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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Radikale Forderungen Das Comeback des Corona-Hardliners
Seine Blutgrätschen gegen Armin Laschet im Wahlkampf kosteten Markus Söder am Ende selbst massiv Sympathien. In der Corona-Notlage sieht der CSU-Chef die Chance auf ein Comeback
Dezember 2021: Es ist, als läuft derselbe Film aus dem vergangenen Jahr. Nicht der über das planlose Corona-Management und über dauerüberraschte Regierende (der läuft parallel), sondern der über einen Mann an der Südspitze der Republik, der aus seiner Münchner Trutzburg heraus die Berliner Politik mit immer radikaleren Vorschlägen anpeitscht.
Die Rede ist natürlich von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Impfpflicht für alle, flächendeckendes 2G, Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte: Was der Corona-Gipfel am Donnerstag im Kampf gegen die vierte Welle mit einiger Verspätung beschlossen hat – Söder war schon früher da.
Bund und Länder gießen brav in Gesetzes- und Verordnungsform, was der Vordenker und Anpacker aus Bayern längst auf dem Zettel hatte und schon vor Wochen über sämtliche Kanäle verbreitete. Ungefähr so lautet das Narrativ, an dem der CSU-Chef seit über einem Jahr spinnt und das merkwürdigerweise noch immer medialen Widerhall findet. Das Drehbuch dazu hat Söder bereits im vergangenen Jahr geschrieben, als er sich als Angela Merkels fleißigster Corona-Schüler inszenierte und als Klassenstreber im "Team Vorsicht" die Maßnahmen-Schraube immer weiter drehte.
Worte, abgekoppelt von der Wirklichkeit
Das Erstaunliche daran war, dass Söders eigene Corona-Bilanz schon 2020 vergleichsweise mager ausfiel. Und auch die vierte Welle belegt eindrücklich, wie stark Söders Rhetorik und die Realität in Bayern auseinanderklaffen: In den zentralen Kennzahlen der Pandemiebekämpfung hinkt der Freistaat den meisten anderen Bundesländern hinterher.
Die Sieben-Tage-Inzidenz ist zwar seit einigen Tagen leicht rückläufig, zählt aber mit aktuell 529 (Stand Sonntag) noch immer zu den höchsten in der Republik. Die Impfquote liegt mit rund 67 Prozent bundesweit im unteren Drittel und die Lage in den bayerischen Krankenhäusern ist so schlimm, dass bereits Dutzende Schwerkranke in andere Bundesländer ausgeflogen werden mussten.
In der Summe gehört Söders Pandemie-Bilanz zu den schlechtesten der Republik, auch wenn er es wegen der Grenze zu Österreich und Tschechien nicht gerade leicht hatte. Er hat die Dramatik der vierten Welle unterschätzt, nicht genug gegen die niedrige Impfquote getan, zu spät für den Booster geworben. Mit diesen Fehleinschätzungen steht der CSU-Chef nicht allein da, doch er steht eben auch dafür.
Söder fordert Dinge
Doch wieder schafft es Söder, zumindest teilweise vom eigenen Versagen abzulenken, indem er den Fokus auf die Bundesebene legt und harte Einschränkungen für alle fordert. Streng nach dem Motto: Wenn's zu Hause nicht läuft, müssen alle dran glauben. Der CSU-Chef ist präsent auf allen Kanälen, gibt Interviews, Statements, Pressekonferenzen.
"Söder fordert ..." hört man im Radio, liest man in der Zeitung, sieht man in den Abendnachrichten. Wenn der CSU-Chef etwas fordert, hört die Republik hin, und oft ist es weniger wichtig, was er fordert, als dass er überhaupt etwas fordert. Wenn Söder im Fordermodus ist, weiß das Land, es ist ernst.
Söders Kritiker sagen: Anstatt zu fordern sollte der angebliche Anpacker endlich handeln. Bevor er andere mit Vorschlägen behelligt, erst mal in seinem eigenen Hinterhof, also im Freistaat, aufräumen. Die Kritiker haben einen Punkt: Die Geisterspiele, die Söder in der gesamten Republik sehen will, hätte er bei sich längst umsetzen können. Auch schärfere Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte gibt das Infektionsschutzgesetz her, doch statt sie in Bayern umzusetzen, interessiert sich Söder mehr für andere Landstriche in Deutschland mit deutlich niedrigeren Inzidenzen.
Man kann das für seine weiterhin intakten bundespolitischen Ambitionen oder sogar Weitsicht halten (gut möglich, dass der bayerische Corona-Sturm bald in den Westen weiterzieht), die Motive dahinter scheinen jedoch andere zu sein: Neben dem praktischen Fingerzeig auf andere, während zu Hause die Hütte brennt, will Söder vor allem eins: rhetorisch vor die Welle.
