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Kontaktverbot in Deutschland: 82 Millionen in einem Corona-Gefängnis


Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Was heute wichtig ist
Wir lassen euch nicht allein!

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 23.03.2020Lesedauer: 7 Min.
Versorgung von Corona-Patienten im oberitalienischen Brescia.Vergrößern des Bildes
Versorgung von Corona-Patienten im oberitalienischen Brescia. (Quelle: Claudio Furlan/LaPresse via ZUMA Press/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Die Bundesrepublik Deutschland verwandelt sich in ein riesiges Gefängnis. An den Außengrenzen: Gitter und Polizisten. In den Zellen: 82 Millionen Menschen in Wohnungen und Häusern. Freigang: nur für elementare Bedürfnisse, nur allein oder allenfalls mit den Insassen derselben Zelle. Wir sind Gefangene, und wir fragen uns mit einer Mischung aus Erstaunen, Beklemmung, mancher vielleicht auch Ärger: Was geschieht da gerade mit uns? Wie kann es sein, dass unser Leben, unsere Freiheit binnen weniger Tage so radikal beschnitten worden sind? Doch wer vernünftig ist, der weiß: Es ist richtig so.

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Das Coronavirus zwingt Millionen Menschen rund um den Globus, auf ihre Bewegungsfreiheit zu verzichten, und nach tagelangem Nachdenken hat auch die Bundeskanzlerin ihre Richtlinienkompetenz gestern Abend endlich so interpretiert, wie ein Regierungschef sie in einer historischen Notlage interpretieren muss: Angela Merkel hat die Ministerpräsidenten der Länder zusammengetrommelt und in einer Videokonferenz auf die härtesten Einschnitte eingeschworen, die deutsche Politiker der Bevölkerung seit 75 Jahren abverlangt haben. Anders wäre es auch kaum noch gegangen, nachdem Bayerns Chefcoronabekämpfer Markus Söder längst vorausmarschiert war und mehrere Bundesländer ihm eilig gefolgt waren. Nur von Armin Laschet aus NRW kam noch nennenswerter Widerstand, allerdings nicht aus mangelnder Einsicht, sondern aus zu viel Weitsicht: Er will doch Kanzler werden, da schmerzt es ihn, dass der fesche Markus ihm den Schneid abkauft. Den Großteil der Bevölkerung hingegen interessieren die unionsinternen Sandkastenraufereien in diesen Tagen eh nicht mehr. Viel zu groß ist die Gefahr, viel zu gravierend sind die von der Kanzlerin verkündeten Regeln:

"Erstens: Die Bürgerinnen und Bürger werden angehalten, die Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren.

Zweitens: In der Öffentlichkeit ist, wo immer möglich, zu anderen als den unter Erstens genannten Personen ein Mindestabstand von mindestens 1,5 Metern, besser noch 2 Metern einzuhalten. Es ist das Allerwichtigste, dass diese Abstandsregel eingehalten wird. Mit einem bestimmten Abstand reduziert sich das Infektionsrisiko auf nahezu null. Ob man einen halben Meter voneinander entfernt steht oder 1,5 Meter, macht einen riesigen Unterschied.

Drittens: Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur allein, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstands gestattet.

Viertens: Der Weg zur Arbeit, zur Notbetreuung, Einkäufe, Arztbesuche, Teilnahme an Sitzungen, erforderlichen Terminen und Prüfungen, Hilfe für andere, individueller Sport und Bewegung an der frischen Luft sowie andere notwendige Tätigkeiten bleiben selbstverständlich weiter möglich.

Fünftens: Gruppen feiernder Menschen auf öffentlichen Plätzen, in Wohnungen sowie privaten Einrichtungen sind angesichts der ernsten Lage in unserem Land inakzeptabel. Verstöße gegen die Kontaktbeschränkungen sollen von den Ordnungsbehörden und der Polizei überwacht und bei Zuwiderhandlungen sanktioniert werden.

Sechstens: Gastronomiebetriebe werden geschlossen. Davon ausgenommen ist die Lieferung und Abholung mitnahmefähiger Speisen für den Verzehr zu Hause.

