Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Was heute Morgen wichtig ist
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Mit Ausnahme des rechtsgerichteten TV-Senders Fox News lief das Thema in den amerikanischen Medien gestern hoch und runter: Durch das Schuldeingeständnis von Donald Trumps ehemaligem Anwalt Michael Cohen wird der US-Präsident erstmals direkt mit einer Straftat in Verbindung gebracht. "Jetzt wird es eng für Trump", schrieb ich gestern im Tagesanbruch.
Aber wird es das wirklich? Das fragen sich viele Leserinnen und Leser, mehrere merkten zu Recht an: Für ein Amtsenthebungsverfahren sieht die amerikanische Verfassung hohe Hürden vor, dafür braucht es den politischen Willen im Kongress – und der ist derzeit nicht zu spüren. Die Republikaner klammern sich auf Gedeih und Verderb an ihren Präsidenten, die Demokraten haben noch keinen neuen charismatischen Leitwolf gefunden und hoffen erst einmal auf einen Erfolg bei den Midterm-Wahlen.
Ich glaube trotzdem, dass sich durch die brisanten Fälle Manafort und Cohen etwas im Washingtoner Machtgefüge verändert – vielleicht nicht sofort, aber schleichend, und das hat etwas mit der Art und Weise zu tun, wie Trump mit den Enthüllungen umgeht. Wie er Cohen gestern öffentlich verhöhnte. Das zeigt seinem Umfeld, seinen Beratern, Anwälten, ehemaligen Geschäftspartnern: Wer mit Ermittlungsbehörden kooperiert, sich an Recht und Gesetz hält und den Präsidenten damit in die Bredouille bringt, den lässt Trump sofort fallen, den überzieht er mit Beleidigungen, an dem rächt er sich öffentlich. Fast wie ein Mafiapate: Wenn du nicht für mich bist, dann vernichte ich dich.
Druck, Angst und persönliche Attacken mögen kurzfristig für Ruhe sorgen – langfristig jedoch schaffen sie Gegner. Und irgendwann vielleicht einen neuen Whistleblower, der noch viel Ungeheuerlicheres enthüllt. Trumps Umgang mit Cohen signalisiert allen, die möglicherweise ebenfalls in krumme Geschäfte mit Trump verwickelt waren: Dankbarkeit, Treue oder Schutz können sie von ihm nicht erwarten. Da mag es klüger sein, mit Ermittlern zu kooperieren oder gar als Kronzeuge zur Verfügung zu stehen, um den eigenen Hals zu retten. Und die brisantesten Ermittlungen, die Recherchen des Sonderermittlers Mueller zur "Russland-Affäre", laufen schließlich immer noch auf Hochtouren (meine Videokollegen Jerome Baldowski, Arno Wölk und Axel Krüger haben den aktuellen Stand hier prägnant zusammengefasst).
Falls Muellers Leute in den kommenden Monaten noch mehr belastendes Material finden und dann auch noch die Demokraten am 6. November die Mehrheit im Repräsentantenhaus erobern (wonach es den Umfragen zufolge aussieht), ja, dann wird es wirklich eng für Trump. Das Repräsentantenhaus ist das Gremium, das ein Amtsenthebungsverfahren einleiten kann.
Aber noch ein zweiter Aspekt zu Donald Trump beschäftigt viele Tagesanbruch-Abonnenten, ein Leser fasste ihn in einer Frage zusammen: "Auch ich halte ihn für unberechenbar und seine Entscheidungen für mehr als zweifelhaft. Allerdings: Er ist gewählt worden, und zwar von sehr vielen US-Amerikanern. Und nicht allen seinen Wählern kann man Dummheit, Minderbegabung, Naivität oder andere Dinge vorwerfen. Warum ist dieser Mann gewählt worden? Was muss vorher alles falsch gelaufen sein?"
Eine große Frage, auf die es sicher nicht die eine, alles erklärende Antwort gibt, selbst wenn schon unzählige Analysen dazu verfasst wurden. Ich denke, wie meistens bei politisch-gesellschaftlichen Prozessen, sind es viele Gründe. Natürlich, da war der tief sitzende Frust vieler Wähler über die politische Elite in Washington, die als abgehoben, arrogant, verlogen empfunden wurde. Da war die Schwäche der Gegenkandidatin Hillary Clinton, die zudem in den Augen vieler Bürger genau dieses Establishment personifizierte. Da war Trumps geschickt-perfide Taktik, mit einer Mischung aus Versprechungen, Halbwahrheiten und Lügen in den sozialen Netzwerken seine Anhänger zu mobilisieren. Da war ein seltsames ungeschriebenes Gesetz: Amerikaner neigen seit Jahrzehnten dazu, denjenigen Kandidaten zu wählen, der das genaue Gegenteil des Amtsinhabers zu verkörpern scheint: Republikaner Bush I., Demokrat Clinton, Republikaner Bush II., Demokrat Obama, Republikaner Trump. Eine Chronologie, die das gespaltene Land widerspiegelt.
