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Corona-Lockerungen: Angela Merkel und der große Bruch


Corona-Lockerungen
Es ist der große Bruch

  • Johannes Bebermeier
Von Johannes Bebermeier, Nicole Sagener

Aktualisiert am 07.05.2020Lesedauer: 5 Min.
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Angela Merkel: Die Kanzlerin hat künftig deutlich weniger Kontrolle über die Lockerungen, nun kommt es auf die Länder an.Vergrößern des Bildes
Angela Merkel: Die Kanzlerin hat künftig deutlich weniger Kontrolle über die Lockerungen, nun kommt es auf die Länder an. (Quelle: Michael Sohn/ap-bilder)

Die Ministerpräsidenten lockern in der Corona-Krise jetzt in Eigenverantwortung. Nur eine gemeinsame Notbremse haben Bund und Länder beschlossen. Doch die bringt neue Risiken mit sich.

Das Treffen dauerte länger als erwartet und war offenbar angemessen turbulent. Angela Merkel lächelt trotzdem, als sie nach der Telefonschalte der Bundesregierung mit den Ministerpräsidenten zur Pressekonferenz kommt. "Insgesamt ist das für mich jetzt ein ausgewogener Beschluss", sagt sie vieldeutig am Schluss ihres Statements.

Was sie zuvor mit Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und Hamburgs Erstem Bürgermeister Peter Tschentscher verkündet hat, ist nichts weniger als ein Paradigmenwechsel, ein fundamentaler Bruch mit der bisherigen Strategie in der Corona-Krise. Die Bundesländer entscheiden künftig für sich. Und es gelten die Prinzipien Hoffnung und Vertrauen statt Sicherheit und Kontrolle. Mit einer wichtigen Ausnahme.

Der Rahmen hätte zu groß sein müssen

Spätestens seit dem Wochenende hatte sich angekündigt, dass die alte Strategie nicht mehr funktionieren würde. Erst beschloss Sachsen-Anhalt, dass sich künftig wieder fünf statt nur zwei Menschen treffen dürfen. Dann verkündete Niedersachsen einen weitreichenden Plan inklusive rascher Öffnung der Gastronomie. Mecklenburg-Vorpommern lud zum Urlaub an der Ostsee ein. Da konnte selbst das zuletzt zögerliche Bayern nicht länger warten und präsentierte einen eigenen Öffnungsplan.

Dass Bund und Länder "den Pfad zur schrittweisen Öffnung gemeinsam definiert haben", wie es in der Beschlussvorlage des Bund-Länder-Treffens steht, ist also mehr als nur geschönt. Die Länder haben Fakten geschaffen, und zwar diesmal so unterschiedlich, dass jetzt gar nicht mehr wirklich versucht wurde, dem Ganzen einen Rahmen zu verpassen. Er hätte ohnehin viel zu groß sein müssen.

Selbst Angela Merkel spricht auf der Pressekonferenz von einer "großen Vielfalt bestimmter Einzelregelungen". Der Beschluss zeichnet sich diesmal nicht dadurch aus, was er alles im Detail regelt, sondern dadurch, was er alles nicht regelt. Und durch ein Kriterium, mit dem sich die Bundesregierung einen Notfallmechanismus herausgehandelt hat, wie Merkel es nennt. Er soll ein Stück zentrale Kontrolle erhalten: die sogenannte Obergrenze für Neuinfektionen.

Große Freiheit

Die Kontaktbeschränkungen sollen zwar grundsätzlich bis zum 5. Juni bestehen bleiben, doch künftig dürfen sich Angehörige von zwei Haushalten treffen – also etwa zwei Familien oder zwei WGs. Bislang waren es außer in Sachsen-Anhalt nur zwei Personen aus unterschiedlichen Haushalten. Das haben Bund und Länder am Mittwoch festgelegt. Kanzlerin Angela Merkel hatte sich dem Vernehmen nach für diese Regelung ausgesprochen. Einheitlichkeit bedeutet sie aber nicht. "Bereits getroffene Entscheidungen von anderen Bundesländern bleiben davon unberührt", liest Merkel auf der Pressekonferenz etwas leiser als gewohnt vom Zettel ab. In Sachsen-Anhalt bleibt es also bei fünf Personen.

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Völlig freigestellt bleibt es allen Ländern künftig, wie und wann sie Hochschulen, Kitas, Musikschulen, Restaurants, Bars, Hotels, Messen, Kosmetikstudios, Theater, Schwimmbäder, Fitnessstudios, Kinos, Spielhallen und Bordelle öffnen. Solang die Öffnung schrittweise erfolgt und Hygienekonzepte eingehalten werden.

Bei allen anderen Bereichen werden in der Beschlussvorlage zwar etwas mehr Worte verloren, die Freiheiten für die Länder bleiben aber ähnlich groß. Alle Geschäfte sollen mit Hygienevorschriften und begrenzter Kundenzahl wieder öffnen können. Alle Schüler sollen zügig wieder in den Schulen lernen, bis zu den Sommerferien soll die schrittweise Rückkehr vollendet sein. Die 1. und 2. Fußball-Bundesliga soll mit Geisterspielen ab Mitte Mai wieder starten. Breitensport unter freiem Himmel soll unter Auflagen wieder erlaubt werden. Und die Notbetreuung für Kinder soll ausgeweitet werden, etwa indem auch Kinder ohne eigenes Zimmer berücksichtigt werden.


Auch in Zukunft sollen die Länder die nächsten Lockerungsschritte "in eigener Verantwortung" gehen. "Offensichtlich will die Bundesregierung den Schwarzen Peter lieber an die Länder abgeben", sagt Linken-Chefin Katja Kipping zu t-online.de. "In der Summe wird uns diese Lockerungsdynamik nicht raus aus der Corona-Krise, sondern rein in eine zweite Welle führen."

