Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Es gibt ein Problem
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
"Politik bedeutet, und davon sollte man ausgehen, das ist doch – ohne darum herum zu reden – in Anbetracht der Situation, in der wir uns befinden." Selten war so viel Klarheit wie in diesem Satz des großen Visionärs, der, da werden Sie mir sicher zustimmen. Heutzutage wollen viele Amtsträger ja immer nur, während sie doch eigentlich, das darf man als Bürger wohl erwarten. Denn das sind schließlich die drei Kernaufgaben der Politik, auch das hat uns dieser große Mann ins Stammbuch geschrieben: "Erstens das Selbstverständnis unter der Voraussetzung, zweitens, und das ist es, was wir den Wählern schuldig sind, drittens, die konzentrierte Beinhaltung als Kernstück eines zukunftsweisenden Parteiprogramms."
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Wenn Sie schon ein Weilchen den Tagesanbruch lesen (und es soll Menschen geben, die ohne ihn morgens nicht aus dem Bett kommen), dann wissen Sie, dass uns Autoren eine klare Sprache am Herzen liegt. Wir wollen die Dinge beim Namen nennen, mal plakativ, mal verschmitzt, wir wollen Sie zum Denken anregen, und dafür erlauben wir uns gelegentlich auch, Sie ein wenig zu provozieren. Nur eines versuchen wir zu vermeiden: dass Sie nach der Lektüre mehr Fragezeichen im Kopf haben als zuvor.
Offengestanden ist das keine einfache Aufgabe. In der Welt der Politik geschieht so vieles so schnell, dass man als Beobachter kaum noch hinterherkommt. Eben hat man noch in den Bundestag geblickt, da kracht es schon in Kabul, und die zweiundsiebzig E-Mails mit unheimlich wichtigen Themenvorschlägen sind auch noch nicht gelesen. Aber es muss ja an jedem Werktagmorgen pünktlich um 6 Uhr der Tag anbrechen, komme, was wolle. So kommt es dann, dass man als Autor gelegentlich ein unheimlich wichtiges Thema übersieht, nicht ganz den richtigen Ton trifft oder einen Satz tippt, der prompt von den Bescheidwissern in den "sozialen Medien" zerpflückt und als oberdoofste Doofheit durchs digitale Dorf gejagt wird. Irgendeine Sau braucht es heutzutage ja immer, und viele Menschen haben sich ihre Meinung eh schon vor zweihundertfünfzig Jahren gebildet, so dass sie sofort wissen, was richtig und was falsch ist. Letzteres lässt sich besonders laut herauskrähen, und am lautesten wird der Heini zur Schnecke gemacht, der den Mist verzapft hat. Einmal doof, immer doof: Dieses fachkundige Urteil wird in der pausenlos vor sich hin plappernden Öffentlichkeit immer schneller gefällt, und wer einmal verurteilt worden ist, hat nur geringe Chancen auf Rehabilitation.
So, und spätestens jetzt, nach fast 2.500 Zeichen, die dieser seltsame Text schon vor sich hin mäandert ist, werden Sie sich wohl fragen, warum ich Ihnen all diese Binsenweisheiten heute Morgen auftische. Lassen Sie mich meine Antwort dreiteilen. Erstens bin ich es seit nunmehr fast vier Jahren halt gewohnt, Ihnen tagtäglich das Ohr abzukauen, wenn Sie mir das schiefe Wortbild gestatten. Und glauben Sie mir, es ist nicht trivial, sich jede Nacht wieder etwas Neues auszudenken, worüber Sie beim Morgenkaffee, Tee oder Sektchen (doch, auch diese Leserinnen gibt es) nachsinnen können. Aber ich glaube, das schrieb ich oben schon.
