Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Eine schallende Ohrfeige
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
und willkommen in einer ereignisreichen politischen Woche. Hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Sachsen und Brandenburg haben gewählt, und obgleich die Ergebnisse kaum von den Vorwahlumfragen abweichen, wirbeln sie die politische Szene Deutschlands gehörig durcheinander. Ein Blick auf die Gewinner und Verlierer:
Die größte Siegerin der beiden Landtagswahlen ist nicht eine Partei. Wie schon bei der Europawahl sind es auch jetzt wieder die wahlberechtigten Bürger, denn sie haben in großer Zahl von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. 61,3 Prozent Beteiligung in Brandenburg, 66,6 in Sachsen, das ist ein Plus von mehr als 13 beziehungsweise 17 Prozent. Wir erleben eine zunehmende Politisierung der deutschen Bevölkerung. Abseits aller Parteipräferenzen ist das ein starker Ausdruck unserer lebendigen Demokratie.
Die größte Gewinnerin unter den Parteien ist zweifellos die AfD. 27,5 Prozent in Sachsen, 23,5 Prozent in Brandenburg, in beiden Ländern zweitstärkste Partei: Die AfD rückt erstmals in die Dimensionen einer Volkspartei vor und etabliert sich als Schwergewicht auf der politischen Bühne. Ihre Kraft schöpft sie aus der Provinz, ähnlich wie die Gelbwesten in Frankreich, die Trump-Anhänger in den USA und die Brexiteers in Großbritannien. Am meisten Zuspruch bekommt sie sowohl in Sachsen als auch in Brandenburg in strukturschwachen Regionen.
Zugleich sehen offenkundig viele Bürger in der AfD ein Ventil, durch das sie ihrem Unmut über Ungleichheiten zwischen Ost- und Westdeutschen Luft machen können. Da die AfD wohl weder in Brandenburg noch in Sachsen Regierungsverantwortung übernimmt, kann sie sich auch künftig als Protestpartei profilieren – und womöglich weiter in der Wählergunst wachsen.
Und auch das ist bemerkenswert: Rund 56 Prozent der Brandenburger stimmen laut dem Umfrageinstitut infratest dimap der Aussage zu: "Die AfD spricht aus, was in den anderen Parteien nicht gesagt werden darf." Ungeachtet des tatsächlichen Wahrheitsgehalts einer solchen Behauptung ist diese eine schallende Ohrfeige für die etablierten Parteien. De facto ist sie sogar gravierender als das eigentliche Wahlergebnis – und zeigt, wie dringend CDU und SPD, aber auch Grüne, FDP und Linke an ihrer Kommunikation arbeiten müssen. Sie kommen nun nicht mehr an der AfD vorbei. Sie können sich gegen sie verbünden, sie können deren Programm auseinandernehmen, sie können die Umtriebe des radikalen "Flügels" geißeln – aber ignorieren können sie die AfD nicht mehr. So absurd es in den Ohren vieler Anhänger von CDU und SPD auch klingen mag: Sie können von der AfD sogar etwas lernen. Keine andere Partei versteht es so gut, diffuse Stimmungen in der Bevölkerung zu kanalisieren, keine andere nutzt so geschickt die sozialen Medien für ihren Wahlkampf. Darunter sind immer wieder Hetze und Diffamierungen, die jeder Demokrat verurteilen muss, aber eben auch ernst zu nehmende Kampagnen und die Bereitschaft, Missstände hart und offen anzusprechen. Die Parteizentralen von CDU und SPD haben verstanden, dass sie hier Aufholbedarf haben, kommen aber schwer in die Pötte. Das mag auch daran liegen, dass es ihnen an geeignetem Personal mangelt. "Das Ende der großen Koalition ist berechenbar geworden", schreibt mein Kollege Johannes Bebermeier in seiner Analyse.
Die SPD musste in den vergangenen Jahren so viele Niederlagen einstecken, dass man Mitleid mit ihr bekommen könnte – aber das ist das Letzte, was sie jetzt braucht. Dass sie in beiden Bundesländern heftig verloren, in ihrem Stammland Sachsen sogar das schlechteste Landtagswahlergebnis ihrer 156-jährigen Geschichte eingefahren haben, ist ein Hieb in die Magengrube der strauchelnden Genossen. Ein K.-o.-Schlag ist es nicht. In Brandenburg hat Ministerpräsident Dietmar Woidke auf den letzten Wahlkampfmetern stark aufgeholt. Geholfen hat ihm, dass die Bundespartei nach dem Nahles-Debakel langsam wieder in Schwung kommt. Der Wettbewerb um den Parteivorsitz beschert der SPD erstmals seit Langem wieder wohlwollende Schlagzeilen und ein bisschen Rückenwind. Von ihrer schweren Krankheit genesen ist die deutsche Sozialdemokratie aber noch lange nicht, bis zur Entlassung von der Intensivstation braucht sie noch viele Aufputschpillen: eine neue Führungsmannschaft, einen Kehraus im Willy-Brandt-Haus, ein runderneuertes Programm und eine neue Kommunikationsstrategie.
