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Tagesanbruch: Leben in Deutschland – die Mittelschicht gerät unter Druck


Was heute wichtig ist
Leben in Deutschland – das Unbehagen wächst

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 05.03.2019Lesedauer: 6 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Deutsches Einfamilienhaus.Vergrößern des Bildes
Deutsches Einfamilienhaus. (Quelle: imago)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Annegret Kramp-Karrenbauer hat also einen Witz gemacht. Schön. Ist ja Fasnacht/Karneval/Fasching. Allerdings erntet sie für ihren Scherz jede Menge Kritik. Weniger schön.

"Wer war denn von euch vor Kurzem mal in Berlin? Da seht ihr doch die Latte-macchiato-Fraktion, die die Toiletten für das dritte Geschlecht einführen", rief die CDU-Chefin beim Stockacher Narrengericht in die Menge. "Das ist für die Männer, die noch nicht wissen, ob sie noch stehen dürfen beim Pinkeln oder schon sitzen müssen. Dafür, dazwischen, ist diese Toilette."

Höhö.

Ist ihr das zufällig herausgerutscht? Wohl nicht, wie mein Kollege Jonas Schaible mutmaßt.

Ist das witzig?

Na ja.

Ist es wichtig?

Nun ja. Vordergründig nicht – aber nach einigem Nachdenken vielleicht schon. Die um Anhänger buhlende CDU-Chefin hat mit ihrem Sparwitz eine Debatte ausgelöst, die mehr Relevanz birgt, als es auf den ersten Blick erscheint – weil sie eine schwelende Entwicklung berührt, die offenkundig viele Menschen empfinden, aber selten zur Sprache bringen. Man könnte sie das Unbehagen in der Moderne nennen. Da gibt es die einen, die sagen: Geht gar nicht, so ein Spruch! Neben vielen Empörten auf Twitter echauffierte sich gestern die "Zeit", die Hauspostille der akademischen Latte-macchiato-Fraktion: "Auch die Vorsitzende der CDU lässt das Gespenst des ehrlichen Bürgers umgehen, der meint, sich mit vollem Recht über alles lustig machen zu können, was nicht seinen Werten und Normen entspricht. Überall, wo er nicht ist, ist Darkroom", heißt es in einem Kommentar.

Ziemlich dark finden so eine Kritik auf der anderen Seite jene, die sich von immer mehr gesellschaftlichen Verbotsschildern umstellt wähnen: Zu Menschen aus Afrika dürfen sie nicht mehr Schwarze sagen, Flüchtlinge sollen sie nur noch Geflüchtete nennen, Fleisch bitte schön nur noch einmal wöchentlich verzehren, auf der Autobahn droht ihnen ein Tempolimit, E-Mails haben ab sofort mit dem Gendersternchen zu beginnen: Liebe Kolleg*innen! Und jetzt darf man im Karneval noch nicht mal mehr einen derben Witz reißen? Das schmerzt, das empört, das kratzt am gesellschaftlichen Rollen- und Selbstverständnis, an der Identität. Da wird ein tief sitzendes Unbehagen angesprochen, offenkundig insbesondere bei vielen Männern. "Eine neue Konfliktlinie durchzieht die westlichen Gesellschaften", hat unser Reporter Jonas Schaible vor einiger Zeit in einem wegweisenden Essay geschrieben. "Für viele gerät die Welt, die sie kannten, in Gefahr. Was selbstverständlich war, wird strittig. Und noch viel dramatischer: Ihr angestammter Platz in der Welt wird plötzlich anrüchig. Ihre Normalität wird zum Problem." Und nun finden die Erschütterten bei der CDU-Chefin also ein verständnisvolles Ohr.

Ist das schon ein Kulturkampf, den wir da erleben? Zweifellos provoziert eine Bewegung immer eine Gegenbewegung; die Verwirklichung des demokratisch-egalitären Versprechens, "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich" (also auch Zugewanderte, also auch inter- und transsexuelle Menschen, also auch Veganer, also auch alle anderen Minderheiten) führt bei manchen, die dieses Recht immer schon genießen, aber nun womöglich ihr Weltbild zurechtrücken müssen (Toiletten für das dritte Geschlecht; keine abwertenden Witze über Minderheiten, auch im Karneval nicht) – zu Abwehrreflexen.

