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Corona-Krise in Deutschland: Die Pandemie sorgt für die Verrohung der Sitten


Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.

Was heute wichtig ist
Die Verrohung der Sitten

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 08.09.2020Lesedauer: 6 Min.
Die Aggressivität in der Öffentlichkeit scheint zuzunehmen.Vergrößern des Bildes
Die Aggressivität in der Öffentlichkeit scheint zuzunehmen. (Quelle: Frank Sorge/imago images/Symbolbild)
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Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Womöglich ist das Coronavirus noch gefährlicher als gedacht. Es befällt nicht nur die Lunge, das Herz und die Nieren. Es untergräbt auch den Anstand. Schaue ich mich ein halbes Jahr nach Ausbruch der Seuche hierzulande um, beobachte ich vielerorts eine Verrohung der Sitten. Beispiele? Gibt es zuhauf. Etwa jüngst auf dem Wochenmarkt: Weil die Einkäufer Sicherheitsabstand wahren, übersieht eine Dame die Schlange und tritt direkt an den Gemüsestand. "Hinten anstellen, Mensch!" donnert ein Herr im Sakko. "Oh, Entschuldigung, ich dachte, hier sei keine Schlange", entgegnet sie. "Ja, so dämlich denken Frauen!" – "Das war jetzt aber nicht nett, haben Sie schlecht geschlafen?" – "Noch so’n Spruch und ich zeig dich an!" Puh, was ist denn in den gefahren?

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Einen Tag später im Wald: Zwei Elternpaare geraten in Streit, weil das Kind des einen auf den Fahrrad-Parcours gelaufen ist, auf dem das Kind des anderen entlangflitzen will. "Könnt ihr nicht aufpassen, ihr Deppen?", hallt es durchs Gehölz. "Komm mal runter, Mann, bist du irre?" – "Volltrottel!" – "Dumme Sau!" Ich erspare Ihnen den Rest – ebenso wie weitere hässliche Szenen, deren Zeuge ich in den vergangenen Wochen geworden bin. Aber ich sage Ihnen noch, dass mich auch die wachsende Aggressivität im Straßenverkehr beunruhigt: Autofahrer brettern rücksichtslos in jede Lücke, Radler fahren Fußgänger über den Haufen, und an der roten Ampel schreien sich alle an. In der Bahn, an der Supermarktkasse, auf dem Arbeitsweg: Wieso schauen so viele Leute so mürrisch drein und fahren bei jeder Petitesse aus der Haut?

Ich bin voreingenommen, dachte ich mir, das ist nur ein subjektiver Eindruck. Aber dann sprach ich mit Kollegen, Freunden, Bekannten – und hörte sie von ähnlichen Erfahrungen berichten: In jüngster Zeit haben viele Leute den Eindruck, dass immer mehr unserer Mitbürger mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch herumlaufen. Nicht überall, nicht alle, klar, aber zu viele.

Woher kommt diese Aggressivität? Vielleicht lässt sie sich tatsächlich mit den Folgen der Pandemie erklären: Werden langgehegte Gewissheiten erschüttert und wankt das Vertrauen in die Stabilität unseres Gemeinwesens, dann wächst die Angst. Angst vor Corona, Angst vor Jobverlust, Angst vor wirtschaftlichem Abstieg, Angst vor Statusverlust. Bei manchen vielleicht auch noch Angst vor der Klimakrise, Angst vor internationalen Konflikten, Angst vor der Zukunft. Kann es sein, dass diese Verunsicherung im selben Maße zunimmt, in dem das gesellschaftliche Zusammengehörigkeitsgefühl vom Beginn der Krise schwindet? Weil mich diese Frage nicht loslässt, habe ich unsere Kolumnistin, die Psychologin Ulrike Scheuermann, gefragt. Was sie berichtet, leuchtet mir ein:

