Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
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Guten Morgen aus Juba, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
In unserem europäischen Leben kommen uns die Annehmlichkeiten des Alltags oft selbstverständlich vor. Sind sie nicht. Abflug auf dem schicken Frankfurter Flughafen: klimatisierte Luft, automatische Ticket Counter, Boutiquen, die S-Bahn direkt am Airport. Ankunft in Juba, Hauptstadt des Südsudan: Staub in der Luft, zu Fuß über die Rollpiste, vorbei an einem Trupp Soldaten. Zur Passkontrolle in eine kleine Halle. Immerhin gibt es inzwischen eine Halle, vor einem Jahr gab es nur ein Zelt. Fahrt ins Stadtzentrum über eine der wenigen asphaltierten Straßen, links und rechts Motorräder, Ziegen, Frauen mit Körben auf dem Kopf, dann mitten auf der Fahrbahn zwei Autowracks, ein Unfall am Vorabend. Die Häuser und Hütten wirken armselig, aber stark belebt; seit dem Friedensschluss vor einem Jahr sind viele Bürgerkriegsflüchtlinge in ihre Heimat zurückgekehrt.
Sind sie nun sicher? Nein, sicher ist die Lage überhaupt nicht, sagt einer, der es wissen muss, aber seinen Namen lieber nicht veröffentlicht sehen will. Die Befehlsketten funktionierten nicht mehr allerorten, mehrere Generäle hätten ihre Privatarmeen rekrutiert. Die Regierung habe die Situation ebenso wenig im Griff wie die Opposition. Aber was heißt das schon: die Regierung? Die Regierung besteht in erster Linie aus den Getreuen von Präsident Salva Kiir Mayardit, der seinen schwarzen Cowboyhut noch immer mit demselben Stolz trägt wie an dem Tag, als er ihn von George W. Bush geschenkt bekam. Er versucht, das Land in viele kleine Provinzen zu zerteilen, damit er mehr Pfründe an Gefolgsleute verteilen kann, auf dass die ihm nicht auch noch von der Fahne gehen. Durch die Kantonisierung entlang der Siedlungsgebiete von Volksgruppen werden aber neue ethnische Konflikte geschürt.
53 Sprachen sind im Südsudan geläufig. Separiert man die Menschen nun noch stärker voneinander und weiß zugleich, dass Erdöl, Gold, Silber, Kupfer, Zink und Wolfram nur in wenigen Provinzen zu finden sind, genügt womöglich schon ein kleiner Anlass, um den Krieg wieder aufflammen zu lassen. In diesem fruchtbaren Land kann man sehen, was geschieht, wenn skrupellose Politiker ihre Machtspiele auf dem Rücken der Menschen ausleben. Während sie ihre Garagen mit Geländewagen und ihre Auslandskonten mit Dollar füllen, leidet mehr als die Hälfte der Bevölkerung bittere Armut und Hunger. Ohne die Unterstützung internationaler Hilfsorganisationen wäre die Infrastruktur im Südsudan längst vollständig zusammengebrochen. Nur den Helfern von Ärzten ohne Grenzen, Flying Doctors, dem UN-Kinderhilfswerk Unicef und anderen Organisationen ist es zu verdanken, dass nicht noch viel mehr Menschen sterben.
In einem streng gesicherten Gebäudekomplex treffe ich Biram Ndiaye. Der Senegalese arbeitet seit 30 Jahren in afrikanischen Krisenregionen und ist seit bald zwei Jahren Chef des Unicef-Ernährungsprogramms im Südsudan. Hört man ihm zu, bekommt man eine Ahnung davon, welchen gigantischen Aufwand es erfordert, Hunderttausende unterernährte Kinder in verdorrten oder überschwemmten Landstrichen (gibt es hier beides) mit dem Nötigsten zu versorgen. Möglich ist die Hilfe nur dank der Einsatzbereitschaft einheimischer und ausländischer Helfer, die sich selbst von chaotischen Behörden, marodierenden Soldatenbanden, fehlenden Straßen und lebensgefährlichen Krankheiten nicht abschrecken lassen. Und dank den Geldgebern: zum einen Staaten wie den USA, die viele Millionen Dollar in die Südsudan-Hilfe stecken, zum anderen privaten Spendern, ohne deren großzügige Beiträge die Hilfsprogramme auch nicht möglich wären.
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"Eine große Herausforderung ist die vorausschauende Planung", sagt Herr Ndiaye. "Oft fließen Gelder erst, wenn die Hungersnot bereits ausgebrochen ist. Aber dann ist es eigentlich zu spät. Um die Kinder zu retten, müssen wir vorher ansetzen: wenn sich eine Mangelernährung anbahnt." Ist ein Kind erst einmal stark unterernährt, weil es zum Beispiel wochenlang nur Gras oder Blätter gegessen hat, kommen auch noch Krankheiten und mangelnde Hygiene hinzu, sind die Chancen für eine Erholung viel kleiner. Drei Monate dauert es, ein hungerndes Kleinkind mit Spezialmilch und Erdnusspaste wieder aufzupäppeln. Das überleben nicht alle.
Trotzdem verzeichnen die Helfer Erfolge. In Zusammenarbeit mit 40 Nichtregierungsorganisationen hat Unicef landesweit 50 Ernährungszentren errichtet; in einigen leben mehrere hundert Kinder. Allein im vergangenen Jahr konnten 180.000 Kinder unter fünf Jahren gegen schwere Mangelernährung behandelt werden. Zudem beraten die Helfer Mütter, bauen Brunnen und impfen gegen Krankheiten wie die Cholera. Im kommenden Jahr will die Organisation das Hilfsprogramm ausweiten und nachhaltige Strukturen aufbauen, damit die Menschen sich irgendwann wieder selbst verpflegen können.
