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Tagesanbruch – Deutschland: Bundesrepublik Angstland


Was heute wichtig ist
Bundesrepublik Angstland

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 05.08.2019Lesedauer: 6 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Die Farben der deutschen Flagge symbolisieren Einigkeit, Freiheit und Demokratie.Vergrößern des Bildes
Die Farben der deutschen Flagge symbolisieren Einigkeit, Freiheit und Demokratie. (Quelle: imago images)

Guten Morgen, liebe Tagesanbruch-Freunde,

vielen Dank, dass Sie meinen Kollegen in den vergangenen drei Wochen die Treue gehalten haben. Ich freue mich, nun wieder für Sie schreiben zu dürfen. Hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Deutschland im Sommer 2019 ist ein wunderbares Land: Der Wohlstand ist so groß wie nie zuvor, es gibt genug Arbeit, die Kriminalitätsrate sinkt, die Natur ist schön. Trotzdem wächst die Angst. Immer mehr Menschen fürchten sich. Vor brutalen Gewalttaten wie vergangene Woche in Frankfurt und Stuttgart. Vor Hassverbrechen wie vorgestern in Amerika. Vor der Klima-Apokalypse. Vor den Tücken der Digitalisierung. Vor Einwanderern, die uns den Wohlstand streitig machen, die sich nicht an unsere Regeln halten, die eine rückständige Weltanschauung und brutale Sitten importieren.

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Die Angst hat viele Gesichter, aber ihr Kern ist diffus, schwer greifbar. Deshalb wird sie in der politischen Debatte zu wenig thematisiert. Dabei gibt es Menschen, die uns erklären können, was da gerade in unserer Gesellschaft geschieht. Heinz Bude zum Beispiel. In der Angst vor Terroranschlägen oder der Kriminalität von Migranten sieht der Soziologe "Symptome einer weitaus grundsätzlicheren Angst, die sich in den vergangenen Jahrzehnten entfaltet hat: der Befürchtung, dass das Leben nicht immer gut sein wird. Dass der Wohlstand vergänglich ist, dass berufliche Stellungen und gesellschaftliche Achtung nicht erreicht werden oder verloren gehen können. Es ist die diffuse Ahnung, dass das Gute auch immer zerbrechlich und flüchtig ist – und die Zukunft schlechter sein kann als die Gegenwart." Der Gedanke ist bestechend. Wer den Zweiten Weltkrieg noch erlebt hat, der assoziierte Angst mit existenziellen, lebensbedrohlichen Situationen: Hunger, Schmerz, Todesfurcht. Der Aufschwung Deutschlands nach dem Krieg wirkte wie eine Befreiung – und bot ständigen Anlass zu Einsatz, Mut und Optimismus. Davon unterscheidet sich die Perspektive der Nachkriegsgenerationen grundsätzlich: Gesättigt von Frieden und Wohlstand sind sie mit dem Gefühl herangewachsen, dass das Schlimmste nicht bereits hinter ihnen liegt – sondern noch vor ihnen.

"Sie fürchten sich vor der Zukunft", erklärt Professor Bude in einem aufschlussreichen Interview mit der Zeitschrift "Geo", das ich Ihnen heute Morgen ans Herz lege. "Denn an ihnen nagt die nicht minder zermürbende Sorge, dass es nicht immer so gut sein wird wie gewohnt. Diese Angst ist so diffus, so wenig zu fassen und zu bekämpfen, dass sie übermächtig werden kann. (…) Die Angst rieselt in die Poren der Gesellschaft. Die Gemeinschaft büßt an Zusammenhalt ein, verliert den Konsens – das stabile Fundament, auf das sich bisher die meisten einigen konnten. Die Befürchtung, keinen Platz mehr für sich im Ganzen zu finden, lässt Misstrauen entstehen: gegenüber dem System, den Reichen, der Presse oder der politischen Klasse. Man kann dann Sicherheit in Affekten suchen, die gegen andere gerichtet sind, denen man die Schuld an der Misere gibt. Das ist der Grund dafür, dass Hass gesellschaftsfähig geworden ist. Hass ermöglicht es dem Ich, sich stark zu fühlen, Aufmerksamkeit zu erregen und Macht zu erleben – es ist der schnellste Weg, sich ein Gefühl von Wirksamkeit zu verschaffen. Daher formen sich überall Bewegungen, die sich gegen etwas richten, die von Misstrauen und Hass gegen andere geeint werden: Die einen machen ihrem Unmut auf Pegida-Demonstrationen Luft oder skandieren Hassparolen, andere ziehen als Bürgerwehr durchs Viertel, wieder andere sympathisieren mit der Alternative für Deutschland, dem Front National in Frankreich, Politikern wie Donald Trump in den USA – oder, im Extremfall, mit Terrororganisationen wie dem sogenannten 'Islamischen Staat'."

