Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Volles Risiko: Deutschland legt den Hammer beiseite
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WAS WAR?
Wer ein Problem lösen will, braucht das richtige Werkzeug. Im Kampf gegen das Coronavirus hatte sich Deutschland bisher für den Vorschlaghammer entschieden. Solange die Gefahr groß, diffus und unberechenbar wirkte, half der harte Schlag: immer drauf, alles dicht machen, ohne Rücksicht auf Verluste. Es hat geholfen. Nur noch 0,05 Prozent der Bevölkerung in Bayern sind infiziert, bundesweit sind es noch weniger. Von den restlichen mehr als 99 Prozent drängen nun viele Jüngere nach draußen und wollen endlich wieder mit ihrem normalen Leben loslegen. Viele Ältere dagegen greifen sich verwundert bis entsetzt an den Kopf und fragen sich: Wieso geht das alles so schnell, obwohl die Gefahr noch nicht gebannt ist, dass aus den 0,05 bald wieder 1, 2 oder mehr Prozent werden? Droht dann nicht eine zweite Infektionswelle? Viele dieser älteren Menschen würden es vorziehen, wenn die Lockerungen der Kontaktsperre langsamer und vor allem geordneter zugingen, und ihr Wunsch ist berechtigt. Aber sie haben keine Lobby mehr; die Politiker von links bis rechts stürzen sich Hals über Kopf ins Wagnis des Schaun-mer-Mal: Schaun mer mal, wohin es führt, wenn wir den Hammer zurück in die Werkzeugkiste legen und ein kleineres Gerät hervorkramen.
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Geschäfte und Sportplätze, Schulen und Kitas, Kneipen und Kinos: Ab jetzt öffnet jedes Bundesland fröhlich, was ihm beliebt (hier ein Überblick). Die Tage bundesweiter Einheitlichkeit sind passé. Das tut manchem weh. Das war den drei Herrschaften anzumerken, die gestern nach stundenlangem Tauziehen auf einer Pressekonferenz die Beschlüsse kundtaten: Selbst wenn sich die erschöpft wirkende Frau Merkel, der gewohnt energische Herr Söder und der stets hanseatisch-nüchterne Herr Tschentscher ersichtlich Mühe gaben, ihren vielen Sätzen das Etikett "Strategie" aufzukleben, blieb das natürlich eine hohle Phrase. Ab jetzt hat Deutschland keine einheitliche Anti-Corona-Strategie mehr. Stattdessen hat es nun 16 verschiedene Landespläne, die wiederum in einzelne Landkreis-Unterpläne und viele weitere Städte-Unter-Unterpläne auseinanderfallen. "Jetzt gelten die Prinzipien Hoffnung und Vertrauen statt Sicherheit und Kontrolle", schreiben meine Kollegen Nicole Sagener und Johannes Bebermeier in ihrer treffenden Analyse.
Nur eine Regel gilt nun noch bundesweit, und es war den drei Herrschaften wichtig, sie als "Notbremse" zu preisen – selbst wenn dieses Werkzeug in Wahrheit allenfalls ein Bremsklötzchen ist: Wenn sich in Landkreisen oder kreisfreien Städten künftig innerhalb von sieben Tagen mehr als 50 von 100.000 Einwohnern neu mit dem Coronavirus anstecken, sollen dort – nur dort – wieder schärfere Kontaktbeschränkungen gelten. Derzeit ist das nur in vier Kreisen der Fall: in Heidenheim, dem Zollernalbkreis, Rosenheim sowie Greiz in Thüringen. Wer den gestrigen Tagesanbruch aufmerksam gelesen hat, der weiß, dass diese Regel nur schwerlich helfen kann, die Virusgefahr schnell zu bannen. Von der Ansteckung über die ersten Symptome bis zum Test und dessen Ergebnis vergeht im Schnitt eine Woche – wenn alle Meldeketten reibungslos funktionieren. "Die ganze Bundesrepublik ist aufgebaut auf Vertrauen", und wenn sie kein Vertrauen mehr zu Gesundheitsämtern und Behörden haben könne, "ja, dann können wir einpacken". Sprach die Kanzlerin, packte ihre Sprechzettel ein und entschwand zur Westbalkankonferenz. Die ist auch wichtig. Aber das Virusrisiko bleibt.
