Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Wir erleben einen Thriller
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Es ist keine gemächliche Erzählung, wenn Geschichte geschrieben wird. Eher ein Thriller. Es wird ein dicker Schinken werden, das wissen wir jetzt schon, auch wenn sich die Story gerade erst zu entfalten beginnt. "Maßnahmen" ist ein Wort, das im aktuellen Kapitel häufig vorkommt und das entschlossen, aber auch ziemlich ungemütlich klingt. Denn sie sind "einschneidend", sagt die Protagonistin auf der Seite, die gestern frisch verfasst wurde: "Maßnahmen, die es in unserem Lande so noch nicht gegeben hat." Angela Merkel hat uns diese düstere Botschaft in ihrem gewohnt unaufgeregten Duktus vorgetragen, aber der Inhalt ihrer Worte kündigt harte Zeiten an. Dafür müssen wir noch nicht einmal die ins Bodenlose fallenden Börsenkurse sehen.
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Unter anderen Umständen käme es schon einem Erdbeben gleich, dass Bund und Länder den geheiligten Föderalismus für eine Weile an den Nagel hängen und sich zu einheitlichen Maßnahmen in ganz Deutschland durchringen, wo sonst jedes Ländle sein eigenes Süpple kocht. Aber jetzt sind wir viel zu sehr mit dem Auslöffeln beschäftigt: Denn zahlreiche Geschäfte müssen geschlossen bleiben, das Vereinsleben in Sport und Freizeit ist vorbei, das Nachtleben auch, die Schwimmbäder sind zu, die Versammlung zu Gottesdiensten untersagt, Hotelbuchungen zu touristischen Zwecken verboten, nach sechs Uhr abends öffnet kein Restaurant mehr die Tür. Urlaubsreisen sollen unterbleiben, auch innerhalb Deutschlands. Stattdessen zu Hause bleiben mit den Kleinen, die nicht in die geschlossene Kita und nicht in die geschlossene Schule dürfen – also raus auf den Spielplatz? Nein, Spielplätze werden auch gesperrt. (Hier der Überblick, was geöffnet bleibt.)
An dieser Stelle würde man das aufregende neue Buch gern mal weglegen und etwas Entspannenderes lesen. Aber was wir auch aufschlagen, leichte Kost ist nicht dabei: Katastrophenfall in Bayern, Notstand in der Schweiz, Ausgangssperren in Frankreich. Die EU-Kommission will die Grenzen in ganz Europa abriegeln. Wir haben uns die Geschichte nicht ausgesucht, in der wir jetzt alle unsere Rolle spielen müssen. Und wir dürfen sie uns auch nicht schön dichten. Wie verlockend wäre es zum Beispiel, das alles als übertrieben abzutun. Die Angst vor den Kapiteln, in die noch niemand hat hineinspähen können, die Sorge um die eigene Gesundheit und die der Familie: All das wäre wie weggewischt, wenn wir zum Beispiel im Brustton der Überzeugung verkünden könnten, dass ja bald der Frühling und die Wärme kommen, um das Coronavirus in der Sonne wegzubrutzeln wie die alljährliche Grippewelle.
Doch das wird so nicht passieren. Die alten Gewissheiten sind nicht einfach auf das neue Virus übertragbar. Der gewöhnlichen Grippe geht es nämlich von zwei Seiten an den Kragen: einerseits von der Wärme, die der Erreger nicht verträgt und die uns aus den engen, stickigen, infektiösen Räumen öfter an die frische Luft lockt. Andererseits rückt dem Grippekeim der Erfahrungsschatz unseres Immunsystems auf den Pelz, das zwar mit den alljährlichen Veränderungen des Grippevirus noch keine Bekanntschaft gemacht hat – aber immerhin mit einer teilweise passenden Antwort auf die Attacke aufwarten kann. Beides zusammen – frühlingshafte Wärme und vorherige Bekanntschaft – sind zu viel für den Erreger, um sich weiterhin erfolgreich zu verbreiten, und so geht die Grippesaison zu Ende.
Wahrscheinlich ahnen Sie es schon: Bei einem neuen Virus wie SARS-CoV-2 fehlt unserem Körper die Vorkenntnis. Dass nur die Wärme allein es richtet, ist nach Einschätzung von Experten nicht unbedingt wahrscheinlich und auch in der Vergangenheit längst nicht immer der Fall gewesen. Die Schweinegrippe-Pandemie zum Beispiel hat sich um die typische Grippesaison nicht weiter geschert. Vermutlich erleben wir wenigstens eine sommerliche Delle in der Heftigkeit der Ausbreitung. Mehr als das wäre ein Segen und nicht komplett ausgeschlossen – aber ein großes Glück.
Warum ist das wichtig? Warum dürfen wir uns nicht wenigstens gelegentlich ein bisschen in die Tasche lügen und uns die vielen düsteren Nachrichten mit einem sonnigen Gemüt schönfärben, auch wenn das vielleicht nicht der kalten Realität entspricht? Weil es uns zu Leichtsinn verleitet. Zu der lang geplanten großen Geburtstagsfeier im Freundeskreis, von denen doch alle gesund sind (im Moment) und die sich doch immer gewissenhaft die Hände waschen (bestimmt). Oder zur Aufregung über das Kneipenverbot der panischen Politiker, das man doch vielleicht mit den Kumpels irgendwie umgehen kann?
Nein, nein und nochmals nein. Denn diese Uneinsichtigkeit spielt der Epidemie in die Hände, deshalb dürfen wir uns den Thriller-Plot nicht zurechtbiegen. Für alle, die das trotzdem tun, haben die Bundeskanzlerin, das Kabinett und die Ministerpräsidenten gestern Geschichte geschrieben. Ihr nächstes Kapitel könnten noch diese Woche der nationale Notstand und eine bundesweite Ausgangssperre sein.
