Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Ende Gelände
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Manchmal muss man ins Gestern schauen, um das Heute zu verstehen. Erst dann werden Entwicklungen begreiflich, können Lehren gezogen und Dinge zum Besseren gewendet werden. Richten wir also den Blick in die Vergangenheit und schauen 200 Jahre zurück. Fotos sind uns natürlich versagt, aber Malereien, Gedichte und Berichte gibt es zu Genüge: Im frühen 19. Jahrhundert war der deutsche Wald ziemlich am Ende. Kahle Kronen, abgestorbene Äste, öde Lichtungen, wohin man auch schaute. Immer mehr Menschen tummelten sich zwischen Küsten und Alpen, Dörfer wuchsen zu Städten, Häuser, Straßen und Äcker frästen sich in die Natur. Bauern trieben ihr Vieh durchs Unterholz, die Vierbeiner knabberten, trampelten und schabten fröhlich umher. Köhler, Glaser und Aschenbrenner rodeten, was übrig blieb. Die einsetzende Industrialisierung verwandelte die Sehnsuchtslandschaft der Romantiker in ein schwarzes Gerippe. Zwischen Borke und Moos war nicht mehr viel los.
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Das war nicht nur unter ästhetischen Gesichtspunkten doof, schließlich galt Holz als wichtigste Energiequelle und unersetzlicher Baustoff in den deutschen Kleinstaaten. Also trafen weitsichtige Herrscher und von der Aufklärung beseelte Bürger eine historische Entscheidung: Sie begründeten die Forstwissenschaft und ließen Deutschlands Wälder systematisch aufforsten, hegen und pflegen. Zwar nicht gleichmäßig mit allen Arten, sondern vor allem mit schnell wachsenden Fichten und Kiefern, aber außerordentlich effektiv. Das Konzept der Nachhaltigkeit ist keinesfalls eine Erfindung grüner Politiker oder demonstrierender Schüler. Es wurzelt tief in der deutschen Geschichte, und das abgewendete Waldsterben vor 200 Jahren war sein erster großer Erfolg. Der Naturschutz, der uns heute so leicht von der Zunge geht, nahm seinen Anfang in den damaligen Forstgesetzen. Der deutsche Wald genas, reifte zu neuer Blüte, überlebte sogar die Waldsterbepanik in den 1980er Jahren, beglückte viele Jahrzehnte lang Millionen Bürger und bot noch mehr Tieren einen intakten Lebensraum. Und die Moral von der Geschicht‘? Wir Menschen können aus unseren Fehlern lernen und sogar unlösbare Probleme lösen.
Leider ist die Geschichte an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Denn heute sind wir erneut mit einem Waldsterben konfrontiert, aber diesmal ist die Situation gravierender. Wie das Statistische Bundesamt soeben meldete, hat sich die Menge der durch Schädlingsbefall zerstörten Bäume binnen eines Jahres fast verdreifacht. Das Volumen des von Insekten zerfressenen und zwangsläufig geschlagenen Holzes stieg von 11 Millionen Kubikmetern im Jahr 2018 auf 32 Millionen im Jahr 2019. Im Jahr 2017 waren es noch 6 Millionen gewesen.
Nun gehen solche staubtrockenen Zahlen leider den Gang, den alle staubtrockenen Zahlen gehen: zum einen Ohr hinein, zum anderen hinaus. Das ist menschlich, aber es ist nicht gut. Denn sie dokumentieren eine Entwicklung, die man mit Fug und Recht dramatisch nennen kann: Nahezu überall in unserem schönen Land verfällt der Wald, binnen Monaten und Jahren verwandelt sich dichtes Grün in Ödnis. Der Anteil von Bäumen mit "deutlichen Kronenverlichtungen" ist dem Landwirtschaftsministerium zufolge auf 36 Prozent gestiegen, also mehr als ein Drittel. Um den Rest steht es kaum besser: Nur noch rund ein Fünftel aller Bäume in Deutschland hat eine intakte Krone.