Die Söder-Variante könnte sich wieder durchsetzen
Denn politisch sitzt der ehemalige "Kanzlerkandidat der Herzen" längst nicht mehr so fest im Sattel. Laut einer Umfrage sind nur noch 41 Prozent in Bayern mit seiner Regierungsarbeit zufrieden, der schlechteste Wert seit zwei Jahren. Das liegt maßgeblich an Söders von vielen als charakterlos empfundener Rolle im Unionswahlkampf, als er den gemeinsamen Kandidaten Armin Laschet über Monate offen sabotierte. Jetzt hat Söder vor allem die bayerische Landtagswahl 2023 im Blick. Wenn er nicht liefert, könnte es brenzlig für ihn werden.
Doch den CSU-Politiker deswegen abzuschreiben, wäre verfrüht. Schon vor der Pandemie galt Söder bei den Deutschen als der unbeliebteste Ministerpräsident. Viele erinnerten sich noch gut daran, als Söder gemeinsam mit Horst Seehofer über die Migrationsfrage fast die Union zerlegte. Oder an Söders Flirt mit dem rechten Rand im Vorfeld der Bayernwahl 2018, die der CSU-Chef in historischem Ausmaß vergeigte.
Aber sein cleveres Anschmiegen an die Kanzlerin und seine immer härteren Maßnahmen machten die staatsmännische Söder-Variante bei den Deutschen immer populärer. Söder der Antreiber, der Entschlossene, der Klartext-Politiker. Plötzlich war er Kanzlermaterial.
Impfpflicht im Klassenzimmer?
Weil die Strategie schon damals so gut funktionierte, setzt das lernende System Söder erneut auf den Ausnahmecharakter von Politik in Zeiten der Pandemie. Darauf, dass die Deutschen ihm seine machtpolitischen Egotrips verzeihen, sie am besten ganz vergessen, und in ihm wieder den Erlöser sehen (der er schon 2020 nicht war), der das Land durch seine dunkelsten Stunden und ihn aus dem Umfragetief führt.
Das Problem: Die Strategie stößt irgendwann an eine Grenze. Denn sobald die Politik auf seinen Zug aufspringt, legt Söder nach, weil er muss, sonst ist sein strategisches Arsenal erschöpft. Bundesnotbremse? Einfach mal fordern, bevor das Verfassungsgericht sein Urteil fällt. Impfpflicht für alle kommt doch? Söder kontert mit der Impfpflicht für Kinder. Die Ampel schließt Lockdowns aus? Wenigstens in Hotspots sollen sie gelten.
Doch das Maßnahmen-Wettrüsten kann nicht endlos weitergehen, es erzeugt immer mehr Kollateralschäden. Söders nächtliche Ausgangssperren 2020 waren extreme Grundrechtseingriffe, die nicht nur verfassungswidrig waren, sondern auch von zweifelhaftem Nutzen für die Pandemiebekämpfung.
Eine Impfpflicht für Kinder wäre ebenfalls ein massiver Einschnitt in die Rechte von Minderjährigen, jener Gruppe, die sich am wenigsten wehren kann und die ohnehin bereits hart unter der Pandemie zu leiden hatte, obwohl sie am wenigsten gefährdet ist. Eine solche Forderung haut man nicht einfach so raus, wenn es noch nicht einmal eine Impf-Empfehlung gibt.
Eskalation als letzte Chance
Nicht auszuschließen, dass Söders ständiges Drehen an der Eskalationsschraube ihm irgendwann auf die Füße fällt. Auch hat er im Vergleich zu 2020 einen entscheidenden Nachteil: Dem Corona-Hardliner fehlt die ganz große Bühne, die er als Chef der Ministerpräsidentenkonferenz hatte. Wenn er heute die Posaunen der Apokalypse bläst, steht neben ihm nicht mehr die Kanzlerin, sondern ein Zitrusbaum in der Münchner Orangerie.
Doch in diesen Zeiten sind die üblichen strategischen Gewissheiten außer Kraft gesetzt. Viel wird wohl davon abhängen, wie hart der zweite Corona-Winter wird: Je länger die vierte Welle dauert, je brutaler sie das Land trifft, desto empfänglicher könnten die Menschen für Söders radikale Forderungen werden.
Schützenhilfe von der Chaos-Ampel
Die Pandemie hat gezeigt, dass die Menschen bereit sind zu vergessen, weil sie genervt sind von Zauderern, Wendehälsen und Politikern, die sich nicht auszusprechen trauen, was die meisten längst ahnen, etwa neue Einschränkungen. Der fast verpatzte Start der Ampel und die chaotische Corona-Kommunikation um die epidemische Notlage gaben Söder schon jetzt reichlich Gelegenheit, sich als den mutigeren Krisenmanager zu präsentieren.
So könnte der begnadete Schließer aus Bayern am Ende sein politisches Comeback feiern und sich erneut als größter Corona-Krisenprofiteur herausstellen. Söder selbst scheint jedenfalls alles auf diese Karte zu setzen. Es könnte seine letzte Chance sein.
- Eigene Recherchen