaun hochspringen und lacht höhnisch über die Angst der Kinder. Neulich hat sich jemand beschwert, den hat er doch glatt in den Keller gesperrt! Und vor einigen Monaten, da hatte er Streit mit irgendwem, soll er doch tatsächlich einen Kumpel losgeschickt haben, um seinen Rivalen hier – in unserem Vorgarten! – hinterrücks um die Ecke zu bringen.

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Klingt schaurig, ich weiß. Aber was würden Sie erst sagen, wenn sich diese kleine Geschichte nicht in einer fiktiven Nachbarschaft abspielen würde, sondern in der realen Welt der Politik?

Deutschlands Beziehungen zu Russland "abgekühlt" zu nennen, wäre eine Untertreibung. Sie sind eiskalt. Frostig. Klirrend. Schon Angela Merkel pflegte in ihren letzten Regierungsjahren nur noch sporadischen Kontakt zum Kreml zu halten; im Regierungsviertel galt Wladimir Putin als Chef einer Geheimdienstmafia, die sich einen ganzen Staat und dessen Rohstoffreichtümer unter den Nagel gerissen hat. Die neue Bundesregierung sucht noch ihren Umgang mit dem Mann in Moskau, aber leicht fällt es auch ihr nicht.

Kein Wunder, wenn man auf die Lage blickt. Im eigenen Land ist Putin wegen des miserablen Corona-Managements seiner Handlanger mächtig unter Druck geraten. Weil er es obendrein versäumt hat, neben dem Öl- und Gasexport weitere erfolgreiche Wirtschaftszweige aufzubauen, ist es auch um die Einkommen und Renten vieler Russen schlecht bestellt. Umso größer war deren Ärger, als ein mutiger Oppositioneller die ergaunerten Reichtümer der Kremlclique anprangerte. Prompt verschwand Alexej Nawalny im Kittchen, und er hatte noch Glück, dass er den staatlichen Mordanschlag – anders als andere Aufmüpfige – überlebte. Auch Putins Unterstützung für Diktatoren von Belarus bis Syrien stößt daheim zunehmend auf Kritik; viele seiner Landsleute finden, das Geld könne man besser für die Reparatur maroder Straßen, Schulen und Wohnhäuser ausgeben.

Deshalb tut Wladimir Putin, was er immer tut, wenn er unter Druck gerät: Er zettelt eine außenpolitische Krise an, um von seinem eigenen Versagen abzulenken. Die Beschwörung chauvinistischer Großrussland-Visionen soll es wieder einmal richten. Auch deshalb sehen wir nun hunderttausend russische Soldaten an der Grenze zur Ukraine mit den Panzerketten rasseln.

Als brillanter Taktiker, aber miserabler Stratege ist der russische Präsident mehrfach beschrieben worden: Kurzfristig haben seine Winkelzüge Erfolg, aber langfristig treiben sie sein Land immer weiter in die Isolation. Auch so ist zu erklären, dass erstens Bundeskanzler Olaf Scholz heute beim Gipfeltreffen der Östlichen Partnerschaft in Brüssel mit Vertretern Armeniens, Aserbaidschans, Georgiens, Moldawiens und der Ukraine über deren Zusammenarbeit mit der EU verhandelt. Dass zweitens das EU-Parlament in Straßburg heute den renommierten Sacharow-Preis an Alexej Nawalny verleiht. Und dass drittens heute ein Urteil fallen könnte, das Russland zum europäischen Pariastaat macht.