Grund ist nicht mangelnde Herrlichkeit, sondern mangelndes Nass: Stehen Bäume zu lange im Trockenen, fällt der Druck ab, mit dem das Wasser von den Wurzeln in die Kronen saust. Erst hängen Blätter, Nadeln und Äste, dann fallen sie ab. Schlecht für die Pflanzen, toll für Borkenkäfer und andere Übeltäter: Sie machen sich über ganze Waldregionen her und zerfressen stattliche Riesen binnen Wochen. Aus der Borkenkäferfamilie in einer einzigen Fichte kann eine Population von anderthalb Millionen Tierchen entstehen, die Tausende von Bäumen im Umkreis befallen.
Gerne würde man das Problem so beherzt anpacken, wie es unsere Vorfahren vor 200 Jahren getan haben. Leider ist das heute viel schwieriger, weil die Ursache komplexer ist: Schuld an der wochen-, monate- und jahrelangen Trockenheit ist die Klimakrise. Deshalb wird das Problem nicht zu lösen sein, wenn nur wir deutschen Waldliebhaber uns ordentlich anstrengen. Auch Aufforstung allein reicht leider nicht mehr. Auf der anderen Seite besitzen wir heute ungleich mehr Wissen und technische Möglichkeiten als unsere Ahnen vor 200 Jahren. Das hilft uns allerdings nur dann, wenn wir bereit sind, unsere Lebensweise zu verändern – und die Bürger anderer Länder animieren, es uns gleichzutun. Dazu kann jeder beitragen, und es ist gar nicht so schwer.
Nehmen Sie zum Beispiel den Luftverkehr: Der trägt in normalen Zeiten rund acht Prozent zur Erderhitzung bei. Klingt wenig, ist aber bedeutend, wenn man weiß, dass jedes Zehntelgrad, um das die globale Temperatur steigt, gewaltige Folgen hat. Nicht nur an den Küsten von Bangladesch oder in Afrika, sondern auch im deutschen Wald. Warum fassen wir uns also nicht einfach mal an die eigene Nase und verzichten in den kommenden Jahren auf lange Flugreisen? Ein Urlaub in Florida oder Südafrika ist sicher toll, eine Konferenz in Dubai oder Tokio hat bestimmt was. Aber Hand aufs Herz: Müssen sie wirklich sein oder tut es auch eine Zugreise oder eine Videokonferenz? Jetzt in Corona-Zeiten fällt uns die Antwort leicht, aber wie sieht es in ein, zwei, drei Jahren aus? "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es", hat Erich Kästner gesagt. Am besten fangen wir gleich damit an. Weil es leider nicht mehr reicht, nur ins Gestern zu schauen.
WAS STEHT AN?
Verlässlichkeit, Vertrauen, Sicherheit. Gemeinsame Zukunft. Denken Sie jetzt bitte nicht, dass diese Schlagworte die Sehnsüchte von Menschen auf Dating-Portalen beschreiben. Denken Sie lieber an Militärs. Die uniformierten Alphatiere in den Kommandostellen der Nato können auf Geborgenheit und romantische Stunden am Kamin vielleicht gerade noch verzichten, aber ohne Planungssicherheit geht gar nichts. Und bei den Partnern steht langfristige Verlässlichkeit ganz oben auf der Beziehungswunschliste. Damit das gemeinsame Heim auch erfolgreich verteidigt wird, wenn sich beispielsweise ein russischer Bär im Vorgarten rumtreibt.
Deshalb darf man nicht die Augen verschließen, wenn es in der Beziehung bröckelt. Gerade hat das alleroberste Alphatier in Washington mit Worten á la "Ich geh mal eben Zigaretten holen" das gemeinsame Haus verlassen und schnell noch 12.000 seiner Soldaten aus dem Setzkasten in die Tasche gestopft: So groß soll die Schrumpfungskur ausfallen, die Herr Trump dem in Deutschland stationierten US-Truppenkontingent verordnet hat – ein Drittel der Gesamtstärke. Von "strategischer Flexibilität" bis "Stärkung der Allianz" flötete Verteidigungsminister Mark Esper gestern allerlei Beruhigendes in die Mikrofone, und für seine besondere Tapferkeit beim Versuch der Schönfärbung hat er sich einen Orden verdient. Aber sein Chef dröhnt munter in die Welt hinaus, dass er mit dem Truppenabzug die renitenten Deutschen abwatscht, weil sie mit der Verteidigungsknete knausern. "Es geht nicht um Strategie, sondern um eine Retourkutsche", schreibt unser Washington-Korrespondent Fabian Reinbold.