Bis es einen Impfstoff gibt, nimmt Deutschland ab jetzt das dauerhafte Risiko in Kauf, weil jenen Menschen, die in Politik und Wirtschaft den größten Werkzeugkasten besitzen, die Kosten des Lockdowns als zu hoch erscheinen. Das kann man begrüßen oder bedauern, für überfällig oder fahrlässig halten. Alles eine Frage der Ansicht. Und des Alters. Und des Werkzeugs: Ab jetzt wird das Virus nicht mehr mit dem Hammer, sondern mit der Pinzette bekämpft. Hoffen wir, dass sie immer im richtigen Moment zuschnappt.
Anmerkung: In der ursprünglichen Version dieses Textes wurde die Prozentzahl der Infizierten in Deutschland mit 0,05 Prozent angegeben. Dies ist aber der Wert in Bayern, bundesweit liegt er noch darunter.
Im Zweifel half bisher immer der Krieg. Der Waffengang zum Ruhme der Nation eint die Menschen, das weiß Wladimir Putin genau. Schon als weitgehend unbekannter Premier ebnete ihm das Gemetzel in Tschetschenien den Weg ins Präsidentenamt. Das hat noch öfter funktioniert. Bedenkliches Umfragetief, Minusrekorde der Popularität? Kein Thema mehr, sobald russische Spezialeinheiten auf der Krim auftauchten und der Halbinsel den Weg zurück zu Mütterchen Russland wiesen. So tief wie vor der Krim-Annexion sind Putins Umfragewerte seither nie mehr gewesen. Bis jetzt. Bis Corona.
Nun ist es mit der Beliebtheit vorbei. Alles unter Kontrolle, alles halb so wild mit Covid-19, hatte der starke Mann im Kreml anfänglich verkündet und dabei verblüffende Ähnlichkeit mit einem anderen Alphatier an den Tag gelegt: dem im Weißen Haus. Der eine wie der andere riegelte rasch die Grenzen zum bösen, durchseuchten Ausland ab, redet im Innern aber die heraufziehende Krise klein und verschlief entschlossene Maßnahmen. Doch im Unterschied zum Donald gibt es daheim beim Wladimir keine regionalen Gouverneure aus den Reihen der Opposition, denen man die Verantwortung für das Versagen zuschustern könnte, und auch keine regierungskritischen, unabhängigen Medien, die sich der lügnerischen Übertreibung bezichtigen ließen. Stattdessen lässt Herr Putin seine Minister und Regionalfürsten antreten wie die Schulbuben, und wenn es nicht läuft, ist der Chef natürlich auf keinen Fall selber schuld.
Es hat nicht funktioniert. An der Ausgangssperre hat kein Weg vorbeigeführt, und die Misere ist riesig: die Geschäfte zu, die Leute drinnen, die Jobs weg. Aus den Krankenhäusern dringen Berichte über schlimme Zustände nach draußen. Im Fernsehen: Putin versteht, Putin verspricht, Putin kündigt an. Doch finanzielle Hilfen für Geschäfte und Beschäftigte tröpfeln in einer Kläglichkeit herein, dass die Worte aus dem Kreml die Russen nicht länger besänftigen. Putin hat sich zu Russlands Übervater stilisiert und kann sich nicht auf die Inkompetenz der örtlichen Verwaltungen herausreden. Nun muss er dafür bezahlen, dass die Russen für seine Fehleinschätzung bezahlen.
