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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Ich habe selber abgedrückt" Lübcke-Mord: Überraschend Vernehmungsvideos veröffentlicht
Stephan Ernst ist für den Mord an Walter Lübcke angeklagt. Nun hat ein Medium ein Video ins Internet gestellt, in dem die ersten beiden Vernehmungen des mutmaßlichen Täters zu sehen sind.
Ausschnitte aus Vernehmungsvideos des mutmaßlichen Mörders von Kassels Regierungspräsidenten Walter Lübcke sind auf YouTube veröffentlicht worden. Der moderierte Beitrag stammt vom Reportageformat "STRG_F" von "funk.net", dem Onlineangebot für junge Menschen von ARD und ZDF. Die Autoren geben in dem Bericht an, das Material sei ihnen zugespielt worden. In dem gut 25 Minuten langen Video werden seit Dienstagnachmittag kommentiert Ausschnitte gezeigt, in denen der wegen Mordes angeklagte Stephan Ernst sein mittlerweile zurückgezogenes Geständnis ablegt und schildert, wie die Tat geschehen sein soll.
Ermittler: "Tatentschluss war klar?"
Stephan Ernst muss sich seit Juni vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt verantworten. In der Hauptverhandlung waren jeweils mehrstündige Videos von vorherigen Vernehmungen Ernsts durch Beamte des Hessischen Landeskriminalamts (LKA) gezeigt worden. Der Ermittler fragt Stephan Ernst in dem nun veröffentlichten Video: "Tatentschluss war klar?" Ernst antwortet kühl und sachlich, der sei klar gewesen. Er sei hin, habe geschossen. Ernst habe die Waffe auf Kopfhöhe gehalten, dann abgedrückt. "Er hat meinen Schatten noch gesehen, er wollte schauen und in dem Moment ist der Schuss gefallen", sagt er.
Während der Vernehmung erklärt Ernst, er habe ein normales Leben führen und die Energien, die er gehabt habe, in seine berufliche Laufbahn stecken wollen. Dabei atmet er immer wieder stoßweise aus. Es entsteht der Eindruck, als habe er psychischen Stress, als sei die Vernehmung kurz nach dem Mord auch anstrengend für ihn. Eine emotionale Regung zeigt er nicht.
Von den Themen Überfremdung und Ausländerkriminalität könne er sich nicht freimachen, erklärt Ernst. 2013 hätten sie ihn wieder mehr beschäftigt. Grund dafür seien Berichte in Medien gewesen und auch Gespräche mit Arbeitskollegen und Freunden. Zu früheren Nazi-Kreisen habe er zu diesem Zeitpunkt aber keinen Kontakt mehr gehabt. Der Angeklagte spricht über die aus seiner Sicht groben Fehler in der Flüchtlingspolitik und sagt, er sei überzeugt, dass Merkel Deutschland zerstört habe. Auch Walter Lübcke habe sich in einer Bürgerversammlung zur Flüchtlingspolitik geäußert. Diese Aussagen haben Ernst damals nicht gefallen. Zu diesem Zeitpunkt sei der Hass auf den Politiker gewachsen.
Ernst bricht in Tränen aus
Nach dem terroristischen Anschlag in Nizza 2016 habe er massenhaft Videos im Internet geschaut. Als die Sprache darauf kommt, bricht Ernst plötzlich in Tränen aus. Sein Gesicht stützt er auf die Hände und schluchzt laut. "Diese Bilder und diese Videos, von den Leichen, von den Schreien, ich hab sie mir immer und immer wieder angesehen. Ich musste sie mir ansehen", sagt er. Damals sei der Entschluss gefallen, Lübcke etwas anzutun. Diese Szenen hätten dazu beigetragen, dass er das Gefühl bekam, etwas tun zu müssen. Als dann Jahre später ein Volksfest in Kassel stattfand, sah Ernst den Zeitpunkt gekommen. Er habe gewollt, dass der Terror "auch zu ihnen kommt".
Ein halbes Jahr nach seinem ersten Geständnis machte Stephan Ernst erneut eine Aussage – und widerrief sein Geständnis. In seiner neuen Tatschilderung soll der Mitangeklagte Markus H. die Waffe abgefeuert haben.
Auffällig ist, dass Ernst bei dieser zweiten Schilderung seine Version im Stakkato erzählt, als würde er einen Text vorlesen. Plötzlich erinnert er sich scheinbar an jedes gesprochene Wort zwischen Markus H. und ihm. Ernst schildert, er habe Lübcke treten wollen, als dieser versucht habe, sich aufzusetzen. Als Lübcke sich dann erneut aufgerichtet habe, sei der Schuss gefallen. Ein Ermittlungsrichter ist bei dieser Vernehmung dabei und sagt zu Ernst: "Da ist irgendwas dabei, das passt da nicht, vorne und hinten." Der Richter erklärt, er verstehe nicht, wieso Ernst sich selbst erst belastet habe, nun allerdings von einem Unfall spreche. Eine Antwort auf die Frage wird in dem Video nicht gezeigt.
Gericht: Video ist kein Mitschnitt
Eine Gerichtssprecherin sagte am Mittwoch, der Senat und die Verfahrensbeteiligten seien über das Video informiert. "Wir gehen angesichts der Qualität der Aufnahmen davon aus, dass es sich um keinen Mitschnitt handelt." Rechtlich spiele die Veröffentlichung des Materials für den laufenden Prozess keine Rolle, da das Material bereits in die Hauptverhandlung eingebracht worden sei. Es sei nichts in die Öffentlichkeit gelangt, was nicht bereits Inhalt der öffentlichen Verhandlung gewesen sei.
"STRG_F" ist ein Reportageformat des Norddeutschen Rundfunks. Der Sender begründet die Veröffentlichung damit, dass die Aufnahmen – anders als etwa von Tätern selbst gedrehte Videos – keine Propaganda, sondern ein Beweismittel seien. Schon jetzt sei es ein zeitgeschichtliches Dokument, aus dem auch hervorgehe, wie aus Stephan Ernst ein Rechtsextremist wurde.
- Eigene Recherche
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- Strg_F: Video der Vernehmung