Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Trumps nordkoreanisches Ablenkungsmanöver
Liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Kommt nun der Exit vom Brexit, bleiben die Briten nach der Kehrtwende der Premierministerin doch in der EU? Gemach, so weit sind wir noch nicht, und ob das sinnvoll wäre, steht angesichts des politisch gespaltenen Landes ohnehin infrage. Immerhin hat Theresa May die Lage entspannt: Zum einen hat sie ihre Gegner wieder mal überrumpelt. Zum anderen scheint sie tatsächlich eingesehen zu haben, dass es einem Kamikazeflug gleichkäme, am Austrittstermin 29. März festzuhalten, solange das Grenzproblem in Irland ungelöst ist.
Mehr Zeit also. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sowohl das Parlament in Westminster als auch die EU-Unterhändler Mitte März der Brexit-Verschiebung zustimmen werden. Drei Monate stehen in Rede, aber schon jetzt pfeifen die Spatzen von den Dächern, dass auch dieser Aufschub nicht ausreichen wird, um endlich einen Kompromiss zu schmieden. Manche Auguren raunen schon vom Dezember 2020. Weitere 22 Monate Brexit-Drama, really? Beruhigungspillen anybody? Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir kommt das unerträglich vor. Oder sehe ich schwarz, was in Wirklichkeit hellgrau ist? Wenn ich Stimmen wie die von Philip Crawford höre, einem ganz normalen, unaufgeregten Briten, der im Gespräch mit meinem Kollegen Tim Kummert aus voller Brust vom Brexit schwärmt, dann beginne selbst ich als überzeugter Europäer zu ahnen: Am Ende könnte es besser sein, die Briten einfach gehen zu lassen. Goodbye and good luck!
Herr Barnier und Herr Juncker könnten die verbleibende Zeit bis dahin nutzen, um mit Frau May ein bilaterales Freihandelsabkommen auszuhandeln, das den Warenverkehr an der inneririschen Grenze regelt. Bisher war die Zeit dafür zu knapp, aber 22 Monate reichen ja vielleicht. Zumindest wäre der Versuch in dem ganzen Drama mal ein Hoffnungsschimmer, wouldn’t it?
WAS STEHT AN?
Was machen Politiker, wenn sie innenpolitisch stark unter Druck geraten? Richtig, sie wenden sich dem Ausland zu, zetteln dort entweder einen Konflikt an oder versuchen, sich als Konfliktlöser zu inszenieren. Anders als manche seiner Vorgänger geht Donald Trump den zweiten Weg, was ja erst mal zu begrüßen ist. Der innenpolitische Druck auf den US-Präsidenten könnte derzeit kaum größer sein. Sonderermittler Robert Mueller wird wohl bald verkünden, was er über Trumps Verwicklungen in Russland herausgefunden hat.
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Und dann sagt heute auch noch Michael Cohen vor dem Kontrollausschuss des Repräsentantenhauses aus. Wenige Menschen haben in der Vergangenheit so eng mit Trump zusammengearbeitet wie dieser Anwalt, wenige dürften so genau über Trumps windige Geschäfte Bescheid wissen wie er. Während Trump als Baulöwe Millionen einstrich, als Präsidentschaftskandidat das politische Establishment aufmischte, schließlich als Präsident allerhand Zeug twitterte, allerhand Leute feuerte und allerhand Dekrete unterschrieb, räumte Cohen diskret die Trümmer beiseite, die sein Boss hinterließ. Dass er das Schweigegeld an die Pornodarstellerin Stormy Daniels zahlte, mit der sich Herr Trump verlustiert haben soll, dürfte da noch zu den harmloseren Aufräumarbeiten gehört haben.
Was er noch wegräumte, erfahren wir heute: Cohen, der mit Trump brach, von diesem öffentlich verhöhnt wurde und im Mai seine dreijährige Haftstrafe wegen Falschaussage antreten muss, will angeblich bereitwillig ausplaudern, was er weiß. Und das dürfte allerhand sein. Dem Präsidenten drohen nicht nur peinliche, sondern auch gefährliche Enthüllungen. Gut also, dass unser Washington-Korrespondent Fabian Reinbold heute mit dem Laptop auf den Knien im Kongress sitzt und für Sie berichtet.
Weniger gut indes für den Präsidenten. Der braucht angesichts des Gegenwinds dringend eine Erfolgsstory – und dabei soll ihm Nordkoreas Diktator heute helfen. Schon vor dem Treffen in Hanoi haben US-Berater durchblicken lassen, dass Trump und Kim den seit Jahrzehnten geltenden Kriegszustand in Korea offiziell für beendet erklären könnten (obwohl es dafür formal die Vereinten Nationen bräuchte). Eine spitzenmäßige Gelegenheit für den selbst ernannten "größten Dealmaker aller Zeiten", sich als Friedensstifter zu inszenieren – vor den Mikrofonen, auf Twitter und in seinem Haussender Fox News. Dort dürfte heute viel vom Nordkorea-Rummel und wenig von Herrn Cohen zu sehen sein. So gesehen: ein gerissenes Ablenkungsmanöver.
Frieden ist ja immer gut, allerdings kommt es sogar dabei auf die Details an. Die viel beschworene nukleare Abrüstung Nordkoreas – ursprünglich Anlass und Triebfeder des gesamten Verhandlungsprozesses – droht im Kleingedruckten zerredet zu werden. "Hinter vorgehaltener Hand fürchten Mitarbeiter im Regierungsapparat, dass Trump einseitig weitgehende Zugeständnisse an Kim machen könnte, um überhaupt eine Einigung zu präsentieren", berichtet mein Kollege aus Washington. "Die Sorge lautet, dass die Denuklearisierung nun Gegenstand der Gespräche werden könne, obwohl sie eigentlich deren Vorbedingung war."
