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Corona: "Wenn viele Menschen unter Druck geraten, suchen sie Schuldige"


Meinung
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Tagesanbruch
Im Panikmodus

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 16.11.2021Lesedauer: 6 Min.
Armband eines Impfgegners.Vergrößern des Bildes
Armband eines Impfgegners. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wenn ein Mensch unter Druck gerät, sucht er einen Ausweg. Wenn viele Menschen unter Druck geraten, suchen sie Schuldige. So erleben wir es dieser Tage. Die Corona-Lage ist außer Kontrolle geraten, die Noch-Regierenden und die Noch-nicht-Regierenden entpuppen sich als unfähig, schnell gegenzusteuern, da bekommen es viele Bürger mit der Angst zu tun: Was, wenn mich jemand anhustet? Was, wenn ich mich infiziere? Was, wenn ich das Virus an meine Eltern/Kinder/Großeltern weitergebe? Was, wenn ich einen Unfall habe und im Krankenhaus kein Bett frei ist? Die Furcht steht vielen Menschen ins Gesicht geschrieben, ob in der U-Bahn, im Familienkreis oder im Büro. Emotional ist das verständlich, klug ist es nicht. Wenn wir in dieser Pandemie etwas gelernt haben, dann dass sich dieses Virus nicht im Panikmodus niederringen lässt, sondern nur mit kühlem Kopf.

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Doch wer Angst hat, sucht ein Ventil für seine Angst, und am schnellsten findet man es bei Menschen, die sich anders verhalten als man selbst. Anderssein macht verdächtig, und die kollektive Fahndung nach Schuldigen an dem Schlamassel ist längst im Gange. In den sozialen Netzwerken, in Talkshows und in vielen Medien wird gefragt: Warum ist die Impfquote ausgerechnet in Deutschland so niedrig, dass wir jetzt schon wieder in einen Katastrophenwinter schlittern?

Die Gründe sind komplex, und weil sie so komplex sind, zücken Gesinnungspolizisten die Vereinfachungskeule: Die sturen Sachsen sind schuld! Die leichtsinnigen Bayern sind schuld! Die Esoteriker in Baden-Württemberg sind schuld! So tönt es durch die Foren, und eines der beliebtesten Feindbilder in dieser Schwarz-Weiß-Malerei sind Anthroposophen: In Texten wie zum Beispiel diesem oder diesem werden Waldorfbewegte in eine Ecke mit "Querdenkern" und Verschwörungsideologen gerückt; Geiferer im Internet nehmen den Faden begierig auf und spinnen ihn weiter.

Nun ist es kein Geheimnis, dass es unter überzeugten Anthroposophen entschiedene Impfgegner gibt, und ihre Beweggründe sind in der Regel tatsächlich hanebüchen. Auch hat sich rund um manche Waldorfschulen ein Gefolge aus eigenwilligen Weltendeutern angesiedelt, die wenig von Wissenschaft, aber viel vom Ätherleib halten. Doch eine ganze Bevölkerungsgruppe unter Generalverdacht zu stellen und ihr Verhalten als einen entscheidenden Grund für die deutsche Impfträgheit zu geißeln, ist ebenso falsch wie perfide.

Nehmen Sie den Autor dieser Zeilen als Beispiel: Ich bin ein großer Freund der Waldorfschulen, schaue dankbar auf 13 Jahre Rudolf-Steiner-Schule zurück, habe damals täglich mit Anthroposophen Umgang gehabt und sogar im Eurythmie-Unterricht meinen Namen getanzt – und bin trotzdem ein ziemlich normaler Mensch. Ach ja, und übrigens bis unter die Haarspitzen vollgepumpt mit Vakzinen: Masern, Mumps, Polio, Diphterie, Keuchhusten, Tetanus, Hepatitis A und B, Gelbfieber, Tollwut, Grippe, natürlich Corona, das ganze Programm. Was gegen gravierende Krankheiten schützt, ist mir willkommen, und so sehen es auch Zigtausende andere Anhänger der Waldorfbewegung. Wir sind stinknormal, so wie auch die meisten Sachsen und Bayern stinknormal sind.

Doch in Krisenzeiten neigen Menschen dazu, andere Leute für ihr Unheil verantwortlich zu machen. Diese Stigmatisierung ist gefährlich, weil sie die Gesellschaft spaltet. Dabei sind die Gründe, warum jemand sich nicht impfen lassen will, meistens nicht monokausal, sondern vielfältig. Mancherorts spielt die regionale Mentalität eine Rolle; ich habe das hier am Beispiel der Sachsen beschrieben. Manche Leute schenken Gerüchten auf Facebook, Telegram und Co. Glauben und fühlen sich darin von ihren Freunden bestärkt. Andere sind von historischen Erfahrungen geprägt, etwa den Umwelt- und Giftkatastrophen der Achtzigerjahre. Wiederum andere hegen ein grundsätzliches Misstrauen gegen Politiker, und das mag man ihnen kaum verdenken, wenn man berücksichtigt, wie viele Fehler die Regierenden in dieser Pandemie schon gemacht haben: Sagen heute dies und morgen das. Haben eine Impfpflicht von vornherein ausgeschlossen, wodurch sie den Anschein erweckten, die Spritze sei irgendwie doch riskant. Haben den Stoff von Astrazeneca mal gepriesen, mal gestoppt. Hinzu kam das föderale Kraut-und-Rüben bei den Corona-Regeln, die fehlende digitale Infrastruktur in den Gesundheitsämtern, der Unwille, die vielen Migranten hierzulande adäquat anzusprechen, und sicher auch die Tatsache, dass Deutschland im Vergleich zu Ländern wie Spanien und Frankreich bisher vergleichsweise glimpflich durch die Pandemie gekommen ist.

