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Trotz Corona-Krise: Der wundersame Boom am deutschen Arbeitsmarkt


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Tagesanbruch
Der wundersame Boom

MeinungVon Sven Böll

Aktualisiert am 13.10.2021Lesedauer: 6 Min.
Aufsteller vor einem Restaurant: Mitarbeiter dringend gesucht.Vergrößern des Bildes
Aufsteller vor einem Restaurant: Mitarbeiter dringend gesucht. (Quelle: imago-images-bilder)
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Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

vielleicht geht es Ihnen wie mir: Ich bin ein treuer Kunde. Zumindest dann, wenn ich mich gut behandelt fühle und den Eindruck habe, ein faires Unternehmen zu unterstützen.

Deshalb halte ich seit mehr als zehn Jahren meinem Friseur die Treue. Ich habe grundsätzlich Respekt davor, wenn sich jemand selbstständig macht und etwas aufbaut. Besonderen Respekt vor ihm habe ich, weil er seine Mitarbeiter stets gut behandelt hat. Er zahlte schon deutlich mehr als den Mindestlohn, als es den noch gar nicht gab. Er spendierte Jobtickets. Und so weiter. Damit war er in einer Branche, die für miese Bezahlung und auch sonst eher bescheidene Arbeitsbedingungen verrufen ist, schon immer eine rühmliche Ausnahme.

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Und dennoch: Mein Friseur konnte eigentlich noch nie so schnell wachsen, wie er wollte. Die Kunden rannten ihm die Bude ein, aber er fand nicht genug Mitarbeiter. Im Moment ist die Lage schwieriger denn je. Er bietet in Stellenanzeigen unter anderem 16 Euro Stundenlohn und durchgehend freie Samstage, ist bis an den Rand des betriebswirtschaftlich Verantwortbaren gegangen. Aber die Zahl der Bewerbungen liegt bei: null. "Es gibt einfach niemanden", sagt er.

Mein Friseur ist nicht der einzige Unternehmer, der dringend Mitarbeiter braucht. Es gibt derzeit fast 800.000 offene Stellen, rund ein Drittel mehr als vor einem Jahr. Und das sind nur die offiziell gemeldeten Jobs. Gefühlt steht an jedem zweiten Restaurant und jedem dritten Geschäft: "Wir suchen ...". Neulich sah ich über einem Laden ein großes Banner mit der Aufschrift "Mindestens 15 Euro Stundenlohn" hängen und entdeckte an einem anderen den Hinweis, man solle sich zum Recruiting-Event anmelden. So etwas veranstalteten früher nur McKinsey oder Siemens.

Dieser brutale Kampf um Mitarbeiter ist umso erstaunlicher, weil wir gerade die schwerste globale Wirtschaftskrise seit Langem erlebt haben. Zwar brach die deutsche Wirtschaft 2020 mit 4,9 Prozent nicht ganz so stark ein wie nach der Finanzkrise 2009, aber das Wachstum in diesem Jahr ist deutlich beschaulicher als 2010. Die Erholung dauert also länger. Trotzdem ist die Arbeitslosenquote zuletzt auf 5,4 Prozent gesunken und damit auf einen niedrigeren Wert als im Herbst 2018. Auch die Zahl der Erwerbstätigen lag zuletzt nur knapp unter ihrem Allzeithoch. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist sogar höher als vor Ausbruch der Pandemie.

Jahrhundertkrise – war da was? Offenbar nicht. Eher ein deutsches Wunder.

Dabei reden wir doch gerade ständig davon, was bei uns alles nicht klappt und wo wir anderen Ländern hinterherhecheln. Allgemeiner Reformstau, schleppende Digitalisierung, schwieriger Umbau auf eine klimaneutrale Wirtschaft: Wieso boomt der Arbeitsmarkt dann trotzdem? Das habe ich drei der renommiertesten Ökonomen gefragt.