Da war aber noch etwas, und der Ursprung dieser Entwicklung liegt Jahre vor dem Wahlkampf Clinton/Trump: die Immobilien- und Finanzkrise, die Amerika vor zehn Jahren durchrüttelte und deren Folgen noch heute viele Bundesstaaten prägen. Menschen verloren ihre Arbeit, konnten ihre Kredite nicht mehr bezahlen, wurden von Insolvenzverwaltern aus ihren Häusern geklagt – während die Regierung gleichzeitig mit zig Milliarden Dollar viele der angeschlagenen Banken und Unternehmen rettete, obwohl deren Bosse zumindest unmoralisch, in vielen Fällen auch illegal gehandelt hatten. Dieses kaputte Finanzsystem müsse von Grund auf erneuert werden, hieß es damals, es müsse ethischen Maßstäben genügen.
Und heute? Geht die Zockerei an den Finanzmärkten ungebremst weiter, scheffeln die Investmentbanken und Anlagefirmen mehr Milliarden als je zuvor, scheren sich viele ihrer Vertreter offenkundig nicht um Moral und Anstand. Es ist wohl auch diese Diskrepanz zwischen wortreichen Versprechungen vieler Politiker einerseits und der täglich erlebten Realität andererseits, die viele Menschen von der Politik (und der demokratischen Partei, die besonders eng mit der Wall Street verbandelt ist) entfremdet hat. Und sie glauben lässt, da müsse mal jemand aufräumen, der ganz anders ist, der unabhängig von fremdem Geld zu sein scheint, der sich nicht um politische Konventionen schert, der Klartext spricht. Dass allerdings ausgerechnet ein Milliardär, der seine Karriere mit zahlreichen windigen Deals bestritten hat, dieser Mann sein soll, das erscheint dann doch einigermaßen irrational. Aber so ist es eben, das Amerika von heute: gespalten, widersprüchlich, unberechenbar.
Und wer da jetzt Parallelen zu gewissen Entwicklungen in Deutschland sieht, dem sage ich: Hoffen wir, dass es bei uns nie so weit kommt wie drüben auf der anderen Seite des Atlantiks.
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WAS STEHT AN?
Bundeskanzlerin Merkel bricht heute zu einer Reise nach Georgien, Armenien und Aserbaidschan auf, Brexit-Minister Raab stellt heute die Pläne der britischen Regierung für einen ungeregelten Ausstieg aus der EU vor, aber heute möchte ich Ihnen etwas anderes erzählen. Heute möchte ich Ihnen ein Land der Superlative vorstellen. Das Land, das über die größten nachgewiesenen Ölreserven der Welt verfügt. Das Land, das Ausgangspunkt ist für die größte Wanderungsbewegung der Geschichte Lateinamerikas. Das Land, dessen aktuelle Inflationsrate ... Moment ... zweiundachtzigtausend-siebenhundertsechsundsechzig Prozent beträgt.
Aus der Liste der Superlative möchte ich ein Wort herausgreifen: Wanderungsbewegung. Man hört es und denkt an die Ostgoten, die durch die rauchenden Trümmer der römischen Spätantike ziehen. Tatsächlich sind es Venezolaner. Millionen Venezolaner. Sie sind auf der Flucht – vor den 82.766 Prozent. Die Regierung in Caracas hat das getan, was hilflose, inkompetente Regierungen im Angesicht der Hyperinflation gerne tun: Sie hat neue, druckfrische Geldscheine ausgegeben, bei denen die letzten paar Nullen (gleich fünf davon) per Dekret weggestrichen wurden. Der Wert der Scheine ist an eine neue Kunstwährung gekoppelt, die keiner haben will, verankert durch Regeln, an die keiner glaubt. Natürlich nützt das nichts, genauso wenig wie die ständigen Tiraden gegen das böse, böse Ausland, das an allem schuld sein soll. Die Korruption, die Selbstbereicherung, Schlamperei und verrottende Förderanlagen, all das soll es auf keinen Fall gewesen sein. Den UN zufolge haben schon fast zweieinhalb Millionen Venezolaner in anderen Ländern Zuflucht gesucht. Die Nachbarstaaten sehen sich von dem Ansturm zusehends überfordert, in Brasilien kam es bereits zu fremdenfeindlichen Ausschreitungen.