WAS STEHT AN?
Was früher das Gipfeltreffen war, ist heute der Videogipfel: In Zeiten der Corona-Krise jetten die Mächtigen nicht mehr um die Welt, wenn sie gemeinsam Probleme lösen wollen, stattdessen tippen sie eine Telefonnummer ins Display und diskutieren in einer Videokonferenz. So heute Nachmittag auch die Staats- und Regierungschefs der EU. Merkel, Macron und die anderen 25 wollen abstimmen, wie sie die weitere Ausbreitung des Virus eindämmen, genügend Schutzausrüstung bereitstellen, die Erforschung eines Impfstoffs vorantreiben und die wirtschaftlichen Schäden begrenzen können. Natürlich kommt so ein flackernder Bildschirm nicht an ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht heran – trotzdem kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung berichten: Es funktioniert ziemlich gut. Und wir können damit rechnen, dass in diesen turbulenten Tagen viele Politiker, Unternehmer und auch Angestellte lernen, wie sich aufwendige Geschäftsreisen sehr einfach durch Videokonferenzen ersetzen lassen. Diese Erkenntnis wird sie auch nach dem Ende der Krise nicht mehr verlassen. Wer schon einmal in einem vollgepackten Business-Flieger zwischen Frankfurt und Berlin, Hamburg oder Köln saß, der ahnt: Für den Klimaschutz könnte dieser Lernprozess ungeahnte positive Folgen haben.
Der Paritätische Gesamtverband stellt heute gemeinsam mit sieben anderen Wohlfahrts-, Sozial- und Fachverbänden die "Soziale Plattform Wohnen" vor. Mit dem Zusammenschluss wollen sich die Organisationen in die wohnungspolitische Debatte einmischen. Zeit wird’s.
In weiteren US-Bundesstaaten stehen Vorwahlen der Demokraten zur Präsidentschaftskandidatur an: Arizona, Florida, Illinois. Ohio dagegen will die Vorwahl wegen des Coronavirus verschieben. Im Rennen sind nur noch Old Shatterhand Sanders und Old Surehand Biden. Mit Ergebnissen wird am Mittwoch an High Noon gerechnet.
Mehr als 13 Jahre nach dem spurlosen Verschwinden der Berliner Schülerin Georgine Krüger wird das Urteil erwartet. Angeklagt ist ein 44-Jähriger, die Staatsanwaltschaft hat lebenslange Haft beantragt.
Der Anti-Diskriminierungs-Ausschuss des Europarats legt seinen Bericht zur Lage in Deutschland vor. Er wird benennen, welche sozialen Gruppen hierzulande systematische Benachteiligung erfahren.
Die Bewohner des "Big Brother"-Containers in Köln wissen bislang nix von Corona. Erst heute Abend werden sie über die Krise außerhalb ihrer Wohnkiste informiert. Na, das kann ja was werden.
WAS LESEN?
"Wir haben genügend Betten, Beatmungsgeräte und meistens auch Ärzte. Aber wir haben nicht genügend Pflegekräfte": Krankenpfleger Alexander Jorde, der vor zwei Jahren in der ARD-"Wahlarena" Kanzlerin Merkel in den Senkel stellte, kann die Missstände des deutschen Pflegesystems exakt benennen. Im Interview mit meinen Kollegen Manfred Schäfer, Melanie Weiner und Sandra Simonsen erklärt er, was sich jetzt dringend ändern muss.
Karl Lauterbach ist SPD-Politiker – und als Arzt ein angesehener Gesundheitsexperte. Im Interview mit meinem Kollegen Johannes Bebermeier bewertet er das gegenwärtige Krisenmanagement der Bundesregierung und erklärt, was wir für die Zukunft daraus lernen können.
Wie entwickelt sich das Coronavirus in unterschiedlichen Ländern – und wie sollten Firmen, Behörden, aber auch Familien jetzt handeln? Der Autor Tomas Pueyo hat sich die Lage ganz genau angesehen und versorgt uns mit bemerkenswerten Erkenntnissen.
Bundespräsident Steinmeier hat im t-online.de-Interview einen leidenschaftlichen Appell formuliert: Es hänge von uns allen ab, in was für einer Gesellschaft wir nach dem Coronavirus leben werden. SPD-Chef Norbert Walter-Borjans greift das auf und stellt unsere Art zu wirtschaften infrage: Die Politik müsse dafür sorgen, "Nachhaltigkeit und Gemeinwohl wieder zum Bestandteil des wirtschaftlichen Kalküls zu machen" – sonst sei die nächste Krise ebenso gewiss wie die Tatsache, dass die Allgemeinheit dann wieder für die Verluste aufkommen müsse, "die verantwortungsloses Gewinnstreben einiger Weniger regelmäßig entstehen lässt."
WAS AMÜSIERT MICH?
Der ist halt ’ne coole Socke, der Arnie, der weiß halt, wie man mit diesem Virus umgehen muss. Und der Helge, der weiß es auch.
Ich wünsche Ihnen einen coolen Tag. Falls Sie sich zu Hause langweilen: Lesen Sie doch einfach mal ein gutes Buch. Falls Ihre Kinder rumhibbeln: Hier sind jede Menge Beschäftigungstipps. Falls Sie jede neue Entwicklung in der Corona-Krise mitbekommen wollen: Sie erfahren alles Wichtige auf t-online.de; wir sind rund um die Uhr für Sie im Einsatz. Bleiben Sie gesund! Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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