"Das Verrohungspotenzial ist in den vergangenen Wochen gewachsen, denn es gibt keine Einigkeit mehr. Während des Lockdowns war das anders, da wollten wir alle eines: uns und andere schützen. Doch inzwischen haben sich viele Meinungen gebildet; es gibt scheinbar kein Richtig und kein Falsch mehr. Das verunsichert und macht wütend. Zudem werden die Menschen müde, weil kein Ende der Krise abzusehen ist und die Schäden, die die Kontaktbeschränkungen anrichten, immer sichtbarer werden, sowohl in wirtschaftlicher wie in psychologischer Hinsicht. Allein Depressions- und Angstsymptome haben um das Fünffache zugenommen! All das zusammen frustriert und macht aggressiv. Weil man aber auf ein Virus nicht wütend sein kann, muss ein Schuldiger her: die Regierung, die anderen, wer auch immer. So verrohen die Verhaltensweisen."

So ist das wohl. Auf dem Markt, im Wald, auf den Straßen und im Supermarkt. Und was hilft dagegen? Vielleicht dies: Zuversicht. Rücksicht. Und ein Gedicht:

Ein finstrer Esel sprach einmal
zu seinem ehlichen Gemahl:
"Ich bin so dumm, du bist so dumm,
wir wollen sterben gehen, kumm!"
Doch wie es kommt so öfter eben:
Die beiden blieben fröhlich leben.

Eben. Optimismus ist die halbe Miete zum Glücklichsein – für uns selbst und für die anderen Zweibeiner um uns herum. Danke für den Fingerzeig, lieber Christian Morgenstern!


WAS STEHT AN?

So wie das Wissen über das Coronavirus wandelt sich auch die Methodik zur Eindämmung der Pandemie. Im Frühjahr wussten Ärzte, Wissenschaftler und Politiker, aber auch wir Bürger nur wenig über den gefährlichen Erreger aus China, der sich rasant verbreitete. Das Herunterfahren des öffentlichen Lebens war die Folge. Ein halbes Jahr später sind wir schlauer. Einen bundesweiten Lockdown soll es nicht mehr geben; stattdessen erscheinen gezielte Regeln und situationsbedingte Ideen sinnvoller.

Eine neue Idee kommt jetzt aus Tübingen: Ab sofort sollen dort alle Beschäftigten in der Altenpflege regelmäßig auf eine Infektion getestet werden: Ein Laborwagen des Deutschen Roten Kreuzes steuert jeden Tag eines der Pflegeheime an, so dass sich die Angestellten untersuchen lassen können. Die Abstrichproben werden binnen 24 Stunden ausgewertet. Eine Viertelmillion Euro lässt sich der Gemeinderat das Verfahren kosten, kein Pappenstiel in einer Kleinstadt.

Aber möglicherweise eine Methode, die bundesweit Schule machen kann. Anders als zu Beginn der Pandemie breitet sich das Virus derzeit vor allem unter jungen Menschen aus, die es in der Regel gut wegstecken. Trotz hoher Fallzahlen landen deshalb nur wenige Patienten im Krankenhaus, und es gibt nur wenige Todesfälle. Damit das so bleibt, müssen gefährdete Menschen geschützt werden – darunter die Alten und Kranken in den Heimen. Um die Gefahr einer Ansteckung durch das Pflegepersonal zu bannen, braucht es nicht nur Schutzmasken, Kittel, Handschuhe und Desinfektionsmittel, sondern auch Corona-Tests – nicht irgendwo auf dem Gesundheitsamt nach aufwändiger Prozedur, sondern schnell, einfach und verlässlich.

Genau das will Tübingen nun anbieten. Oberbürgermeister Boris Palmer hat es mir so erklärt: "Wir können es uns nicht leisten, die Infektionszahlen nochmals durch einen Lockdown nach unten zu bringen. Deswegen müssen wir einen anderen Weg finden, schwere Erkrankungen und Todesfälle durch Corona zu vermeiden. Der effektive Schutz der Pflegebedürftigen vor einer Ansteckung mit dem Virus ist dafür die mit Abstand wichtigste Maßnahme. Zugleich halten wir damit Heime offen für die menschlich so wichtigen Besuche durch die Angehörigen."