Wenige Meter hinter der Brücke, die über den Grenzfluss zwischen Venezuela und Kolumbien führt, sitzt Laura, eine junge Frau mit langen braunen Haaren, auf einem Plastikstuhl. Sie ist für einen Tagesbesuch nach Kolumbien gekommen und bekommt einen Haarschnitt. Strähne um Strähne nimmt eine Frau neben ihr entgegen. Laura hat ihre Haare verkauft. Irgendjemand wird eine Perücke oder Extensions daraus machen. Zehn Dollar gibt es dafür, und Lauras Tochter muss nicht sterben. Für das Geld kauft sie Insulin, das das kranke Kind braucht. Es wird aufgebraucht sein, bevor die Haare nachgewachsen sind.
Weiter weg von der Grenze wandern kleine Gruppen die Straße entlang. Sie kehren abends nicht nach Venezuela zurück. Das Leben der Wanderer folgt einer einfachen Regel: "Wenn du nicht arbeitest, wirst du nicht essen", sagt eine Frau. Also laufen sie zur nächsten Stadt. Aber Arbeit ist keine in Sicht. So ist das derzeit in Venezuela. Bestürzend.
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Samstag, 15.30 Uhr: Für eingefleischte Fußballfans ist das eine heilige Zeit. Wer nicht im Stadion sitzt, hockt in der Kneipe oder zu Hause vor der Glotze, um Bundesliga zu gucken. Das gilt natürlich auch für unseren Kolumnisten Berti Vogts. Eigentlich – denn in seiner neuen Kolumne gesteht er: "In der vergangenen Saison bin ich an Bundesliga-Spieltagen oft lieber mit dem Hund rausgegangen, als mir die Spiele anzuschauen. Und wenn ich in Mönchengladbach im Stadion war, bin ich oft kopfschüttelnd nach Hause gefahren und habe gedacht: 'Das möchte ich nur ungern noch mal erleben.' Die unattraktive Spielweise vieler Mannschaften hat mir den Fußball madig gemacht." Und in dieser Saison? Vogts sagt, er habe "den Reset-Knopf gedrückt" und freue sich trotz der Malaise auf die Spiele. Und natürlich hat er konkrete Ideen, wie der deutsche Fußball nach Europacup- und WM-Debakel wieder auf die Beine kommen kann. Ich sage es mal so: Hoffentlich lesen seinen Text auch viele Trainer, Spieler und Vereinspräsidenten.
Womit wir beim Thema DFB sind, dem sich unser Kolumnist Gerhard Spörl in einem Artikel mit dem wunderbaren Titel "Die Wiederkehr der Torfnasen" annimmt. Wie vermutlich Millionen andere Fußballfans steht er immer noch kopfschüttelnd vor der Borniertheit der Herren Grindel/Bierhoff/Löw, die so tun, als ob sie verstanden hätten, was schief gelaufen ist – und als ob sie einfach so weitermachen könnten wie bisher. "Der Fisch stinkt vom Kopf her", analysiert Spörl, "und der Kopf ist Reinhard Grindel, der es fertig gebracht hat, über Özil zu reden, anstatt über sich. Der andere Kopf ist Jogi Löw, der wochenlang incommunicado war und sich nicht angesprochen fühlte, als die anderen einen einzelnen Spieler für alles verantwortlich machten. Der dritte Kopf ist Oliver Bierhoff, dem ich am ehesten Verstand und Anstand zugetraut hätte, aber ausgerechnet er hat mit dem losen Reden über Özil angefangen. Und alle zusammen wussten sie in Russland nicht, was sie tun. Sie dachten, wird schon, findet sich, wir sind eine Turniermannschaft, waren es schon immer, Halbfinale ist so gut wie gebucht, die bewährten Kräfte werden es richten. Ganz oben ist der DFB ein selbstverliebter und selbstverlorener Betrieb." Volltreffer, würde ich sagen.
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WAS LESEN?
Die Twitterei des amerikanischen Präsidenten ist ein Kapitel für sich. Häufig bläst er allerhand schrilles Zeug in die Welt hinaus, nicht immer muss man das ernst oder gar für bare Münze nehmen. Wer ihm auf Twitter folgt, der bekommt allerdings einen ziemlich guten Eindruck vom Gemütszustand des Präsidenten – und zu der Erkenntnis: Die Ermittlungen gegen ihn und sein Umfeld setzen ihm offenkundig zu. Er scheint jedenfalls immer nervöser zu werden, wie meine Kollegen von Statista zeigen.
Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag und einen vergnügten Abend.
Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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