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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mutter fürchtet um ihre Söhne in Kabul "Die Taliban erschießen wahllos Männer, Frauen und Kinder"
Im Fernsehen geben sich die Taliban als Friedensstifter. Doch die Berichte von Afghanen vor Ort klingen grausam. In Berlin bangt eine Mutter um das Leben ihrer Söhne, die noch in Kabul sind.
Der Krieg in Afghanistan sei zu Ende und jeder sei begnadigt. Das behauptete Taliban-Sprecher Sabihullah Mudschahid bei einer Pressekonferenz in Kabul. "Wir wollen keine internen und keine auswärtigen Feinde." Und er versprach: "Wir werden keine Rache nehmen."
Maryam H. (Name von der Redaktion geändert) sitzt auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer in Berlin und weint. Sie glaubt den Taliban keine Silbe. Sie ist 2015 vor ihrem gewalttätigen Ehemann aus Afghanistan geflohen, zwei ihrer Söhne musste sie zurücklassen, erzählt sie t-online. Seit die radikalen Islamisten in Afghanistan die Macht übernommen haben, lebt H. in ständiger Angst um das Leben ihrer Kinder.
"Taliban scannen Augen und Fingerabdrücke der Einwohner"
Was sie und ihr neuer Mann Ezatulla von Freunden und Verwandten aus Kabul hören, sei schrecklich. "Mein Bruder, der sich zum Flughafen durchgeschlagen hat, sagt, er habe dort mit eigenen Augen allein 60 Tote um den Flughafen herum gesehen. Die Taliban erschießen wahllos Männer, Frauen und Kinder." Bestätigen lassen sich diese Augenzeugenberichte nicht.
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Ein anderer Verwandter, der für den afghanischen Geheimdienst gearbeitet habe und von der CIA ausgebildet worden sei, verstecke sich derzeit in einem Keller. Überall hätten die Taliban Kontrollpunkte errichtet.
"Nachts ziehen sie mordend von Haus zu Haus"
Und da sie die Datenbanken der Regierung in ihren Händen hätten, würden sie jetzt systematisch Fingerabdrücke und Augen der Menschen scannen. Maryam ist sicher: Die Taliban suchen nun nach den Helfern des Westens. "Nachts ziehen sie von Haus zu Haus, durchsuchen alles. Diejenigen, die sie auf ihrer Liste haben, ermorden oder verschleppen sie."
Maryam und Ezatulla bemühen sich im Augenblick, Maryams Kinder aus Kabul herauszubekommen. Aber das sei nicht einfach. Und es wird noch dadurch erschwert, dass sie den Behörden in Deutschland nicht von Anfang an die volle Wahrheit erzählt hat.
Mit 13 wurde Maryam zwangsverheiratet
Aber von vorn: Mit acht hatte ihr Vater sie einem 45-jährigen Mann versprochen, mit 13 musste sie diesen heiraten. Sie wurde dessen dritte Frau, danach heiratete er noch eine vierte. "Er war ein dunkler Mann", sagt Maryam. "Er gehörte zu den Taliban."
Was er ihr im Detail angetan hat, will sie nicht erzählen. Nur so viel: Noch heute leide sie unter Depressionen. Sie zeigt eine Narbe am Handgelenk und erzählt von einem Suizidversuch.
Ehemann drohte, er werde sie überall auf der Welt aufspüren
Maryam brachte drei Kinder zur Welt. Umid ist heute 15, Sier 13 und Ali neun. Einmal sagte sie ihrem Mann, sie wolle ihn verlassen. Da antwortete er, das könne sie gerne tun; aber dann werde er ihre Kinder töten.
Vor sechs Jahren ging Maryam trotzdem. Sie schaffte es nach Deutschland, konnte aber nur Sier mitnehmen. Die anderen beiden Kinder blieben in Kabul. Von ihrer Mutter erfuhr sie, dass ihr Ehemann gedroht haben soll: Er werde Maryam finden und töten lassen. Überall auf der Welt werde er sie aufspüren.
Aus Angst, er könnte seine Worte wahr machen, verfälschte die Afghanin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ihre Lebensgeschichte. Verschwieg ihre Söhne in Kabul. So hoffte sie, jegliche Verbindung zu ihrem Mann kappen zu können.
Seit Montag ist Umids Handy tot
Erst nachdem 2020 eine andere der vier Ehefrauen Maryam bei Facebook fand, habe sie wieder regelmäßig Kontakt zu ihren Kindern. Seither bemüht sie sich um eine Familienzusammenführung.
"Das letzte Mal habe ich Umid vor zwei Tagen gesprochen. Er hat gesagt, dass er Hunger hat und Geld braucht. Wir hatten nur zwei Minuten, dann war sein Internet weg. Seitdem ist sein Handy tot."
Immer wieder sei ihr in den vergangenen anderthalb Jahren gesagt worden, sie müsse Geduld haben, berichtet Maryam, unter anderem von ihrem Anwalt. Für einen erfolgreichen Antrag auf Familienzusammenführung fehlten noch Formulare und Urkunden, alles brauche Zeit.
"Diese Geduld habe ich nicht mehr", sagt sie nun, während im Nachbarzimmer der Fernseher läuft und Nachrichtensendungen in Dauerschleife zeigt. "Seit Tagen kann ich nichts essen. Es ist ein Albtraum, aus dem ich nicht aufwache. Ich wünschte, ich könnte irgendetwas tun – oder irgendjemand könnte helfen."
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Maryam H. und Ezatulla H.
- Mit Material der Nachrichtenagenturen AFP und Reuters