Das Szenario sähe dann so aus: Kim stellt die Schließung seiner wichtigen Atomanlage Yongbyon in Aussicht, dafür sorgen die USA dafür, dass die internationalen Wirtschaftssanktionen gelockert werden – und die beiden Staatsmänner lassen sich feiern. Aber wer überprüft, ob Kim sein Versprechen hinterher hält? Na ja, mal gucken, sehen wir dann. Lässt er dann Atomwaffenkontrolleure ins Land? Na ja, mal gucken, sehen wir dann. Falls er sie reinlässt, können solche Kontrolleure überhaupt sinnvoll kontrollieren, war das nicht schon im Irak und in Syrien schwierig? Na ja, mal gucken, sehen wir dann.
Ziemlich viel na ja, oder? Na ja, das kommt eben dabei heraus, wenn man internationale Prozesse nicht akribisch anbahnt, abstimmt, austariert, sondern übers Knie bricht, um einen schnellen Erfolg für die Kameras zu erzielen. Was Politiker halt so machen, wenn sie innenpolitisch unter Druck geraten.
Bundesforschungsministerin Anja Karliczek stellt heute eine Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt vor. Mit Hilfe neuer Technologien sollen Ursachen und Folgen des Artenverlusts effizienter erfasst und Gegenmaßnahmen entwickelt werden. Gute Sache.
In Brüssel wird heute der Weltkongress zur Abschaffung der Todesstrafe eröffnet, unterstützt von Europaparlament und EU-Kommission. Noch eine gute Sache.
Bundeskanzlerin Merkel besucht heute Frankreichs Staatspräsidenten Macron. Sie bereiten den Frühlingsgipfel der EU im März vor, sprechen über die engere Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik und, na klar, den Brexit. Gute Sache? Siehe oben.
WAS LESEN?
"Homo sapiens" nennen wir uns, der "vernünftige Mensch". Wie sich diese Weisheit wohl niederschlägt? Zum Beispiel leistet unsere Spezies sich Leute, denen wir aufwendige Labors und sündhaft teure Forschungsgeräte hinstellen. Wir stecken unsere Hochleistungsdenker jahrelang in Universitäten und lassen dort ihre Köpfe rauchen, damit sie uns die kniffligsten Spezialfragen beantworten. Und wenn sie schließlich fertig und sich wirklich einmal einig sind über eine Sache, schütteln wir den Kopf und sagen: "So ein Quatsch. Ich hab da was ganz anderes gelesen, neulich im Internet."
Manchmal fällt es uns leicht, den Irrwitz zu erkennen. Beim Klimawandel zum Beispiel: Die wissenschaftliche Debatte darüber ist längst entschieden und beendet. Zu Recht regen wir uns über diejenigen auf, die es sich in einer pseudowissenschaftlichen Privatreligion gemütlich gemacht haben und behaupten, die sich aufheizende Welt sei nur eine Erfindung linkslastiger Medien. Zum Beispiel Herr Trump und seine Anhänger. In Europa hat diese wissenschaftsferne Weltsicht wenig Fans. Wir schütteln gemeinschaftlich den Kopf – aber machen es keinen Deut besser.
Zurzeit hat man in Costa Rica allen Grund, den Kopf zu schütteln, und zwar über uns. Seit 2014 waren dort die Masern ausgerottet. Nun sind sie wieder aufgetaucht – in Gestalt eines fünfjährigen Jungen aus Frankreich, der mit seinen Eltern dort Urlaub gemacht hat und nicht gegen die Krankheit geimpft war. Die wissenschaftliche Debatte darüber, ob man impfen soll, ist längst entschieden und beendet. Nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation WHO hat die Masernimpfung seit der Jahrtausendwende 21,1 Millionen Todesfälle verhindert. Deshalb sind 2017 nur noch (!) 110.000 Menschen, vorwiegend Kinder unter fünf Jahren, an der hochgradig ansteckenden Krankheit gestorben.
Doch trotz eindeutiger Faktenlage hält sich die Impfskepsis mancherorts in Europa mit derselben Hartnäckigkeit wie die Klimaskepsis mancherorts in den USA. Und im einen wie im anderen Fall zahlen wir alle gemeinsam den Preis. Ob man verbindliche Regeln einführen oder jeden so weiterwurschteln lassen sollte, wie es der Einzelne für richtig hält? Ich würde den Homo sapiens fragen, aber dessen Antwort kennen wir ja schon.
Klar erinnern wir uns an viele bedeutende Ereignisse, die sich im Laufe unseres Lebens zugetragen haben: Die Anschläge vom 11. September, Obamas Wahl zum Präsidenten, der VfB Stuttgart war irgendwann mal Deutscher Meister, so was. Aber haben Sie sich mal gefragt, wie die Natur auf unserem Planeten sich in der Spanne Ihres bisherigen Lebens verändert hat? Falls nicht, empfehle ich Ihnen diese pfiffige Anwendung der BBC-Kollegen: Geburtsdatum, Körpergröße und Geschlecht eingeben – und staunen.
WAS BESCHWINGT MICH?
Es gibt Songs, die uns dermaßen in die DNA eingegangen sind, dass es eine große Portion Mut und Kaltschnäuzigkeit braucht, um mit einer Cover-Version daherzukommen. "Billie Jean" von Michael Jackson ist so ein Song. Kann die Cover-Version einer solchen Musik-Ikone etwas anderes sein als ein zweitklassiger, trauriger Abklatsch? Wie soll man als Künstler daran nicht scheitern? Die Antwort: indem man es ganz, ganz anders macht als der Meister. So wie die zwei hier.
Ich wünsche Ihnen einen groovigen Tag.
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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