Ich habe Herrn Ndiaye gefragt, was ihn antreibt. Seine Antwort: "Ich will als Afrikaner etwas dazu beitragen, dass es den Menschen auf unserem Kontinent besser geht. Die Kinder haben es nicht verdient zu leiden!" Ich finde, das ist das Zitat des Tages.
Wenn zwei erbitterte Gegner aufeinandertreffen, liegen irgendwann die Nerven blank. In Hongkong steckt die Auseinandersetzung zwischen Stadtregierung und Polizei auf der einen und Demonstranten auf der anderen Seite in einer Eskalationsspirale fest, deren Ende bislang niemand erahnen kann. Seit Wochen bringt die Brutalität der Polizei nicht nur die politisch Engagierten in Rage. Denn die Staatsmacht feuert ihr Tränengas längst nicht mehr nur auf alle, die sich für den Erhalt der Demokratie stark machen. Es trifft Sanitäter und Journalisten, es landet in Geschäften, Schwaden ziehen in die Wohnblocks. Wieder und wieder versammeln sich die Demonstranten, bewerfen und beschimpfen die Polizei. Das geht an den Uniformträgern nicht spurlos vorbei. Mancher prügelt sich mit seinem Schlagstock den Frust vom Leib. Aber auch die Übergriffe von Protestierenden häufen sich. Eigentlich ist es ein Wunder, dass nicht längst noch Schlimmeres passiert ist – das hätte man sagen können. Aber nun beginnt das Schlimmere zu passieren.
Am Freitag gab es den ersten Toten. Ein Student, der während einer Polizeiaktion von einem Parkdeck stürzte, starb im Krankenhaus. Nach einem Wochenende voller Gewalt eskalierte die Situation gestern weiter: Krawalle im Stadtzentrum, Tränengas zur Mittagspause. Ein Polizist, der einem Demonstranten aus einem Meter Entfernung in die Brust schoss. Anderswo ein Passant, der Protestierende beschimpfte und daraufhin von ihnen angezündet wurde. Ein Polizist, der mit seinem Motorrad Jagd auf Vermummte machte.
Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam hat gestern Abend zu verstehen gegeben, dass sie den Forderungen der Demonstranten keinesfalls nachgeben will. Rhetorik und Polizeitaktik legen nahe, dass die Führung in Peking wenigstens zurzeit keine endgültige Niederschlagung der Proteste ins Auge fasst, um ihr internationales Image nicht durch Bilder rollender Panzer zu beschädigen. Stattdessen setzt sie darauf, ihre Gegner auf den Straßen mit steter, aber begrenzter Gewalt in die Erschöpfung zu treiben – und vielleicht auch zu unbedachten Aktionen, die die öffentliche Meinung herumreißen. Was Peking womöglich vergessen hat: Die Nerven liegen nicht nur auf einer Seite blank.
WAS STEHT AN?
Eines steht fest: Wir werden immer mehr. Und wenn wir uns weiter so fortpflanzen, erträgt die Erde uns Menschen bald nicht mehr. Das wussten Regierende und Wissenschaftler auch schon vor 25 Jahren, als sie in Kairo die Weltbevölkerungskonferenz abhielten und ein Aktionsprogramm beschlossen. Doch seither ist die Lage nicht besser, sondern noch prekärer geworden. Deshalb treffen sich Regierende und Wissenschaftler heute erneut, diesmal in Nairobi. Aber so lange es viele elende Länder auf der Welt gibt, in denen Bildung Mangelware ist und den Menschen als Altersvorsorge nur der Kinderreichtum bleibt, wird sich wohl nicht viel ändern.
Die Chinesen wiederum haben mit ihrer jahrelangen Einkindpolitik das Bevölkerungswachstum gedrosselt – so sehr, dass in der Zukunft zu wenige junge Chinesen da sein werden, um die alten zu versorgen. Einbrechendes Wirtschaftswachstum aber können sich die Politbürochefs nicht erlauben. Eine Antwort aus dem Dilemma ist der globale Ausbau der Handelswege, den die Pekinger Bosse vorantreiben. Heute freuen sie sich über ein strategisch wichtiges Teilstück auf Rügen: Der Hafen Mukran in Sassnitz wird an die Neue Seidenstraße angeschlossen. Merke: China baut, Deutschland schaut (zu).
Die Linksfraktion im Bundestag wählt heute einen neuen Vorstand. Sahra Wagenknecht tritt nicht mehr an. Was macht sie nun?
DIE GUTE NACHRICHT…
… zumindest für die Reiferen unter uns: Die Renten sollen im kommenden Jahr um mehr als drei Prozent steigen.
WAS LESEN?
Die große Koalition hat also nach zähem Ringen die Grundrente beschlossen. Finanziert wird sie durch Steuergeld, das der staatlichen Rentenkasse zufließt. Doch so lässt sich der wachsende Bedarf dort nicht weiter ausgleichen, kommentiert unser Reporter Tim Kummert. Er findet die Grundrente an sich richtig, wendet aber ein: "In ihrer Machart steht sie für die verfehlte Rentenpolitik der Bundesrepublik. Und damit für den Verrat an der jungen Generation, der Zukunft Deutschlands."
Was sind die zehn besten Bücher? Bei mir schafft es ein, nun, sagen wir mal: Klassiker auf Platz eins. Wenn ich mir die Empfehlungen der lieben t-online.de-Leserinnen und -Leser anschaue, bin ich damit offenbar nicht allein.
WAS BEEINDRUCKT MICH?
Eine 15 Meter hohe Wand in weniger als sieben Sekunden hochklettern: geht nicht? Geht doch! Die Indonesierin Aries Susanti Rahayu zeigt uns, wie es geht.
Ich wünsche Ihnen einen hochfliegenden Tag. Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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