Siebtens: Dienstleistungsbetriebe im Bereich der Körperpflege wie Friseure, Kosmetikstudios, Massagepraxen, Tattoo-Studios und ähnliche Betriebe werden geschlossen, weil in diesem Bereich eine körperliche Nähe unabdingbar ist. Medizinisch notwendige Behandlungen bleiben weiter möglich.

Achtens: In allen Betrieben und insbesondere solchen mit Publikumsverkehr ist es wichtig, die Hygienevorschriften einzuhalten und wirksame Schutzmaßnahmen für Mitarbeiter und Besucher umzusetzen.

Neuntens: Diese Maßnahmen sollen eine Geltungsdauer von mindestens zwei Wochen haben."

Soweit die Kanzlerin. Wer sich nicht an die Regeln hält, dem drohen in einigen Bundesländern hohe Strafen. Kurz nach der Pressekonferenz dann gleich die nächste Eilmeldung: Merkel muss selbst sofort in Quarantäne und in ihrer Wohnung Am Kupfergraben 6 in Berlin-Mitte bleiben. Sie hatte am Freitag Kontakt zu einem Arzt, der positiv auf das Coronavirus getestet wurde. Als hätte es noch eines Beweises für den Ernst der Lage bedurft. Die Einschläge kommen näher, und niemand ist gegen die Gefahr gefeit. Wer in die Katastrophengebiete in Oberitalien schaut, dem wird heiß und kalt: 800 Tote an einem Tag, insgesamt schon 4.825, dazu mehr als 53.000 Infizierte. Sämtliche Firmen, Fabriken und Geschäfte, die für das tägliche Leben nicht essenziell sind, wurden geschlossen. Das EU-Land erlebt eine humanitäre Katastrophe.

Russland schickt den Italienern Pfleger, China schickt Atemmasken, Deutschland schickt medizinisches Gerät – aber können wir nicht noch mehr tun, um unsere Solidarität zu beweisen? Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber wenn ich die verzweifelten Ärzte in Brescia und die bis zur Erschöpfung arbeitenden Pfleger in Bergamo sehe, wenn ich ihre Hilferufe auf Facebook lese, dann frage ich mich: Warum setzen wir nicht alle gemeinsam ein Signal der Solidarität mit unseren italienischen Freunden? Ich habe kein Beatmungsgerät, das ich in die Lombardei schicken könnte, aber ich kann heute wenigstens über Twitter, Facebook, den Tagesanbruch und alle anderen Kanäle, die mir zur Verfügung stehen, einen Satz aussenden:

Siete nei nostri pensieri, vi stiamo accanto, non vi lasciamo soli!

Wir fühlen mit euch, wir stehen zu euch, wir lassen euch nicht allein!

Falls Sie ebenso empfinden wie ich, dann kopieren Sie diesen Satz doch einfach und verbreiten Sie ihn ebenfalls.


Das menschliche Drama ist erschütternd, aber das ökonomische ist es auch. Das Coronavirus wird Deutschland in eine tiefe Wirtschaftskrise stürzen. David Folkerts-Landau, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, rechnet uns vor: Diese Krise wird den deutschen Staat bis zu 1,5 Billionen Euro kosten – so viel wie die Wiedervereinigung. Wir werden noch sehr, sehr lange für die Folgen dieses Virus bezahlen. Während sie mit den Ausgangsbeschränkungen lange gewartet hat, geht die Bundesregierung schnell und entschlossen gegen die wirtschaftlichen Schäden vor: Kassenwart Olaf Scholz (SPD) legt die Schuldenbremse zu den Akten und setzt einen Nachtragshaushalt in Höhe von 156 Milliarden Euro auf: schnelles Geld für Firmen, Angestellte, Selbständige. Noch diese Woche will er das Paket durch Bundestag und Bundesrat schleusen. Wir dürfen uns diese enorme Summe durchaus mal in Euro-Münzen vorstellen: Würde man sie übereinanderstapeln, bekäme man wohl 520.000 Türme von der Höhe des Eiffelturms. So viel braucht es, um den Ausbruch dieser beispiellosen Krise abzufedern – und wir wissen nicht, was noch alles kommt. Herr Scholz immerhin ist zuversichtlich: "Ja, unser Land kann das stemmen", sagt er der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". "Jetzt bewährt es sich, dass wir in den vergangenen Jahren konsequent eine solide Haushaltspolitik betrieben haben. Das gibt uns jetzt die Kraft, alles Notwendige zu tun." Das können wir hier einfach mal so stehen lassen und feststellen: Die viel gescholtene große Koalition hat beileibe nicht alles falsch gemacht.