Und die CDU? Ist gestern Abend mit einem tiefblauen Auge davongekommen. In Sachsen hat es der nimmermüde Landesvater Michael Kretschmer gerade so geschafft, die Katastrophe des Machtverlusts zu verhindern. Im Wahlkampf hat er jedem Bürger die Hand geschüttelt, der nicht bei drei auf dem Baum war. Von morgens bis abends tourte er durchs Land, ging auch dorthin, wo ihm blanke Ablehnung entgegenschlug. Er hat es sich nicht leicht gemacht. Trotzdem reichte es nur für das schlechteste sächsische CDU-Ergebnis seit der Wiedervereinigung. Die Koalitionsverhandlungen werden deshalb mühsam, die erstarkten Grünen werden hohe Ansprüche stellen, die SPD wird sich allenfalls mit großen Gaben locken lassen. Gelingt es Kretschmer trotzdem, ein stabiles Bündnis zu schmieden und in den kommenden Jahren die Dynamik von Städten wie Leipzig und Dresden in die abgehängten Regionen Sachsens zu übertragen, könnte er sich vielleicht sogar für höhere Aufgaben auf Bundesebene empfehlen. "Die Wähler in anderen Bundesländern werden genau beobachten, wie die CDU mit diesem Ergebnis umgeht", schreibt mein Kollege Jonas Schaible in seiner Analyse.
Bleiben die Grünen, die Linke und die FDP. Da ist das Bild ziemlich eindeutig: Die Grünen fliegen weiter hoch in der Wählergunst, wenngleich sie sich bei diesen Landtagswahlen noch mehr erhofft hatten. Offenkundig schadete es ihnen, dass mancher geneigte Wähler im letzten Moment sein Kreuzchen doch bei CDU oder SPD machte, um einen noch größeren AfD-Triumph zu vereiteln. Die Linke ist drauf und dran, in Ostdeutschland auf breiter Front wegzubrechen. Den Nimbus als Protestpartei hat sie an die AfD verloren, diesen Mangel kann ihr wackliges Programm nicht wettmachen. Und die FDP? Spielt keine Rolle. In Sachsen nicht, in Brandenburg nicht, aber auch in vielen anderen Regionen Deutschlands nicht mehr. Für Christian Lindners wortreich beschworene Wiederauferstehung der Partei ist das mehr als nur ein Dämpfer. Spätestens nach der Thüringen-Wahl dürfte die Führungsdebatte bei den Liberalen ausbrechen. Noch ist kein Herausforderer in Sicht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Fazit: Die politische Szenerie Deutschlands ist so spannend wie seit Jahren nicht mehr.
WAS STEHT AN?
Nach den Wahlen ist vor der Wahl: Die Spitzen der Parteien werden heute in Berlin den Ausgang der Urnengänge kommentieren und analysieren, manche vielleicht auch hyperventilieren. In Dresden und Potsdam strecken CDU und SPD ihre Fühler in Richtung der Grünen aus, um mögliche Koalitionen auszuloten. Und dann werden sich schon viele Augen auf Thüringen richten, wo Ende Oktober die nächste Wahl ansteht. Unser Politikteam unter der Leitung von Tatjana Heid hält Sie den ganzen Tag über mit Nachrichten, Analysen und Hintergründen auf dem Laufenden.
Die Inseln in Griechenland, dicht vor der Küste der Türkei, sind ein seltsames Gefängnis. Wer auf einer von ihnen landet, weiß nicht, wie lange er dort schmoren wird. Männer, Frauen, Familien sitzen dort ein, aber auch viele Kinder und Jugendliche, die komplett auf sich allein gestellt sind. In keinem deutschen Strafvollzug wären derartige Verhältnisse vorstellbar, geschweige denn akzeptabel. Je nach Jahreszeit leben die Bewohner im Schlamm, Staub oder Dreck. Wo Platz für dreitausend Menschen ist, drängen sich stattdessen zehntausend. Stellen Sie sich eine solche Überbelegung – zehn Menschen statt drei – bitte einmal kurz in Ihrer Wohnung vor. Das Vergehen der "Insassen": Sie sind auf der Flucht. Oder eher: Sie waren es, bis sie dort ankamen.