Der Notfallmechanismus

Es gibt allerdings eine große Bedingung für alle Lockerungen, auf die sich Bund und Länder geeinigt haben und die erstmals in sehr konkrete Zahlen gefasst wurde. Denn natürlich wollen alle weiterhin vermeiden, dass sich zu viele Menschen zu schnell anstecken und das Gesundheitssystem kollabiert. Es ist die "gemeinsame Klammer" der Beschlüsse, wie Merkel betont. Die Notbremse, wie Söder es nennt.

Wenn sich in Landkreisen oder kreisfreien Städten künftig innerhalb von sieben Tagen mehr als 50 Menschen pro 100.000 Einwohnern neu anstecken, sollen dort – und nur dort – wieder konsequente Beschränkungen greifen müssen.

Für diese Regelung hatte sich schon vorher der Ausdruck "Obergrenze für Neuinfektionen" durchgesetzt, der suggeriert, man könne Infektionen wirklich deckeln. Das ist aber in der Praxis ähnlich problematisch wie bei Flüchtlingen, und deshalb ist das Kriterium "50 pro 100.000" nicht ohne Risiko.

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Die Karte wurde mit Daten der Firma Risklayer GmbH und dem Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology (CEDIM) am Karlsruhe Institute of Technology (KIT) erstellt. Die Daten werden mit Hilfe von Freiwilligen im Crowdsourcing-Verfahren von den Lokalbehörden abgefragt und fortlaufend aktualisiert, deshalb weichen sie von den Angaben des Robert Koch-Instituts ab. Vereinzelt kommt es vor, dass die Ämter ihre Zahlen rückwirkend korrigieren, was zu negativen Ergebnissen führt.

Die riskante Annahme

Die Annahme, die der Regelung zugrunde liegt, lautet, dass das Virus "zu Beginn der Pandemie häufig von lokalen Ereignissen befördert und dann weiterverbreitet worden" sei, wie es in der Beschlussvorlage heißt. Das stimmt, und ist trotzdem eine riskante Grundlage für die Gegenwart.

Experten warnen schon seit Wochen, dass sich das Virus längst von den lokalen Hotspots aus weiterverbreitet hat, es also in die Fläche getragen wurde. Das kann auch künftig nicht ganz verhindert werden, so hart die neuen Beschränkungen im betroffenen Kreis auch sein werden. Denn bis die Erkrankung beginnt, bis also ein neuer Hotspot erkannt werden kann, vergeht nach der Ansteckung knapp eine Woche. Und schon kurz bevor die Symptome einsetzen, sind die Infizierten besonders ansteckend.

Zudem haben manche Infizierte gar keine oder nur leichte Symptome, ahnen also womöglich gar nicht, dass sie erkrankt sind. Und selbst wer sich beim Verdacht auf eine Infektion testen lässt, muss sich bis zum Ergebnis meist mindestens zwei Tage gedulden – je nach Testkapazitäten der einzelnen Kreise vielleicht auch deutlich länger.

Vier Kreise sind schon am Limit

Durch die langsam zurückgewonnene Reisefreiheit ist es also gut möglich, dass Infizierte schon bevor die "50 pro 100.000"-Regel greift und die Beschränkungen im Landkreis hochgefahren werden, andere Menschen anstecken – innerhalb außerhalb des Hotspots. Problematisch ist dabei auch, dass die Corona-App, die Infektionsketten nachvollziehbar machen soll, noch nicht in Sicht ist.

Derzeit haben vier Kreise die Grenze der 50 Neuinfizierten pro 100.000 Einwohnern erreicht oder überschritten. Das zeigen aktuelle Daten des Unternehmens Risklayer, das täglich die offiziellen Meldungen der Landkreise zusammenträgt. In Heidenheim und dem Zollernalbkreis – beide in Baden-Württemberg – haben sich in den letzten sieben Tagen jeweils 50 Einwohner neu infiziert, in der südbayrischen Stadt Rosenheim gab es im gleichen Zeitraum 57, im Landkreis Greiz in Thüringen 85 Neuinfektionen.

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Merkel spricht auf der Pressekonferenz nur von einem Landkreis, der die Grenze reiße. Woher sie die Zahl hat, bleibt unklar. Selbst beim bundeseigenen Robert Koch-Institut, bei dem die Zahlen oft etwas verspätet ankommen, liegen der Kreis Greiz mit 84,6 und Rosenheim mit 52,1 schon über der Grenze. Die anderen beiden Kreise in Baden-Württemberg liegen knapp drunter.

"Wir können uns ein Stück Mut leisten"

Angela Merkel betont schon zu Beginn der Pressekonferenz, dass Deutschland erst die "allererste Phase" der Pandemie hinter sich habe. Es werde noch eine lange Auseinandersetzung mit dem Virus geben.

Wie erfolgreich die sein wird, liegt nun maßgeblich in den Händen der Länderchefs. "Es wird dazu kommen, dass die Maßnahmen regional sehr unterschiedlich ausgestaltet sind", sagt Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher. Das könne man föderale Vielfalt nennen, ergänzt er mit einem verschmitzten Lächeln. Den Ländern sei eine sehr große Verantwortung übertragen worden. "Ich hoffe für uns alle, dass die Länder diese Verantwortung auch gut tragen."

Angela Merkel formuliert es so: "Wir können uns ein Stück Mut leisten." Aber sie sagt auch: "Wir müssen aufpassen, dass uns die Sache nicht entgleitet."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen, Pressekonferenz von Merkel, Söder, Tschentscher
  • Beschlussentwurf für die Bund-Länder-Schaltkonferenz am 6. Mai 2020
  • Mit Informationen der Nachrichtenagentur dpa
  • Zahlen des Robert Koch-Instituts
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