Was heute wichtig ist Deutschland, das weltpolitische Mäuschen
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Wir erleben Stunden der Unerbittlichkeit. Die Unerbittlichen sitzen im Parlament in Westminster, sie wissen um ihre riesige Verantwortung für ihr Volk, aber sie reizen jeden einzelnen Trumpf bis aufs Blut aus.
Premierministerin May einerseits und die Mehrheit der Abgeordneten andererseits liefern sich einen erbitterten Kampf am Rande des Brexit-Abgrunds. Es ist ein bisschen wie in einem Hollywood-Film: Die Gegner schenken sich nichts, sie schlagen zu, sie taumeln, fangen sich, schlagen noch mal zu und noch mal und noch mal – und am Ende stürzen beide in die Tiefe. Das Szenario einer politischen Höllenfahrt in Europa ist seit gestern noch wahrscheinlicher geworden. Eines der letzten Rettungsmanöver könnte der Aufstand einer Gruppe EU-freundlicher Abgeordneter sein: Übernächste Woche wollen sie versuchen, gegen den Willen der Regierung die Notbremse zu ziehen. Große Erfolgschancen haben sie nicht. In London herrscht nur noch das Gesetz der gnadenlosen Härte.
Aber was sind die Briten schon gegen den Meister aller Unerbittlichen? Blutige Anfänger sind sie gegen ihn. Der Meister sitzt in seinem Weißen Haus, schert sich einen Dreck um Kompromisse und schmettert jede ausgestreckte Hand beiseite: Donald Trump will tatsächlich den nationalen Notstand in den USA erklären, um auch noch die restlichen Milliarden für seinen Mauerbau an der mexikanischen Grenze herauszuschlagen. Mit rationalen Argumenten ist das nicht mehr zu erklären, mit Kalkül, Hybris und dem unbedingten Willen zur Macht hingegen schon. Wilde Zeiten. Und sie werden nicht ruhiger.
WAS STEHT AN?
Wer in der Welt der Diplomatie etwas zu sagen hat (oder es gerne hätte), schaut heute auf ein Nobelhotel am Münchner Promenadeplatz. Oder ist am besten selbst dort. 30 Staats- und Regierungschefs, 80 Minister und ihre Entouragen versammeln sich im “Bayerischen Hof“ zur Münchner Sicherheitskonferenz. Aus Amerika sind Vizepräsident Pence, Präsidententochter Ivanka nebst Ehemann Jared Kushner, die Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi und mehrere Kongressabgeordnete angereist. Israels Ministerpräsident Netanjahu, Ägyptens Diktator Sisi, Russlands Außenminister Lawrow und Chinas Außenpolitikstratege Yang Jiechi erscheinen genauso in der bayerischen Landeshauptstadt wie Bundeskanzlerin Merkel, CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer, Verteidigungsministerin von der Leyen, Finanzminister Scholz, Außenminister Maas, Gesundheitsminister Spahn und Landwirtschaftsministerin Klöckner (Sigmar Gabriel ist nicht dabei). Rund 4.400 Polizisten schützen die Veranstaltung, der Luftraum über der Stadt ist gesperrt, mehr als 90 Organisationen haben Proteste angekündigt. Das ganz große Besteck also. In Bayern, aber auch in der Bundesregierung ist man mächtig stolz auf diese Veranstaltung: Hier wird Weltpolitik gemacht, lautet die Botschaft, und die Mächtigen kommen dafür nicht nach Washington, Peking oder Moskau, sondern zu uns!
Wer den Auflauf betrachtet, könnte den Eindruck bekommen, die Bundesrepublik sei der diplomatische Nabel der Welt, ein Mammut der internationalen Politik. Aber das ist sie nicht. Sie ist ein Mäuschen.
Die viertgrößte Wirtschaftsnation der Erde, das mächtigste Land der EU, Erfinderin der Willkommenskultur, regiert von einer groß(artig)en Koalition: So mögen deutsche Diplomaten unser Land im Ausland rühmen. Wie wohltönend das klingt. Nur so lange allerdings, bis man die Sprache wechselt und Diplomaten anderer Länder nach ihrer Meinung fragt, bis man in ausländische Zeitungen schaut. Dort begegnet uns ein anderer Blick auf Deutschland: großer Respekt, sicherlich, aber auch große Ratlosigkeit – und immer größerer Unmut. Sie lassen sich in einer Frage zusammenfassen: Wann, um Himmels Willen, übernimmt dieses mächtige, stabile und wohlhabende Land international mehr Verantwortung, wann beginnt es endlich zu führen?