Denn das Virus wütet: Mehr als zehntausend Infizierte kommen offiziell jeden Tag hinzu, und wenn man eines sicher weiß, dann dass die offiziellen Zahlen nicht zu unnötiger Übertreibung neigen. Eher neigen sie sich dem Teppich zu, unter den man das Versagen kehrt. Zum selben Zweck schüchtert die Polizei ärztliches Personal ein, dass den Mangel an lebensrettenden Beatmungsgeräten in die Öffentlichkeit trägt. Zwei Ärztinnen, die sich kritisch über die Situation in ihren Krankenhäusern geäußert hatten, stürzten unter ungeklärten Umständen aus dem Fenster und starben. In einem dritten Fall schwebt der gestürzte Arzt in Lebensgefahr.
Der Mix aus Maulkorb und Mangel hat noch nirgendwo im Kampf gegen die Pandemie zum Erfolg geführt, doch die Misere ist damit noch nicht einmal komplett. Weltweit stehen die Maschinen still, der Ölpreis ist deshalb so niedrig wie nie, was sich beim Rohstoffriesen Russland sofort in klammen Kassen, Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit niederschlägt – schon ohne Ausgangssperre, aber umso schlimmer mit ihr. Gestern hat der Präsident angekündigt, den hohen Infektionszahlen zum Trotz die Beschränkungen ein wenig zu lockern: In Moskau wird nun auf Baustellen und in Fabriken wieder gearbeitet, die Geschäfte bleiben aber zu. Mehr geht nicht, die Gefahr ist zu groß. Nichts hat dem Dauerbewohner des Kreml bisher so gefährlich werden können wie das winzige Virus. Und diesmal hilft ihm auch kein Waffengang.
WAS STEHT AN?
Der Bundestag entscheidet heute über Corona-Hilfsgeld für Kultureinrichtungen, Studenten und Eltern, wählt die SPD-Abgeordnete Eva Högl zur neuen Wehrbeauftragten, verlängert den Bundeswehreinsatz im Mittelmeer und verzichtet darauf, die Abgeordnetendiäten zu erhöhen.
Am Mittag tagt der Bundestags-Untersuchungsausschuss zur Pkw-Mautaffäre in einer öffentlichen Sitzung. Andreas Scheuer von der CSU sitzt immer noch in seinem Verkehrsministersessel und muss sich heute anhören, wie einige seiner Mitarbeiter in die Mangel genommen werden. Die hatten sich ihren Job vermutlich anders vorgestellt.
WAS LESEN?
Kaum ist die erste Phase der Corona-Krise überwunden, hat der Wettlauf um die Subventionen begonnen. Als erste über die Ziellinie gingen gestern die Gastronomen: Ihnen hilft der Staat mit einer einjährigen Senkung der Mehrwertsteuer. Längst aber haben auch andere Branchen Ansprüche angemeldet, an vorderster Front die Autoindustrie. Doch was bringt eine Abwrackprämie eigentlich, und was nutzen Konsumgutscheine für alle Bürger? Unsere Wirtschaftskkolumnistin Ursula Weidenfeld hat die Antworten.
Die Lage in Amerika verschärft sich: Präsident Trump drängt auf Lockerungen der Kontaktsperre und viele Bundesstaaten folgen ihm. Doch das Virus zieht in bislang verschonte Regionen – und die Prognosen verdüstern sich, berichtet unser Korrespondent Fabian Reinbold.
Schon bemerkenswert: Rechte Medien und Parteien beklagen sich über ein angebliches "Merkel-Corona-Regime". Noch vor wenigen Wochen klangen sie ganz anders, zeigt uns Patrick Gensing von der ARD.
Ich gestehe: Manchmal bin ich spät dran. Deshalb hatte ich den Song des Kabarettisten Bodo Wartke über den Virologen Christian Drosten noch nicht gehört. Habe es schnell nachgeholt. Und laut gelacht.
WAS AMÜSIERT MICH NOCH?
Jeder hat ja so seine Sorgen.
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Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
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Mit Material von dpa.
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