Zweitens habe ich den Eindruck, dass nicht nur mir und auch nicht nur anderen Leuten, die irgendwas mit Medien machen, gelegentlich schwindelig wird, wenn sie tagein, tagaus auf dem Nachrichtenkarussell herumsausen. Ich meine das auch bei Politikern zu beobachten, und wenn mich meine Sinne nicht trügen, reagieren die darauf genauso wie unsereins: Sie bekommen einen Tunnelblick. Sie verlieren im Stakkato der Ereignisse manche Entwicklungen aus den Augen, und das sind nicht die unwichtigsten. Sie fangen an, sich zu wiederholen zu wiederholen zu wiederholen. Sie sagen ein und dasselbe in immer neuen Variationen. Und gelegentlich kapitulieren sie vor der schieren Komplexität dessen, was sich heutzutage "Lage" nennt. Dann sind sie einfach nicht mehr imstande, gleichzeitig zu verstehen, wie sich die Corona-Infektionen in allen 16 Bundesländern gerade entwickeln, wer noch mal schuld war, dass die Menschen in den Hochwassergebieten nicht rechtzeitig gewarnt wurden, was jetzt konkret mit der Digitalisierung der Schulen gemeint ist, warum die Taliban plötzlich im Kabuler Präsidentenpalast sitzen und was wohl die klügste Antwort auf den achthundertseitigen Klimabericht sein könnte.
Lassen Sie mich zum dritten Teil meiner Antwort kommen und dafür nochmals den großen Redner zitieren, von dem ich Ihnen gleich auch den Namen verrate, aber gedulden Sie sich bitte noch einen Augenblick: "Hier und heute stellen sich die Fragen, und ich glaube, Sie stimmen mit mir überein, wenn ich sage: Letzten Endes, wer wollte das bestreiten!" Eben, wer wollte bestreiten, dass dieser Satz und auch die Sätze zu Beginn dieses Textes keinerlei Sinn ergeben? Sie sind Phrasen, Floskeln, Worthülsen, wie wir sie vielleicht nicht ganz so platt, aber ähnlich fast täglich von vielen Menschen hören, deren wichtigstes Arbeitsinstrument die Sprache ist – auch von vielen Politikern. Sie müssen (oder wollen, so genau weiß man das manchmal nicht) ununterbrochen irgendetwas sagen, im Inforadio, in der Talkshow, im Parlament, auf dem Flur vorm Parlament, auf diesem Twitter, und nun im Wahlkampf auch noch in Fußgängerzonen, auf Marktplätzen und Podien. Ständig hält man ihnen ein Mikrofon unter die Nase, ständig läuft irgendwo eine Kamera, und manchmal haben sie das Pech, dass irgendjemand ein Video so zurechtschnippelt, dass sie darin wie der hinterletzte Döskopp wirken. Und während sie noch überlegen, was genau sie gerade falsch gemacht haben, werden sie in den "sozialen Medien" schon zur Knalltüte erklärt.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Es liegt mir fern, offensichtliche Fehler schönzureden, erst recht in diesem drögen Wahlkampf, in dem es vor Fehlern nur so wimmelt. Aber ich möchte Sie heute Morgen anregen, über die Frage nachzudenken, warum die Damen und Herren in der Politik allzu oft klingen, als hätten Sie gerade einen Sketch des großen Loriot gesehen. Der hat sich übrigens an diesem Sonntag vor zehn Jahren aus dem Staub gemacht, um weiter oben Faxen zu machen, aber seine glorreiche Bundestagsrede, die hat er uns dagelassen. Aus der stammen die oben zitierten Sätze, und die Aufnahme ist auch heute noch ein Genuss.
Ein Genuss ist vieles von dem, was Herr Laschet, Frau Baerbock, Herr Scholz und die anderen wahlkämpfenden Damen und Herren den lieben langen Tag von sich geben, leider nicht. Das kann man kritisieren, und man kann gelegentlich auch darüber lachen. Aber bevor man als Bürger den Eindruck bekommt, dass "die da oben" ständig nur Mist reden oder sich sonst wie lächerlich machen, sollte man vielleicht mal fragen, warum das wohl so ist. Wer fürchten muss, dass er wegen jedem Pieps gleich als Oberdoofmann abgestempelt wird, mag es vorziehen, lieber mit vielen Worten wenig als mit wenigen Worten viel zu sagen.