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Jahrelange Kriege in Nahost, die Bevölkerungsexplosion in Afrika, der Aufstieg des totalitären Chinas, der neue amerikanische Isolationismus, russische Cyberkrieger, die von Brexit, Populisten und Schuldenkrise existenziell bedrohte EU, das neue atomare Wettrüsten und über allem auch noch die Klimakrise: Die Notwendigkeit für eine starke, auf den Werten der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und des partnerschaftlichen Ausgleichs basierende Diplomatie war lange nicht so groß wie jetzt. "Die globale Ordnung löst sich auf", sagt Sicherheitskonferenz-Chef Wolfgang Ischinger. In Paris und in Brüssel, bei der UN in New York, sogar in Moskau – überall schaut man nach Berlin und rätselt: Wie wollen sich die Deutschen positionieren? Wollen sie überhaupt irgendwas? Das außenpolitische Vakuum der Bundesrepublik ist fast mit Händen zu greifen.
Übertreibe ich? Deutschland sitzt doch nun im UN-Sicherheitsrat! Außenminister Maas jettet doch um die Welt und predigt den Multilateralismus ebenso wie Angela Merkel! Und nun die schöne Konferenz in München – das ist doch was!
Ist es das?
Schauen wir genauer hin:
Seit Monaten wartet Deutschlands wichtigster Partner Frankreich auf eine klare Antwort aus Berlin und seine Vorschläge zur Vertiefung der europäischen Integration. Macron hat das ganz große Fass aufgemacht, Merkel entkorkt allenfalls Fläschchen.
Amerikaner und Russen kündigen eines der wichtigsten Abrüstungsabkommen auf und entfesseln die atomare Gefahr aufs Neue. Kein anderer Staat wird dadurch so stark bedroht wie das in der Mitte Europas gelegene Deutschland – und was kommt von dort? Der niedersächsische Ministerpräsident fordert “eine neue Friedensbewegung". Wäre es nicht so bestürzend, man könnte über das dröhnende Schweigen in Berlin lachen. Immerhin Frau von der Leyen macht den Mund auf. Aber wo ist die mit Verve und Nachdruck vorgetragene deutsche Abrüstungsinitiative? Offenbar hat die Resignation über den unberechenbaren Trump (der macht doch eh, was er will) und den zynischen Putin (der macht doch auch, was er will) im Regierungsbetrieb zu einer Erstarrung geführt.
Die außenpolitischen Berater im Kanzleramt zeichnen sich durch ebenso große Kompetenz wie Vorsicht aus. China nicht verprellen, Trump nicht in die Quere kommen, Macron freundlich auf Abstand halten, aus dem Brexit-Schlamassel möglichst raushalten: Da hat man alle Hände voll zu tun.
Moment, und Außenminister Heiko Maas? Sein großes Engagement für die Erinnerung an die deutschen Naziverbrechen in Ehren, das ist wichtig. Aber wo sind die Initiativen, um heutige Verbrechen in der Welt zu verhindern? Warum dürfen die Scheichs in den Emiraten immer noch mit deutschen Waffen auf jemenitische Kinder schießen? Warum empfängt man in Berlin mit großem Tamtam Ägyptens Menschenschinder Sisi? Warum schlägt man sich in der Venezuela-Krise sofort auf die Seite des von Amerika unterstützten Herausforderers Guaidó, statt zwischen ihm und seinem Kontrahenten Maduro zu vermitteln? Was ist mit Myanmar, dem Jemen?