Und sie kommen. Viele. Allein am vergangenen Donnerstag erreichten fünfhundert Flüchtlinge und Migranten die Insel Lesbos, so viele wie noch nie seit Inkrafttreten des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei. Die meisten von ihnen stammen aus Afghanistan, wo der eiserne Griff der Taliban sich immer fester um große Teile des Landes legt. Ein noch viel größeres Pulverfass befindet sich aus europäischer Sicht näher in der Region: Im Norden Syriens, in der Rebellenhochburg Idlib, spitzt sich die Lage zu. Millionen Menschen sitzen dort fest, viele von ihnen sind bereits aus anderen Teilen Syriens geflohen. Die Soldaten von Präsident Assad und ihre russischen Verbündeten ziehen den Ring immer enger. Wenn der blutige Showdown beginnt – und mit ihm "ein humanitärer Albtraum, wie wir ihn noch nicht gesehen haben", wie es UN-Generalsekretär Guterres nennt – dann bleibt den Eingeschlossenen nur eine Chance: es irgendwie über die türkische Grenze zu schaffen. Zu den dreieinhalb Millionen anderen syrischen Flüchtlingen, die schon in der Türkei sind.
Eigentlich sollen sie dort bleiben. Eigentlich soll die Türkei den Schleppern an der eigenen Küste das Handwerk legen und verhindern, dass Menschen in überfüllten Schlauchbooten in See stechen. Dazu erhält die Türkei Milliarden Euro aus der EU. Doch die Zeit der Solidarität mit den Flüchtlingen ist auch am Bosporus vorbei. Die Wirtschaftskrise bringt die Leute gegen die Fremden auf die Barrikaden, der Bürgermeister Istanbuls will die Syrer loswerden und in andere Provinzen abschieben. Andernorts in der Türkei mehren sich Berichte von Syrern, die plötzlich von der Polizei aufgegriffen wurden und sich in Nordsyrien wiederfanden. Immer mehr finden nun auch wieder den Weg in die Schlauchboote. Es ist ein großes, hässliches Spiel: Schwarzer Peter, aber mit Menschen.
Nur in Lesbos, Samos und den anderen griechischen Inseln geht es nirgendwo mehr hin. Dort sitzen die Menschen fest. In den überquellenden Lagern, für die wir uns in Europa schämen müssten, warten sie auf die Bearbeitung ihres Asylantrags. Monate über Monate. Weit weg vom Festland. Die See ist ein zuverlässiger Wächter. Human ist das nicht.
DIE GUTE NACHRICHT
3.300 Artikel, 1.200 Fotos, 25 Videos: So viel produzieren die rund 1.000 Redakteure der Deutschen Presse-Agentur – jeden Tag. Von Politik bis Sport, von der Eilmeldung bis zum Korrespondentenbericht reicht die Bandbreite, darunter sind viele Meldungen aus Regionen, in denen es kaum noch Lokalmedien gibt. Ohne die Zulieferungen der dpa kann heute kein seriöses Medium mehr arbeiten, auch t-online.de nicht. Nun feiert die Agentur ihren 70. Geburtstag. Das ist ein guter Anlass, den Kolleginnen und Kollegen zu gratulieren und ihnen herzlich für Ihre Arbeit zu danken. In einer Welt, die sich immer schneller dreht und in der Facebook/Twitter/YouTube mit Lügen und Halbwahrheiten um sich werfen, ist die dpa ein verlässlicher Anker. Gut so!
WAS LESEN?
Es sieht kunstvoll aus, war aber ungewollt: Einen unfreiwilligen Kopfstand machte das amerikanische Luftschiff "USS Los Angeles" am 25. August 1927. Zum Glück wurde bei dem "Stunt" keiner der Insassen verletzt. Wie kam es dazu? Es hatte … ach, lesen Sie es doch selbst nach: in unserer beliebten Rubrik "Historisches Bild".
WAS AMÜSIERT MICH?
Und was ist so toll an diesen Wahlergebnissen?
Ich wünsche Ihnen einen optimistischen Wochenbeginn. Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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