Nun sind 12.000 Soldaten nicht über Nacht in neue Quartiere verlegt. Manch einer hofft still darauf, dass nach den Präsidentschaftswahlen im November Joe Biden ins Weiße Haus einziehen wird, und mit ihm die Vernunft. Dass Herr Trump den Sessel räumen muss und sein Nachfolger das ins Mark erschütterte Vertrauen in der Allianz wiederherstellt. Dass die US-Soldaten bleiben. Dass alles wieder gut wird.
Es ist eine falsche Hoffnung. Biden mag kommen, die Soldaten mögen bleiben. Aber die Abzugspläne Trumps sind ein Symptom. Tiefe Zerwürfnisse in der Nato haben schon die Regierungsjahre George W. Bushs und seines Hardliner-Vizes Dick Cheney geprägt. Schlimmer noch: Radikal rechte, demokratiefeindliche Tendenzen in den USA sind über Jahrzehnte gewachsen. Verstärkt vom Dauerfeuer rechter Medien wie "Fox News", verschärft von den Polarisierungsmaschinen Facebook und Twitter, ist daraus die Welle entstanden, die den Präsidentendarsteller Donald Trump bis ins Weiße Haus gespült hat. Auch wenn seine Amtszeit eine Eintagsfliege sein sollte: Der gesellschaftliche Trend, der Herrn Trump zur Macht verholfen hat, ist es nicht. Deshalb gehört dieses Thema hier nicht in die Rubrik "Was war?", sondern "Was steht an?".
Ohne langfristige Verlässlichkeit kann ein strategisches Bündnis nicht bestehen. Europa hat den Bruch nicht gewollt, Deutschland schon gar nicht, aber auf der anderen Seite des Atlantiks gibt es zu viele, die das Interesse an einer engen Beziehung verloren haben. Der gegenwärtige Präsident ist nur einer davon. Das mag manche Pazifisten und Nato-Kritiker freuen, aber die Freude dürfte nur kurz währen. Ohne die schützende Hand eines starken Freunds wird es Deutschland in der Welt schwer haben. Deshalb sollten sich Frau Kramp-Karrenbauer, Herr Maas und auch Frau Merkel dahinterklemmen, dass wenigstens Europas Verteidigungsunion endlich vorankommt. Manchmal findet man Verlässlichkeit, Vertrauen und Sicherheit ja auch bei einer neuen Liebe.
WAS LESEN UND ANSCHAUEN?
Auf der Plattform Instagram wird eine bemerkenswerte Aktion immer erfolgreicher: Prominente Frauen veröffentlichen Bilder in Schwarz-Weiß von sich selbst und nominieren weitere Frauen. Mein Kollege Sebastian Berning erklärt Ihnen, was dahintersteckt.
"Global Player wird man nicht mit schönen Worten", meint Gerhard Schröder. In einem Gastkommentar im "Tagesspiegel" erklärt der Altkanzler, warum Europa jetzt dringend mehr Integration bei Verteidigung und Finanzen braucht.
Der Rechtsextremist Stephan Ernst ist wegen des Mordes an Walter Lübcke angeklagt. Nun haben die Kollegen des Online-Magazins "Funk" ein Video ins Internet gestellt, in dem die ersten beiden Vernehmungen zu sehen sind. Wenn Sie sich ein Bild des mutmaßlichen Täters machen wollen, sollten Sie sich das ansehen.
Der Massenausbruch auf einem bayerischen Bauernhof bestimmt die Corona-Schlagzeilen – doch ein anderes Bundesland liefert viel mehr Anlass zur Beunruhigung, berichten meine Kollegen Philip Friedrichs und Arno Wölk: Sie haben sich die Infektionsdaten der deutschen Landkreise genau angeschaut.
Der Goldpreis klettert von einem Rekordhoch zum nächsten, immer mehr Anleger fürchten offenbar einen weiteren Absturz der Börsen. Was hat es mit den sogenannten Gold-ETCs auf sich und was haben Sparer davon? Die Kollegen aus unserem Finanzressort erklären es Ihnen.
WAS AMÜSIERT MICH?
So kann man das natürlich auch sehen.
Ich wünsche Ihnen einen gelassenen Tag.
Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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