Wie werden wir die Angst los? Sie lässt sich weder verbieten noch durch wohlfeile Appelle verdrängen. Auch die besten Sicherheitsvorkehrungen allein werden nicht reichen. Wir können die Angst nur überwinden, indem wir uns ihr stellen. Indem wir als Einzelne, aber auch als Gesellschaft offen und hart, aber fair darüber reden, was uns ängstigt – und in der gemeinsamen Diskussion Sinn, Solidarität und Hoffnung finden. Dazu braucht es Politiker, die sich ehrlich der Debatte stellen, statt das Land mit einem Ist-doch-alles-ganz-gut-Schlafmittel zu sedieren. Es braucht das Eingeständnis, wo Fehler gemacht wurden, denn nur dann lassen sie sich künftig vermeiden. Und auch das gehört dazu: Dass man offenherzig einräumt, wo man sich geirrt hat, was man nicht gut kann, was andere vielleicht besser können. Das kostet Überwindung, aber es macht frei. Es macht souverän. Und es eröffnet neue Wege der Verständigung – im Wohnzimmer, am Arbeitsplatz, in der Fußgängerzone, in der Kneipe, im Parlament. Es erfordert allerdings auch, mit dem ewigen Rechthabereigequatsche in den TV-Talkshows aufzuhören, mit den Teflon-Auftritten in Pressekonferenzen und mit der Selbstbeweihräucherung auf Twitter, Facebook und Co.

Die Überwindung der Angst können wir nicht allein den Politikern überlassen, jeder Bürger ist gefordert. Was es braucht, ist eine engagierte, selbstbewusste und solidarische Zivilgesellschaft: Kontroversen statt Kampfrhetorik, Dialog statt Dampfplauderei, Empathie statt Eigenbrötelei. Das wäre doch ein schöner Vorsatz für diesen deutschen Sommer 2019, oder?


Deutschland an einem Sommerwochenende 2019: Das ist auch ein Lehrbeispiel in vernachlässigter Verkehrspolitik. Falls Sie kürzlich über die Dauerbaustelle A7 durch die Republik gezuckelt sind, wissen Sie, wovon ich spreche. Es mag ja etwas für sich haben, die Gänseblümchen am Straßenrand begutachten zu können, aber muss es auf der Autobahn sein? Und wieso sieht man so selten Arbeiter an den vielen Absperrungen? Muss rund um Hamburg einen ganzen Sonntag lang Stillstand herrschen, nur weil in Wacken ein paar Barden in die Saiten greifen? Mussten Autobahnbrücken in NRW jahrzehntelang vor sich hin gammeln, bis sie nur noch einspurig befahren werden können? Man ertappt sich bei dem Gedanken, dass die Verkehrsmeldungen im Radio Michael Endes "Unendlicher Geschichte" Konkurrenz machen wollen: Stau hier, Vollsperrung da, Baustelle da, da, da und da. Klingt fast wie ein Song von "Trio".

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Nachdem die öffentliche Infrastruktur jahrelang vernachlässigt worden ist, will die Bundesregierung nun bis 2030 fast 270 Milliarden Euro in den Ausbau von Straßen, Schienen und Wasserwegen stecken. Das erklärte Ziel ist das eine, die Umsetzung das andere. Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass die deutsche Verkehrswegeplanung nicht in den allerbesten Händen ist, solange ein Luftikus im Verkehrsministerium residiert, dessen Leistungsbilanz auffallend mit seinem Selbstdarstellungsdrang kontrastiert. "Ich hab Bock auf den Job", verkündet Andreas Scheuer. Bislang schießt er eher Böcke. Wir werden auf die segensreichen Effekte der Verkehrswende wohl noch ein paar Jährchen warten müssen. Vielleicht könnten die Meldungen im Radio bis dahin umgepolt werden: Statt stündlich unzählige Staus aufzuzählen, werden ab sofort die freien Autobahnabschnitte vermeldet. "Herzlichen Glückwunsch, auf der A81 zwischen Tauberbischofsheim und Würzburg können Sie heute 16 Kilometer lang ungestört fahren!" Dann werden die Verkehrsmeldungen bestimmt kürzer.


WAS STEHT AN?

Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) geht heute in den Wald. In Rheinland-Pfalz macht sie sich ein Bild von den Schäden an Fichten, Buchen, Eichen und anderen Gewächsen. Angesichts des grassierenden Waldsterbens will sie im September einen "nationalen Waldgipfel" ausrichten. Die Entwicklung ist tatsächlich heikel, trotzdem müssen wir deshalb nicht in kollektive Panik verfallen.


WAS LESEN?

Die "Kriminalpolitische Zeitschrift" zählt nicht unbedingt zu den Blättern, die wir uns jeden Tag zu Gemüte führen. Aber heute lohnt sich der Blick. Zwei Wissenschaftler haben mehr als 240 Pressemitteilungen der AfD ausgewertet und mit der Kriminalitätsstatistik verglichen. Das Ergebnis ist nicht überraschend, aber in seiner Eindeutigkeit bemerkenswert: Die Forscher belegen, dass die AfD systematisch die Angst vor Zuwanderern schürt. Hier ist die Studie, hier ist eine Zusammenfassung.


Das wichtigste Instrument der Angstmacher sind die sozialen Medien: Mit ihren raffinierten Funktionen verleiten Facebook, YouTube und Twitter die Nutzer dazu, ihre Zeit mit Quatsch zu vergeuden und ihren Geist veröden zu lassen. Josh Hawley will dem jetzt einen Riegel vorschieben: Der amerikanische Senator fordert, exakt jene Funktionen der Netzwerke zu verbieten, die sie so erfolgreich machen. Der Mann hat Mumm.


WAS AMÜSIERT MICH?

Franky Zapata hat es also geschafft: Gestern düste der französische Raketenmann über den Ärmelkanal, nur 20 Minuten brauchte er für den Höllentrip. Manche Leute tun eben alles, um irgendwie nach oben zu kommen. Ich erinnere mich da an Herrn Morgan in Südafrika …

Ich wünsche Ihnen einen luftigen Tag. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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