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Das Tübinger Modell will er allerdings nur als Übergangslösung verstanden wissen. Eigentlich sollen die Krankenkassen die Tests für Pfleger bezahlen – das tun sie aber nur dann, wenn Gesundheitsämter die Tests anordnen, was bisher selten klappt. "Ich hoffe, dass das Tübinger Testmodell sich rasch ausbreitet und die Kassen die Finanzierung übernehmen", sagt Palmer. "Ich finde es unverständlich, warum Reiserückkehrer, Lehrer oder Erzieherinnen kostenlose Tests erhalten, aber die Beschäftigten in der Altenpflege nicht." Wer wollte ihm da widersprechen? Vielleicht lässt sich die Kanzlerin ja davon anregen, wenn sie sich heute mit den Leitern von Gesundheitsämtern, Landräten und Oberbürgermeistern trifft, um die weitere Strategie gegen Corona zu planen.


Keine Branche ist so wichtig für Deutschlands Wirtschaft – und kaum eine hat Corona so hart getroffen: Die Autobauer tuckern nach wie vor im Krisenmodus herum. Also klopfen sie noch mal bei der Bundeskanzlerin an und halten die Hand auf; heute Abend schalten sich die Chefs von VW, Daimler und BMW mit Angela Merkel zum virtuellen Autogipfel zusammen. Aus den Autobundesländern sind Markus Söder (CSU), Winfried Kretschmann (Grüne) und Stephan Weil (SPD) dabei. Bisher hat die SPD Kaufprämien für Verbrennungsmotoren verhindert – nun versuchen die Autofürsten, die Groko-Chefin doch noch zu erweichen. Die Hintergründe erklärt Ihnen mein Kollege Mauritius Kloft.


Lange nichts vom Brexit gehört. Dabei ist das Problem noch da – und wird immer größer: Die Zeit, um ein Freihandelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU zu schmieden, verrinnt. Heute beginnt die nächste Verhandlungsrunde, doch die Chancen auf eine Einigung stehen schlecht. Offenbar verfolgt Premierminister Boris Johnson einen tückischen Plan – der jedoch sein Land in die Katastrophe stürzen könnte, berichtet unser Außenpolitikredakteur Patrick Diekmann.


WAS LESEN UND ANSCHAUEN?

Tagtäglich geschieht so vieles in der Welt, da ist der Libanon längst schon wieder aus den Schlagzeilen verschwunden. Dabei kann das Schicksal dieses kleinen Landes über die Stabilität des Nahen Ostens entscheiden. Daher haben wir unsere Reporterin Sophia Maier gebeten, sich einen Monat nach der Explosionskatastrophe in Beirut umzusehen. Was sie berichtet, ist beunruhigend.


Wenn wir von Ländern lesen, in denen die Menschen Hunger leiden, denken wir meist an Afrika oder Asien. Doch Hunger gibt es auch in Industriestaaten – und kann sehr unterschiedlich aussehen. Reporter der "New York Times" zeigen uns das grassierende Elend in den USA.


Der Fall Nawalny zieht Kreise – und polarisiert: Linken-Politiker wie Gregor Gysi nehmen Kremlchef Putin in Schutz und mutmaßen, der Täter könne ja auch ein "durchgedrehter Geheimdienstler" sein. Als habe es die Serie von Mordanschlägen auf Oppositionelle nie gegeben. Dagegen wollen vor allem Unionspolitiker die Führung in Moskau bestrafen, indem die Bundesregierung die Gas-Pipeline in der Ostsee stoppt. Das werde nicht gelingen, glaubt unser Kolumnist Gerhard Spörl – Putin sei einfach zu mächtig.


Es ist das eine, sich vorzustellen, wie deutsche Städte vor über hundert Jahren aussahen. Aber es ist etwas ganz anderes, selbst durch so eine Stadt zu gondeln.


WAS AMÜSIERT MICH?

Gratuliert hat mein Kollege Florian Wichert dem großartigen Mario Adorf ja gestern schon. Ich schließe mich natürlich an. Und führe mir an seinem heutigen 90. Geburtstag noch mal rasch diese großartige Szene zu Gemüte.

Ich wünsche Ihnen einen großartigen Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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