Um 11 Uhr will das Berliner Kammergericht seine Entscheidung im Tiergartenmord-Prozess verkünden. Mehr als ein Jahr lang haben die Richter die Hintergründe der Erschießung eines Georgiers tschetschenischer Abstammung vor zweieinhalb Jahren untersucht. Angeklagt ist ein 56-jähriger Russe, in dem die Bundesanwaltschaft einen staatlichen Killer sieht: Er soll im Auftrag russischer Regierungsstellen den feindlichen Kämpfer erschossen haben. Folgen die Richter dieser Argumentation, wird heute Mittag ein Beben durchs Berliner Regierungsviertel gehen. Kommt das Gericht zu dem Schluss, dass der Kreml mitten in der deutschen Hauptstadt einen Widersacher ermorden ließ, muss die Bundesregierung ihr Verhältnis zu Russland neu definieren. Mit ein paar scharfen Worten und der Ausweisung einiger Diplomaten wäre es dann nicht getan. Die baldige Inbetriebnahme der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 wäre dann ebenso undenkbar wie eine pragmatische Verhandlungslösung im Konflikt an der Grenze zwischen dem russischen Vasallenstaat Belarus und der EU. Auch das Tauziehen um die Ukraine würde verschärft. Kurz: Es wäre die erste außenpolitische Krise der Ampelregierung.

Ist sie dafür gewappnet? Kann Olaf Scholz Härte zeigen, findet Außenministerin Annalena Baerbock die richtigen Worte, vertreten sie entschlossen Deutschlands Interessen? Heute Mittag wissen wir mehr. Diese Geschichte dürfte dann allerdings folgenschwerer werden als ein kleiner Nachbarschaftsstreit.


Schlagabtausch im Bundestag

Apropos Olaf Scholz: Als großer Redner ist der Sozialdemokrat bisher nicht in Erscheinung getreten. Ihm haftet das Image eines spröden Kommunikators an, der es meisterlich versteht, auf Journalistenfragen nicht zu antworten. Aus seiner Zeit als SPD-Generalsekretär in der rot-grünen Koalition stammt das Bild vom "Scholzomat", der Gerhard Schröders Agenda 2010 stoisch gegen Kritik verteidigte. Gelegentlich lässt er sich aber doch zu gewagten Sprachbildern hinreißen, etwa der "Bazooka", die er als Finanzminister auszupacken versprach, um die Wirtschaft vor den Corona-Folgen zu schützen. Ein bisschen gespannt sein darf man heute also schon auf die erste Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers, in der er die Leitlinien seiner Politik für die kommenden vier Jahre skizzieren will. In der anschließenden Aussprache tritt CDU/CSU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus erstmals als Oppositionsführer auf.


Noch ein Urteil

Wie eng war das Verhältnis zwischen dem Trio des "Nationalsozialistischen Untergrunds" und dessen Helfer André Eminger? Und wann wusste der bekennende Neonazi Eminger, der zu den untergetauchten Rechtsterroristen permanent Kontakt hatte, über deren mörderische Absichten Bescheid? 2018 kam der heute 42-Jährige vor dem Münchner Oberlandesgericht (OLG) mit milden zweieinhalb Jahren Haft davon, weshalb die Bundesanwaltschaft, die zwölf Jahre gefordert hatte, Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) einlegte. Heute verkünden die obersten Strafrichter ihr Urteil. Der BGH kann das OLG-Urteil bestätigen, ändern oder aufheben. Im letzten Fall müsste in München neu verhandelt werden. Alle anderen Urteile im NSU-Komplex sind rechtskräftig.


Der Lichtblick

Die Welt ist kalt und grau in diesen Tagen, und wenn sie nicht mehr grau ist, dann ist es viel zu früh dunkel. Geht es Ihnen auch so, dass Sie das Licht, die Wärme und die Leichtigkeit vermissen? Umso schöner sind die kurzen Lichtblicke, wenn die Natur das Schwarz in Weiß verwandelt, so wie hier in Berlin.

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Was lesen?

Lange lebte die Rentnerin Maritta Stender auf Lanzarote. Jetzt ist sie zurück in Deutschland – und soll auf einmal 1.000 Euro ans Finanzamt überweisen. Meine Kollegin Christine Holthoff hat den Fall aufgerollt.


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Kaum zu glauben, aber in diesem winzigen Gefährt reisten 1965 zwei Astronauten durchs All und planten ein waghalsiges Manöver. Was das war, lesen Sie auf unserem Historischen Bild.


Was amüsiert mich?

Es ist fünf vor zwölf im deutsch-russischen Verhältnis. Moment, oder ist es nicht eher … äh …

Ich wünsche Ihnen einen gelassenen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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