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So weit, so logisch. Ein weiterer Aspekt dieser Entwicklung wird aber womöglich zu selten beachtet: Das gesellschaftliche Unbehagen vieler Menschen gerade in der Mittelschicht könnte auch ökonomische Gründe haben. Immer mehr von ihnen nehmen wahr, dass sich ihre Aufstiegschancen und ihre Lebensumstände – anders als noch in der Generation ihrer Eltern und Großeltern – nicht mehr verbessern, sondern im Gegenteil verschlechtern.

Der Ökonom Branko Milanovic hat diese Entwicklung in einer bestechenden Grafik abgebildet: der "Elefanten-Kurve". Sie zeigt, wie sich die unterschiedlichen Einkommensgruppen in den Jahren 1988 bis 2008 weltweit entwickelt haben: Die ärmsten fünf Prozent der Weltbevölkerung (ganz links) in Ländern wie Somalia oder dem Sudan sind bitterarm geblieben, wohingegen die Industrialisierung Ost- und Südasiens Hunderten Millionen Menschen bessere Jobs und höhere Löhne beschert hat. Am stärksten, nämlich bis zu 80 Prozent, hat davon die Mittelschicht in Chinas Boom-Städten profitiert. In der oberen Hälfte der weltweiten Einkommensgruppen kippt die Kurve rapide nach unten: Das sind die Löhne und Gehälter der Mittelschicht in den westlichen Staaten – während ganz rechts das Vermögen der Superreichen sprunghaft angestiegen ist.

"Globalisierung, Digitalisierung und eine exzessive Geldpolitik haben jeweils ihren Anteil an der Dezimierung der westlichen Mittelschicht", schreibt der Start-up-Investor Benedikt Herles in seinem klugen Buch "Zukunftsblind". "Fertigungsstätten wurden in Schwellenländer verlagert. Digitaler Wandel und ökonomische Vernetzung verstärkten sich gegenseitig. Hoch qualifizierte Stellen ersetzten simplere Aufgabenprofile. Die Geldschwemme der Zentralbanken befeuerte Kapitalmarktrenditen und Immobilienpreise auf Kosten der einfachen Sparkonten." Was tut die deutsche Politik dagegen? Noch mal Benedikt Herles: Sie "tut nichts, um die Dynamik der steigenden Kapitalrenditen auf Kosten der Gehälter abzufedern. Im Gegenteil. Kapitalerträge werden pauschal mit 25 Prozent Abgeltungssteuer belastet, für Löhne und Gehälter gelten bis zu 42 Prozent Spitzensteuersatz. Wer unternehmerisch tätig ist, verfügt zudem über eine Vielzahl an steuerlichen Spar- und Absetzungsmöglichkeiten, von denen Angestellte nur träumen können."

Der Lebensstandard vieler Angehöriger der Mittelschicht bewegt sich auch hierzulande auf einer Abwärtskurve. Selbst mit einem guten Gehalt kann man sich heute in deutschen Großstädten kein Eigenheim mehr leisten, auch auf dem Land steigen die Lebenshaltungskosten, während traditionell angelegte Ersparnisse (Sparbuch, Bausparvertrag, Lebensversicherung, Betriebsrente) rapide an Wert verlieren. Und dann kommt bei vielen auch noch das Empfinden hinzu, dass sie nicht mehr reden, witzeln, sein dürfen, wie sie wollen, dass allerorten gesellschaftliche Stoppschilder aufgestellt werden. Der Boden wird also gleich an zwei Stellen brüchig. Mir schwant: Erst diese Verbindung von Ökonomie und Kultur facht den Unmut vieler Menschen so richtig an. Und manchmal genügt ein Sparwitz als Funke, um eine Protestfackel zu entzünden.

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WAS STEHT AN?