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Zugleich steckt in dieser Ausnahmesituation auch ein Keim der Hoffnung, den der französische Präsident Macron zielsicher erkannt hat: Es ist die Chance, dass wir nach der Überwindung der Krise verantwortungsvoller wirtschaften als zuvor. Dass wir unser Gesundheitssystem besser ausstatten. Dass wir mehr Rücksicht aufeinander nehmen, aber auch auf die Umwelt und das Klima. Dass wir kapitalistische Exzesse begrenzen, denn nicht jede Schraube einer deutschen Maschine muss zwingend in China produziert und um die halbe Welt geschippert werden. Dass wir mehr Solidarität, mehr Empathie und mehr Umsicht entwickeln. Es mag nur eine Hoffnung sein, aber sie ist gar nicht so unrealistisch. Glauben Sie nicht? Dann lesen Sie bitte diesen bemerkenswerten Text des Zukunftsforschers Matthias Horx.


WAS STEHT AN?

Wie geht man vor, wenn man tage-, wochen-, womöglich monatelang in der eigenen Wohnung eingesperrt ist, wie übersteht man den Lagerkoller? In der "Süddeutschen Zeitung" habe ich diese fünf Tipps von Resilienz-Forschern gelesen:

Erstens so gut es geht soziale Bindungen leben – sei es in den eigenen vier Wänden, sei es virtuell. Zweitens großzügig sein und helfen. Drittens dankbar sein – trotz allem. Immerhin leben wir noch, haben genügend zu Essen, zu lieben und zu lachen. Viertens Routinen entwickeln – nun eben andere als normalerweise. Fünftens das Positive wahrnehmen – denn auch in der Krise gibt es jeden Tag schöne Momente; man muss sie nur sehen. Ich habe mir das gleich mal vorgenommen: Ein richtig schöner Moment ist heute Morgen der Blick in das Postfach mit den E-Mails der Tagesanbruch-Leser. So viele nette Nachrichten, danke schön!


Die EU-Außenminister planen heute per Videokonferenz, wie die letzten im Ausland gestrandeten EU-Bürger zurückgeholt werden können.

Die EU-Wirtschafts- und Finanzminister bevorzugen eine Telefonschalte, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise und die Aussetzung der Defizitregeln zu besprechen.


WAS LESEN?


"Die größte Gefahr ist der Atem anderer Menschen", sagt der Immunologe Andreas Radbruch in der neuen Ausgabe unseres Podcasts "Tonspur Wissen". Und er warnt: Auch junge Menschen sollten eine Infektion auf keinen Fall unterschätzen! Was genau das Coronavirus im Körper anrichtet, erklärt er hier.


Im Jahr 1961 flog Heinz Felfe auf: Der hochrangige Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes war Spion des sowjetischen KGB. Den BND erschütterte die Affäre in seinen Grundfesten – der ehemalige SS-Mann Felfe hatte während seiner Laufbahn insgesamt sieben Geheimdiensten gedient. Der BND-Chefhistoriker Bodo Hechelhammer hat Felfes Biografie verfasst und meinen Kollegen Jonas Mueller-Töwe und Marc von Lüpke erzählt, warum ein Mensch zum Verräter wird.


WAS AMÜSIERT MICH?

Jeder hat ja so seine Methoden …

Ich wünsche Ihnen trotz allem einen frohen Tag. Bleiben Sie bitte gesund. Und möglichst zu Hause.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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