Offenbar sind selbst die Experten etwas überrascht. "Es ist in der Tat bemerkenswert, dass die Krise am Arbeitsmarkt auf den ersten Blick wenig Spuren zu hinterlassen scheint", sagt Clemens Fuest, Präsident des Münchner Ifo-Instituts. Die Gründe dafür sieht er in einer "zunehmenden Arbeitskräfteknappheit schon vor der Krise und dem massiven Einsatz öffentlicher Mittel zur Überbrückung der Krise". Also etwa dem Kurzarbeitergeld oder der Hilfen für Firmen.

Auch Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, lobt die "exzellenten Hilfsprogramme" während der Hochphase der Pandemie. Das Fachkräfteproblem, prognostiziert er, werde sich sogar massiv verschärfen. Angesichts der demographischen Entwicklung verliere Deutschland bis Ende der Zwanzigerjahre vier Millionen Beschäftigte.

Geht es nach Michael Hüther, dem Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, haben sich auch in dieser Krise einmal mehr die Reformen der Agenda 2010 bewährt. Diese hätten zum einen mehr Anreize für Arbeitnehmer geschaffen, eine Beschäftigung aufzunehmen, zum anderen könnten Firmen flexibler agieren, was sie eher dazu veranlasse, Jobs zu schaffen.

Ein ziemlich flexibler Arbeitsmarkt.

Ein finanzkräftiger Staat, der in der Krise dem Joberhalt absoluten Vorrang eingeräumt hat.

Ein eh schon chronischer Mangel an Fachkräften.

Das sind nicht die einzigen, aber vielleicht die wichtigsten Gründe für das Jobwunder, mit dem Deutschland der Jahrhundertkrise trotzt. Aber heißt das auch, dass die nächste Bundesregierung in der Arbeitsmarktpolitik auf Reformen verzichten kann?

Ganz so einfach ist es nach Einschätzung der Ökonomen nicht. Aber: "Ein großer Wurf neuer Arbeitsmarktreformen ist nicht erforderlich", sagt IW-Chef Hüther. Wichtiger sei es, die durch die Flexibilisierung erzielten Fortschritte nicht durch neue Re-Regulierung zu gefährden. "Leider sind in dieser Hinsicht einige Ansätze erkennbar." Damit meint Hüther etwa den Plan von SPD und Grünen, den Mindestlohn auf zwölf Euro zu erhöhen, also die dafür zuständige Kommission zu umgehen.

Wenn es nach Ifo-Präsident Fuest und DIW-Chef Fratzscher geht, muss die neue Regierung vor allem dafür sorgen, dass mehr Menschen ihre Arbeitskraft überhaupt zur Verfügung stellen. Auch wenn sich ihre Vorschläge zum Teil unterscheiden, sehen beide ähnliche Ansatzpunkte: Vor allem Frauen könnten durch eine Reform des Ehegattensplittings animiert werden, ihre Arbeitszeit auszudehnen oder überhaupt einen Job aufzunehmen. Älteren Arbeitnehmern müsse es leichter gemacht werden, über das normale Renteneintrittsalter hinaus beschäftigt zu bleiben. Und für Geringverdiener müsse sich Vollzeitarbeit mehr lohnen.

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Einig sind sich Fuest und Fratzscher auch bei einer weiteren Baustelle: "Die Zuwanderung von Fachkräften sollte noch einmal erleichtert werden", sagt Fuest. Fratzscher begründet den Reformbedarf so: "Das in der Vergangenheit beschlossene Fachkräftezuwanderungsgesetz ist Augenwischerei, denn die Hürden sind bewusst so hoch gelegt worden, dass dieses Programm gescheitert ist."

Nach Einschätzung der deutschen Topökonomen wird sich die nächste Bundesregierung in der Arbeitsmarktpolitik also vor allem an zwei Fragen messen lassen müssen:

Hat sie den Mut, auf zusätzliche Regulierungen zu verzichten?

Gelingt es ihr, durch mutige Reformen mehr Menschen zur Arbeit (in Deutschland) zu bewegen?