Noch ein Plagiat
Peinliche Patzer sind das eine – gravierende Vergehen sind etwas anderes. Das gilt zum Beispiel für Franziska Giffey: Im Juni entzog ihr die Freie Universität Berlin den Doktortitel wegen "Täuschung über die Eigenständigkeit ihrer wissenschaftlichen Leistung". Als Familienministerin war die SPD-Politikerin vorsorglich kurz zuvor zurückgetreten. Nun will sie trotzdem Regierende Bürgermeisterin in der Hauptstadt werden – und womöglich in Personalunion auch Wissenschaftssenatorin. Doch eine neue Plagiatsprüfung, die unserer Redaktion exklusiv vorliegt, weckt neue Zweifel an Frau Giffeys Integrität. Dieses Mal geht es um ihre Masterarbeit, die sie im Jahr 2005 – vier Jahre vor der Dissertation – an der Berliner Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege einreichte. Ein Team um den Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch nimmt die Arbeit derzeit unter die Lupe. Sein Zwischenfazit ist eindeutig: "Die Arbeit ist in großen Teilen ein Flickenteppich aus Plagiaten", hat er meiner Kollegin Annika Leister gesagt. "Einfachste Grundsätze des wissenschaftlichen Arbeitens wurden verletzt." Mehr über den Fall lesen Sie hier.
Merkel in Moskau
Das Datum des Besuchs könnte nicht brisanter sein: Just am Jahrestag des Giftanschlags auf den Kremlkritiker Alexej Nawalny trifft Angela Merkel heute zu Gesprächen mit Wladimir Putin in Moskau ein. Eben jener Nawalny, der seit gut acht Monaten aufgrund einer politisch gewollten Verurteilung im Straflager sitzt und dessen Fall die Kanzlerin als "versuchten Giftmord" bezeichnet hat, dürfte denn auch eines der Gesprächsthemen sein. Schließlich haben Deutschland und die EU (folgenlos) Sanktionen gegen russische Funktionäre verhängt, um Aufklärungsdruck aufzubauen. Aber auch alle anderen Punkte auf der Agenda der beiden Regierungschefs bergen Konfliktstoff: Da wären die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 und die mit ihr verbundenen Sorgen der Ukraine, da wäre die Situation in Belarus, wo Diktator Alexander Lukaschenko die eigene Bevölkerung bekämpft, und schließlich die Eskalation in Afghanistan. Am Sonntag wird die Kanzlerin dann in Kiew erwartet. Auf beiden Reisen dürfte noch einmal ihr ganzes diplomatisches Geschick gefordert sein.
Viktor böllert
Diese Gelegenheit lässt sich Viktor Orbán nicht entgehen: Zum heutigen ungarischen Staatsfeiertag finden in Budapest jede Menge Partys statt, darunter erstmals auch ein Umzug mit nationalen Symbolen. Den Höhepunkt soll ein gigantisches Feuerwerk bilden. Für das Spektakel hat der rechtsnationale Ministerpräsident sämtliche Corona-Beschränkungen aufgehoben, es werden tausende Besucher aus der Provinz erwartet. Die Kosten belaufen sich auf bis zu 22 Millionen Euro. Manche Leute können halt besser knallen als gefallen.
Was lesen?
Das Drama am Kabuler Flughafen wird im kollektiven Gedächtnis bleiben – und muss Folgen haben, fordert Altkanzler Gerhard Schröder. In seinem Text für unsere Redaktion macht er drei Vorschläge, wie Deutschland nun mit den neuen Herren Afghanistans umgehen kann.
Im Fernsehen geben sich die Taliban als Friedensstifter. Doch die Berichte von Afghanen vor Ort klingen grausam. Eine Mutter in Berlin bangt um das Leben ihrer Söhne, die nicht aus Kabul herauskommen. Mein Kollege Matti Hartmann hat sie besucht.
Wer trägt Schuld am Afghanistan-Desaster? Unsere Reporter Tim Kummert und Johannes Bebermeier haben die chaotische Koordination zwischen den Ministern Heiko Maas, Horst Seehofer und Annegret Kramp-Karrenbauer beleuchtet. Hier ist ihr Bericht über "die drei von der Zankstelle".
Werfen Sie auch immer brav alle Plastikverpackungen in den Gelben Sack? Meine Kollegin Theresa Crysmann erklärt Ihnen, was wirklich mit dem Plastikmüll geschieht.
Was amüsiert mich?
Nun haben Sie so lange durchgehalten und bis hierhin gelesen, da haben Sie sich noch ein Schmankerl vom Meister verdient. Jede Wette: Nach dieser Szene ist der Tag geritzt!
Ich wünsche Ihnen einen vergnügten Freitag und dann ein schönes Wochenende. Der Samstags-Podcast pausiert noch mal, aber meine lieben Kollegen sind schon eifrig am Vorbereiten.
Herzliche Grüße und bis Montag,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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