Wann stellt sich ein Mitglied der Bundesregierung ans Rednerpult des Bundestages und gesteht ein, dass der deutsche Einsatz in Afghanistan, für den mehr als 50 Bundeswehrsoldaten gestorben sind, der mehr als neun Milliarden Euro Steuergeld verschlungen hat und der immer noch 1.200 Soldaten vor Ort bindet, gescheitert ist? “Die Sicherheitslage hat sich in den letzten Jahren spürbar verschlechtert“, resümiert die Welthungerhilfe in ihrem gestern veröffentlichten Fazit. “Seit dem Abzug der Nato-Truppen haben die Taliban große Teile des Landes zurückerobert. Etwa ein Drittel aller Afghanen benötigt dringend humanitäre Hilfe. Bis zu 3,4 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule. Die Kindersterblichkeit gehört zu den höchsten der Welt.“ Hunger, Gewalt, religiöser Extremismus, Bildungsnotstand, kaputte Wirtschaft: Kommt uns bekannt vor, hatten wir dort schon mal. Damals, als al-Qaida entstand. Nun verhandeln die Amerikaner mit den Taliban, aber Deutschland ist nicht dabei. Dasselbe Deutschland, in dem ein Verteidigungsminister einst meinte: “Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“
Vielleicht sind Krisen wie die in Afghanistan zu groß für unser Land, vielleicht überfordern sie unsere politischen Strukturen. Warum besitzt die Bundesrepublik eigentlich keinen nationalen Sicherheitsrat, so wie andere Staaten mit vergleichbarer ökonomischer Macht? Wo ist das Gremium, das die geballte außenpolitische Kompetenz des Landes bündelt, um Strategien zu schmieden, Prioritäten festzulegen, Risiken zu entschärfen? “Heutzutage haben es Regierungen mit Bedrohungen zu tun, die die Grenze zwischen Innen- und Außenpolitik verwischen. Deshalb sind Entscheidungsprozesse wichtig. Die richtigen Verfahren können luftige Rhetorik in handfeste Politik verwandeln“, schreibt die US-Außenpolitikexpertin Julianne Smith in einem Gastbeitrag für die “Süddeutsche Zeitung“. “Berlins politische Lähmung führt dazu, dass eines der mächtigsten Länder Europas – wenn nicht das mächtigste – politisch quasi als verschollen gelten muss, und das in einer Zeit großen Wandels und heftiger Umbrüche. In den großen Debatten fehlt die deutsche Stimme.“
Ja, sie fehlt. Sehr. Die Welt braucht starke Impulse für mehr Frieden, Rechtsstaatlichkeit und konstruktiven Interessensausgleich. Deutschland hat die Macht und die Möglichkeit, diese Impulse zu setzen. Den Willen hat es bislang offenbar kaum. Das ist ein Armutszeugnis.
Der Bundesrat soll in seiner ersten Sitzung des Jahres heute eigentlich über die Einstufung von Georgien, Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten entscheiden. Flüchtlinge, die aus diesen Ländern anreisen, hätten hierzulande dann kein Anrecht auf Asyl. Bislang zeichnet sich aber keine Mehrheit für die Vorlage der Bundesregierung ab: Die Grünen haben wegen der Menschenrechtslage in den Ländern Bedenken. Wird wohl nichts.
Außerdem auf der Agenda: Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, die Lockerung des Werbeverbots für Abtreibungen, Schritte gegen Tabakschmuggel und ein schnellerer Ausbau der großen Stromtrassen für die Energiewende, die irgendwie irgendwann kommen soll.
In Hamburg wird heute das Urteil im Prozess gegen einen 34-Jährigen aus dem Niger gefällt, der seine Ex-Partnerin und seine einjährige Tochter am S-Bahnhof Jungfernstieg erstochen haben soll. Der Fall erschütterte die Hansestadt vor knapp einem Jahr.
Wenn Sie in Berlin leben, können Sie heute auf den Straßenbahngleisen spazieren gehen. Da ist viel Platz. Auf den Straßen hingegen nicht. Da dürfte der Teufel los sein. Ab etwa 12 Uhr ist der Streik dann vorbei.
WAS LESEN?
Nicht viele kennen die Macht so gut wie er: Thomas de Maizière war Kanzleramtschef, Verteidigungsminister und gleich zweimal Innenminister. In der neuen großen Koalition war trotzdem kein Platz mehr für ihn. Das Gute daran: Kaum war er frei, hat er ein Buch über das Regieren geschrieben. Wer wissen will, wie es im Regierungsviertel wirklich zugeht, kann darin viel lernen – oder das empathische Interview lesen, das unser Parlamentsreporter Jonas Schaible mit de Maizière geführt hat. Der verrät darin, wie er sich das Regieren beigebracht hat, ob Horst Seehofer bei ihm Rat gesucht hat und wie viel Schlaf ein Minister abbekommt (Sie können ja mal schauen, ob Sie körperlich zum Minister taugen würden).
WAS AMÜSIERT MICH?
Dass Männer weniger Grips haben als Frauen, wussten wir schon. Aber wenn dann auch noch ein paar Flaschen im Spiel sind, wird es einfach noch viel klarer. Beweis gefällig? Bitte schön.
Ich wünsche Ihnen einen sonnigen Freitag und dann ein herrliches Wochenende. Wenn Sie mögen, können Sie am Samstag ab 6 Uhr hier den ausführlichen Audio-Tagesanbruch hören. Mit meinem Kollegen Marc Krüger unterhalte ich mich diesmal über große Weltpolitik und große Weichenstellungen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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