Auf die erste Frage geben SPD, Grüne und FDP unterschiedliche Antworten. Plausibel ist, dass sie sich deshalb in den Verhandlungen gegenseitig neutralisieren und den Status quo weitgehend erhalten. Stillstand wäre in diesem Fall nicht unbedingt ein Nachteil.

Die wahrscheinlichen Ampelkoalitionäre könnten ihre Kraft dann auf eine möglichst fortschrittliche Antwort auf die zweite Frage konzentrieren. Und bereits bei den noch laufenden Sondierungen beweisen, wie ernst sie es mit echten Reformen wirklich meinen.


Der Kanzler in spe ist dann mal kurz weg

Olaf Scholz ist bis morgen in Washington, wo die Jahrestagung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds stattfindet. Beim Treffen der globalen Finanzelite wird der SPD-Kanzlerkandidat wohl ein besonders großes Interesse auf sich ziehen. Denn natürlich will alle Welt wissen, wie er so ist, der mutmaßlich nächste Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland. Damit das Unternehmen Kanzleramt für Scholz auch tatsächlich klappt, wird in Berlin weiter fleißig zwischen SPD, Grünen und FDP verhandelt. Schließlich soll bis Freitag ein Sondierungspapier stehen.


Einfach mal aufrichtig Danke sagen

In Berlin steht der Mittwoch einmal mehr im Zeichen des Afghanistan-Einsatzes. Es soll aber weniger um das desaströse Ende der Bundeswehrmission gehen, sondern um ein Zeichen der Dankbarkeit und des Mitgefühls seitens der Politik. Deshalb werden am Abend die zurückgekehrten Soldaten mit einem Großen Zapfenstreich geehrt. Davor gibt es unter anderem ein Gespräch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Hinterbliebenen und im Einsatz Versehrten.


Wie teuer wird es noch?

Die Preise stiegen zuletzt so schnell wie lange nicht mehr. Aber hält der Trend auch an? Darauf gibt es am Morgen eine Antwort, wenn das Statistische Bundesamt die Inflationsrate für September bekannt gibt. Weil vor allem die Energiepreise anziehen, will die Europäische Kommission aller Voraussicht nach am Mittag eine "Toolbox" vorstellen, die Vorschläge enthält, wie die Mitgliedstaaten ihre Bürger vor zu hohen Strom- und Heizkosten schützen können.


Was lesen?

Nach gängigen Kriterien ist vieles von dem, was in der AfD passiert, bemerkenswert. Aber das Interview, das mein Kollege Daniel Mützel mit Jörg Meuthen geführt hat, ist selbst für AfD-Verhältnisse erstaunlich. Die Freude seiner Gegner werde nicht von Dauer sein, sagt Meuthen, nachdem er angekündigt hat, nicht wieder als Parteichef zu kandidieren: "Wenn sie glauben, jetzt seien sie mich los, irren sie. Die werden sehr schnell merken, dass ich nicht weg bin. Das ist kein Rückzug."

Dass Rücktritte von Chefs bei der AfD eher die Regel als die Ausnahme sind, zeigt eine interessante Analyse meiner Kollegen Lars Wienand und Heike Aßmann.


Als "Wunderwuzzi" galt Sebastian Kurz in Österreich. Dass er im wahrsten Sinne des Wortes offenbar ein Alleskönner ist, scheint die jüngste Affäre zu zeigen. Doch nicht nur bei unseren sympathischen Nachbarn genießt Kurz trotz allem noch erstaunlich viel Zustimmung, sondern auch in Deutschland. Das zeigt eine Umfrage, die meine Kollegin Liesa Wölm ausgewertet hat.


Was mich amüsiert

Irgendwas ist ja immer ...

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag! Morgen begrüßt Sie an dieser Stelle Florian Wichert.

Ihr

Sven Böll
Managing Editor t-online
Twitter: @SvenBoell

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Mit Material von dpa.

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