Knapp drei Monate vor der Europawahl richtet Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen flammenden Appell an die Bürger Europas und fordert einen Neubeginn der EU: "Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war Europa so wichtig. Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr", schreibt er in einem Gastbeitrag, der heute zeitgleich in Zeitungen auf dem ganzen Kontinent erscheint. Ein Aktionsplan soll die EU umfassend reformieren. Dazu gehören:

  • Die Gründung einer europäischen "Agentur für den Schutz der Demokratie", die Wahlen vor Manipulationen schützt.
  • Das Verbot der Finanzierung europäischer Parteien durch "fremde Mächte" (sprich: Russland).
  • Eine Reform der Wettbewerbspolitik: Unternehmen, die Europas strategische Interessen und Werte untergraben (Umweltstandards, Datenschutz, angemessene Steuern) sollen bestraft oder verboten werden.
  • In strategischen Branchen und bei öffentlichen Aufträgen die Bevorzugung europäischer Unternehmen – also so, wie es auch die USA und China machen.
  • Eine Überwachung der "Internetgiganten".
  • Eine EU-Grenzpolizei und eine europäische Asylbehörde.

Klingt alles interessant und bedenkenswert. Ob die Kanzlerin nun endlich aufwacht und Herrn Macron eine Antwort gibt?


Bundespräsident Steinmeier jedenfalls ist nie um Antworten verlegen: Er hält heute Abend die Fritz Stern Lecture 2019 "Über Demokratie und Vernunft". Dürfte auch interessant werden.


Der Fall der vermissten Rebecca ist immer noch ungeklärt. Die Berliner Polizei geht davon aus, dass ihr Schwager die Schülerin getötet hat – bisher hatte sie aber kaum Beweise. Nun gibt es einen neuen Haftbefehl: Heute Vormittag soll er dem 27-Jährigen verkündet werden, anschließend soll er in Untersuchungshaft kommen.


In Peking beginnt heute die diesjährige Plenarsitzung des chinesischen Volkskongresses. Premier Li Keqiang legt vor den rund 3.000 Delegierten seinen Rechenschaftsbericht mit den wirtschaftlichen Zielen vor. Die großen Linien kennen wir schon jetzt: Bis 2025 soll China zur führenden Industriemacht der Welt aufsteigen.


SOUND DES TAGES

Falls Sie vor 25 Jahren ebenso jung waren wie ich, werden Sie vermutlich die beiden Wiener Jungs kennen, die über Nacht die elektronische Musik revolutionierten. Mit meisterhaften Samples der Songs von Depeche Mode und Co., runtergeschraubten Rhythmen sowie einer Prise Soul im Blut beschallten Peter Kruder und Richard Dorfmeister Studenten-WGs von Ham- bis Freiburg und Clubs von Brooklyn bis Budapest. Wenn dann Bono von U2 anrief und darum bettelte, dass die beiden einen seiner Songs bearbeiten mögen, ließen die Jungs ihn gechillt abblitzen. Sie mischten nur, was ihnen selbst gefiel – und so gefielen sie ihren vielen Fans. Weniger gut gefiel den Fans, dass K&D sich beizeiten trennten, um jeweils allein weiter zu chillen. Sicher, auch Dorfmeisters Projekt Tosca ist fabelhaft, auch Kruders Clubabende sind mitreißend. Aber zum Himmel fliegen sie nur gemeinsam. Deshalb dürfen sich alle Junggebliebenen nun freuen, dass Herr Kruder und Herr Dorfmeister anlässlich ihres 25-jährigen Jubiläums eine gemeinsame Tour durch deutsche Hallen absolvieren. Die Tickets sind rasend schnell ausverkauft, aber ich hatte das Glück, am vergangenen Freitag eines zu ergattern. Was soll ich sagen? Es war fabelhaft. Drei Stunden Musikhimmel. Mit einem popeligen Handy lässt sich diese Stimmung nicht einfangen. Immerhin habe ich es versucht.


WAS LESEN?

Die Cheops-Pyramide zählt zu den sieben Weltwundern der Antike – aber wie zur Hölle konnten die alten Ägypter so ein gigantisches Bauwerk auftürmen? Bis heute rätseln die Forscher. Jetzt kommt ein Architekt mit einer ganz neuen Theorie daher, die bestechend einfach ist und schlüssig klingt. Unsere Archäologie-Expertin Angelika Franz klärt Sie auf.


WAS AMÜSIERT MICH?

Ach ja, die Kramp-Karrenbauer. War mir nun so viele Zeilen wert. Aber wie immer hat unser Cartoonist Mario Lars die viel klarere Sicht:

Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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