Unterm Strich ist klar: Der deutsche Rückstand beim Impfen hat viele Gründe, aber er liegt sicher nicht in erster Linie an der Geisteshaltung von Anthroposophen, Waldorfbewegten, Esoterikern oder einer sonstigen Bevölkerungsgruppe. Mit dem Finger auf Einzelne zu zeigen, bringt uns auch nicht schneller aus der Krise heraus.

Impfen lassen sollten sich natürlich trotzdem schnellstens alle, die bisher gezögert haben. Wer sich weiterhin weigert – egal, ob er Rudolf Steiner oder Asterix verehrt –, muss die Konsequenzen tragen und alle öffentlichen Orte meiden, bis die Pandemie ausgestanden ist: Diese einfache Regel sollte bald auch bundesweit gelten, wenn die Damen und Herren im Bundestag sich endlich dazu aufraffen.


Jetzt aber los!

Und so geht’s weiter: Nachdem sie sich gestern von Wissenschaftlern den Ernst der Corona-Lage schildern ließen, beginnen nun auch SPD, FDP und Grüne zu verstehen, was die Uhr geschlagen hat. Hastig haben sie ihren Gesetzentwurf nachgeschärft: Die Bundesländer sollen auch künftig Kontakte der Bürger beschränken und Veranstaltungen untersagen dürfen. Die 3G-Regel (Zugang nur für Geimpfte, Genesene oder Getestete) soll am Arbeitsplatz ebenso verpflichtend werden wie im öffentlichen Nahverkehr. Bei vielen Freizeitaktivitäten soll sogar 2G (nur für Geimpfte oder Genesene) gelten, hinzu kommt eine Testpflicht in Pflegeheimen. Einen flächendeckenden Lockdown wollen die künftigen Koalitionäre vermeiden, auch die Schulen sollen offen bleiben. Eine Impfpflicht für Angestellte im Gesundheitswesen peilen sie eventuell vielleicht möglicherweise an.

Lob für die Kurskorrektur kommt aus München. "Es ist noch nicht perfekt, aber die richtige Richtung", verkündet Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der nun auch noch klare Regeln für die Drittimpfung anmahnt: also vor allem eine Haftungsfreistellung für Ärzte, damit sie jedem Impfwilligen schon nach fünf Monaten eine Auffrischungsspritze setzen dürfen. Kulminieren wird die Debatte um die Corona-Regeln am Donnerstag: Dann stimmt der Bundestag über das neue Infektionsschutzgesetz ab – und auch die lange hinausgezögerte Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin findet endlich statt.

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Streik der Weißkittel

Viele Krankenhäuser arbeiten wegen Corona eh schon am Anschlag, heute kommt eine weitere Herausforderung hinzu: Die Gewerkschaft ver.di ruft zu Warnstreiks auf, bis zu 2.000 Beschäftigte in den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen wollen ihre Arbeit niederlegen. Darunter sind auch die sechs größten Häuser in Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster. Krank sein will man dort heute nicht.


Kurz ohne Schutz

Zwei Ermittlungsverfahren laufen gegen den österreichischen Ex-Kanzler Sebastian Kurz: Zum einen untersucht die Staatsanwaltschaft den Verdacht einer Falschaussage im Ibiza-Untersuchungsausschuss, zum anderen sollen er und seine Kumpel geschönte Medienberichte und Umfragen mit Steuergeld gekauft haben. Die Verfahren sind jedoch unterbrochen, weil der gefallene Tausendsassa nun als ÖVP-Abgeordneter Schutz vor der Justiz genießt. Heute soll das österreichische Parlament die Aufhebung seiner Immunität einleiten. Dass der zuständige Ausschuss so entscheidet, gilt als sicher. Am Donnerstag folgt die Abstimmung im Plenum, danach kann die Korruptionsstaatsanwaltschaft weiter ermitteln.


Was lesen?


Polizisten sind verpflichtet, die Corona-Regeln durchzusetzen. Doch auch in ihren Reihen gibt es "Querdenker". Eine Recherche meiner Kollegin Annika Leister zeigt, wie groß das Problem mittlerweile ist.


Warum gibt es immer mehr Gerichtsurteile, die an rechtsextreme AfD-Propaganda erinnern? Der Journalist Joachim Wagner beschreibt, wie "rechte Richter" den Staat unterwandern wollen.


Sieben Spiele, sieben Siege: Die Bilanz von Bundeshansi Flick ist makellos – allerdings waren seine Gegner nur Leichtgewichte. Trotzdem ist es drei Nationalkickern gelungen, sich ganz nach vorn zu dribbeln, analysiert mein Kollege Noah Platschko.


Was amüsiert mich?

Reisen in Zeiten verschärfter Corona-Regeln ist gar nicht so einfach.

Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag. Und ja, ich habe damals auf der Schule wirklich meinen Namen getanzt. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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